L 11 KA 160/02

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
11
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 14 KA 210/00
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 11 KA 160/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 22.08.2002 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat ein Drittel der außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Honorarberechnung der Klägerin für das Quartal I/2000 wegen einer Fallzahlzuwachsbegrenzung gemäß § 15 des Honorarverteilungsmaßstabes (HVM) der Beklagten.

Die Klägerin ist seit 1990 in M als praktische Ärztin zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen.

Die budgetrelevanten Fallzahlen der Klägerin entwickelten sich vom Quartal I/1995 zum Quartal IV/2000 von anfangs ca. 1300 bis 1400 Fällen bis zu 1600 bis 1700 Fällen. Die Einzelheiten ergeben sich aus dem Schriftsatz der Beklagten vom 25.10.2004, auf den Bezug genommen wird. Die durchschnittliche Fallzahl der Arztgruppe der Allgemeinärzte/praktischen Ärzte entwickelte sich in diesem Zeitraum von ca. 938 auf 1013 pro Quartal.

Im Quartal I/2000 rechnete die Klägerin eine budgetrelevante Fallzahl für Primär- und Ersatzkassen von 1829 ab. Mit Bescheid vom 07.07.2000 berechnete die Beklagte die zulässige Fallzahl der Klägerin auf 1486 Fälle, woraus sich ein nicht vergütetes Volumen von 178.027,7 Punkten, entsprechend 14.374,80 DM ergab.

Im Widerspruchsverfahren trug die Klägerin vor, begünstigt durch ihre russischen Sprachkenntnisse sei die Anzahl der Patienten aus der ehemaligen Sowjetunion sprunghaft angestiegen. Wegen des Zustroms der Aussiedler in die Bundesrepublik hätten sich immer mehr russisch sprechende Patienten in ihrer Praxis als erste Anlaufstelle vorgestellt. Der Einzugsbereich ihrer Praxis betrage bis zu 500 km. In diesem Personenkreis sei die Suchtproblematik sehr groß, viele würden unter Depressionen und somatoformen Störungen leiden. Die Klägerin würde sich um die Einleitung verschiedener Therapien kümmern und führe auch die hausärztliche Nachbetreuung durch. Aus diesem Grunde wachse die Fallzahl ständig. So habe sie im Quartal I/1995 ca. 450 Aussiedler und im Quartal I/2000 ca. 850 Aussiedler behandelt. Dazu zählten inzwischen nicht nur Aussiedler aus Rußland, sondern auch jüdische Imigranten. Dieser Zustrom an russischen Imigranten müsse als Besonderheit der Praxis berücksichtigt werden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 24.10.2000 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Hinweis auf die Aussiedler entlaste die Klägerin nicht. Die Quote der Zuweisung von Spätaussiedlern sei in den letzten 10 Jahren in M kontinuierlich zurückgegangen, auch sei die Gesamtaussiedlerzahl im Quartal I/2000 gegenüber dem Vergleichsquartal I/1995 unbedