L 10 B 6/04 SB ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
10
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 13 SB 243/03 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 10 B 6/04 SB ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 31.03.2004 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der 1934 geborene Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Feststellung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung (Nachteilsausgleich bzw. Merkzeichen "aG").

Seit 1981 ist bei ihm ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 festgestellt (Bescheid vom 24.01.1983); die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung) sind ebenfalls festgestellt.

Im August 2002 beantragte der Antragsteller u.a. die Feststellung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung. Im Rahmen der von dem Beklagten veranlassten Untersuchung (Gutachten der Oberregierungsmedizinalrätin Dr. X vom 08.07.2003) wurden die Gesundheitsstörungen des Klägers bezeichnet mit:
1. Verlust des li. Unterschenkels mit ungünstigen Narben- und Stumpfverhältnissen. Minderung der Oberschenkelmuskulatur und Herabsetzung der Hauttemperatur am Unterschenkel, Beugebehinderung im li. Kniegelenk. Stecksplitter in den Weichteilen des Stumpfes, belanglose 8,5 cm lange oberflächl. Weichteilnarbe an der Innenseite des li. Oberschenkels
2. Substanzdefekt im Schulterblatt rechts, knöchern fest verheilte Brücke der 5. und 6. Rippe re. mit breiter Knochenbrücke. Stecksplitter im Bereich der re. Schulter und oberhalb der li. hinteren Achselhöhlenfalte. Größere, weitgehend mit der Unterlage verwachsene Narbe Rücken re. in Höhe des Schulterblattes. Stecksplitter re, in Kreuzbeingegend und im Bereich der re. Darmbeinschaufel
3. Geringfügige Rippenfellverklebung re.
4. Seitenverbiegung im Bereich der Brustwirbelsäule
5. Verschleiß der Lendenwirbelsäule mit Nervenwurzelreizungen
6. Subacidität des Magensaftes
7. Mittel- bis hochgradige Schwerhörigkeit rechts
8. Chronische Bronchitis
9. Funktionseinschränkung des rechten Beines bei Verschleiß des Kniegelenkes und des Sprunggelenkes, Schwellneigung.

Dabei wurde den Gesundheitsstörungen zu 1. bis 4. ein GdB von insgesamt 80, den Gesundheitsstörungen zu 5. - 7. jeweils ein GdB von 10 sowie Gesundheitsstörungen zu 8. und 9. ein GdB von jeweils 20 zugemessen und der Gesamt-GdB weiterhin mit 100 bewertet.

Im Wesentlichen mit der Begründung, dass der Antragsteller - wenn auch unter Schmerzen - noch Gehstrecken von mehr als 100 m zurücklegen könne, lehnte der Beklagte dessen Antrag ab (Bescheid vom 21.10.2002 und Widerspruchsbescheid vom 23.09.2003).

Der Antragsteller hat dagegen am 15.10.2003 Klage erhoben und gleichzeitig beantragt,

dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, die Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" festzustellen.

Der Antragsgegner hat beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat den Antrag mit Beschluss vom 31.03.2004 zurückgewiesen und zur Begründung u.a. ausgeführt: Die im Ergebnis begehrte Vorwegnahme der Hauptsache wäre ausnahmsweise dann erforderlich, wenn ansonsten ein Rechtsschutz nicht erreichbar und dies für den Antragsteller unzumutbar sei. Diese Voraussetzungen seien jedoch nicht erfüllt. Ein Abwarten des Hauptsacheverfahrens sei für den Antragsteller nicht unzumutbar; dieser sei nämlich auch ohne die begehrte Feststellung nicht von der Teilnahme am Straßenverkehr ausgeschlossen. Der Antragsteller sei auch nicht gehindert, mit seinem Kraftfahrzeug in der Nähe des von ihm angestrebten Zieles liegende Parkplätze zu nutzen; er dürfe lediglich die mit dem Rollstuhlfahrer-Symbol besonders gekennzeichneten Parkplätze nicht benutzen und sei von weiteren Halte- und Parkvorschriften nicht befreit. Zudem könne bei der gebotenen summarischen Prüfung nicht ohne weiteres festgestellt werden, dass der Antragsteller in der Hauptsache Erfolg haben werde. Der Antragsteller, der einseitig unterschenkelamputiert sei und möglicherweise seit April 2003 keine Prothese tragen könne, sei funktionell besser gestellt als der Personenkreis der Oberschenkelamputierten, die kein Kunstbein tragen könnten.

Gegen diese am 07.04.2004 zugestellte Entscheidung richtet sich die Beschwerde des Antragstellers vom 14.04.2004, mit der er sein Begehren weiter verfolgt.

Er ist der Ansicht, ein Abwarten auf die Entscheidung in der Hauptsache sei ihm nicht zumutbar. Im Übrigen könne er mit Gehhilfen keine 100 m im Straßenverkehr zurücklegen; zwischen einem Oberschenkelamputierten und einem Unterschenkelamputierten, die beide kein Kunstbein tragen könnten, bestehe kein Unterschied.

II.

Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde ist unbegründet.

Der angefochtene Beschluss des SG ist nicht zu beanstanden. Mit zutreffender Begründung hat das SG einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des Absatzes 1 nicht vorliegt, auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind hiernach auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Durch das am 02.01.2002 in Kraft getretene 6. SGG-ÄndG (BGBl. I S. 2144 ff.) ist der einstweilige Rechtsschutz im SGG in Anlehnung an §§ 80 ff Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) geregelt worden. Dies rechtfertigt es, die zu §§ 80, 80a, 123 VwGO entwickelten Grundsätze auf das sozialgerichtliche Verfahren zu übertragen (Senatsbeschlüsse vom 18.09.2002 - L 10 B 9/02 KA ER -, vom 23.08.2002 - L 10 B 12/02 KA ER - und vom 16.04.2003 - L 10 B 21/02 KA ER -). Danach ist zwischen Sicherungs- (§ 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG) und Regelungsanordnung (§ 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG) zu unterscheiden. Eine Sicherungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 1 SGG kommt danach in Betracht, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Eine Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG kann ergehen, wenn eine Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Hierunter fallen die praktisch häufigen Fälle eines Verpflichtungs- oder Leistungsbegehrens, in denen es - wie hier - um die vorläufige Begründung oder Erweiterung einer Rechtsposition geht (vgl. Düring in Berliner Kommentare, SGG, 1. Auflage, 2003, § 86 b Rdn. 11). In beiden Fällen entspricht es einer verfassungsrechtlich unbedenklichen verwaltungsgerichtlichen Praxis, die Gewährleistung vorläufigen Rechtsschutzes davon abhängig zu machen, dass der Antragsteller einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft macht (BVerfGE 79, 69, 74). Droht danach dem Antragsteller bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten, die durch eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, so ist - erforderlichenfalls unter eingehender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung des im Hauptsacheverfahren geltend gemachten Anspruchs - einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (BVerfGE 93, 1 ff). Andererseits müssen die Gerichte unter Umständen wegen der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit Rechtsfragen nicht vertiefend behandeln und ihre Entscheidung maßgeblich auf der Grundlage einer Interessenabwägung treffen können (BVerfG NJW 1997, 479, 480; NVwZ RR 2001, 694 bis 695).

In Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich, dass das SG den Erlass der begehrten einstweiligen Regelung zu Recht abgelehnt hat.

Der Senat nimmt in entsprechender Anwendung des § 153 Abs. 2 SGG auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung Bezug und bemerkt ergänzend: Es ist weder ein Anordnungsgrund (1.) noch ein Anordnungsanspruch (2.) glaubhaft gemacht.

Zu 1. Eine Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 setzt voraus, dass eine vorläufige Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum einstweiligen Rechtsschutz im sozialgerichtlichen Verfahren (vgl. BVerfGE 79, 69; 46, 166) wurde ganz überwiegend gefordert, dass dem Antragsteller schwere irreparable und unzumutbare Nachteile drohen (vgl. nur LSG NRW vom 24.06.1997 - L 11 Ska 20/97 - m.w.N sowie die Nachweise bei Frehse in Schnapp/Wigge, Handbuch für das Vertragsarztrecht, 1. Auflage, 2002, § 21 Rdn. 68 ff). Soweit damit hinsichtlich des Regelungsgrundes bislang sehr hohe Anforderungen gestellt worden sind, lässt sich dies unter Geltung des 6. SGG-ÄndG nicht mehr in vollem Umfang aufrechterhalten (Frehse a.a.O. Rdn 122); Voraussetzung ist nunmehr "lediglich", dass ein wesentlicher Nachteil abgewandt werden soll. Die Formulierung in § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG entspricht im Wesentlichen § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO. Auch dort wird ein Regelungsgrund dann angenommen, wenn es aus besonderen Gründen unzumutbar erscheint, den Antragsteller zur Durchsetzung seines Anspruchs auf das Hauptsacheverfahren zu verweisen.

Aber auch dies ist bei der gebotenen summarischen Prüfung nicht der Fall; dem Antragsteller ist zumutbar, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten.

Das SG hat nämlich zu Recht darauf hingewiesen, dass der Antragsteller keineswegs an der Teilnahme im Straßenverkehr gehindert ist und wie jeder Verkehrsteilnehmer die vorhandenen Parkplätze nutzen kann. Besondere Umstände, die es erforderlich machen könnten, dass der Antragsteller darüber hinaus nahezu unerlässlich auf die Benutzung von mit dem Rollstuhlfahrer-Symbol gekennzeichneten Parkplätzen angewiesen ist, sind nicht ersichtlich. Der Antragsteller selber hat außer den mit der Ablehnung seines Antrags üblicherweise verbundenen Nachteilen - also der rechtlichen Unmöglichkeit, mit dem Rollstuhlfahrer-Symbol gekennzeichnete Parkplätze zu nutzen, - keine weiteren Umstände vorgetragen, aufgrund derer in seinem Fall bis zur Entscheidung in der Hauptsache eine besondere Regelung getroffen werden müsste. Einen im konkreten Fall drohenden wesentlichen Nachteil hat er nicht angegeben.

Zu 2. Auch ein Anordnungsanspruch ist nicht glaubhaft gemacht. Nach der derzeitigen Sachlage hat der Antragsteller jedenfalls keinen Anspruch auf Feststellung des Nachteilsausgleichs "aG".

Nach § 69 Abs 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) - früher § 4 Abs. 4 SchwbG - stellen die Versorgungsämter neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für behinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV)). Das SGB IX bzw. das Schwerbehindertenrecht legt nicht fest, wer als außergewöhnlich gehbehindert anzusehen ist. Es wird jedoch auf den durch straßenverkehrsrechtliche Vorschriften definierten Begriff (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 SchwbAwV i.V.m. § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz) verwiesen (s. dazu im Einzelnen Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 10.12.2002 - B 9 SB 7/01 R BSG -), wonach außergewöhnlich gehbehindert ist, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Fahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen: Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind (Nr. 11 der zu § 46 StVO erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VV)). Der Kläger gehört nicht zu diesem Personenkreis, da bei ihm keine der ausdrücklich genannten Gesundheitsstörungen vorliegt. Er kann nach den Kriterien der VV deshalb nur dann als außergewöhnlich gehbehindert angesehen werden, wenn er diesem Personenkreis gleichzustellen ist. Gleichstellung setzt voraus, dass der Betroffene in seiner Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und dass er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in der VV aufgeführten Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann. Bei der Beurteilung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, ist nicht darauf abzustellen, über welche Wegstrecke ein behinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung - praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an - erfüllt, qualifiziert sich für den Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (BSG a.a.O.). Diese Voraussetzungen sind nach den vorliegenden medizinischen Befunden nicht - mit der erforderlichen Sicherheit - zu bejahen. Dr. X beschreibt das Gangbild des Antragstellers unter Benutzung einer Unterarmgehstütze als hinkend und erachtet dessen Gehfähigkeit trotz angenommener Schmerzen als nicht in so ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt wie bei den in der VV genannten Personen. Es besteht derzeit kein Anhaltspunkt, der ein Abweichen von dieser Beurteilung erlauben könnte. Vielmehr stimmt die Beurteilung des Dr. X mit den Angaben des Antragstellers überein, er solle trotz Schmerzen nur eine Unterarmgehstütze benutzen, damit der Beinstumpf beim Auftreten durch den Kontakt mit der Prothese massiert und besser durchblutet werde. Dies deutet darauf hin, dass auch der behandelnde Arzt eine fußläufige Fortbewegung des Antragstellers nicht nur für zumutbar, sondern vielmehr für medizinisch geboten erachtet. Aus den ansonsten vorliegenden Unterlagen (z.B. Bescheinigung des Dr. Q vom 14.07.2003 oder Bericht der Dr. C vom 10.02.2004) ergibt sich nichts Anderes.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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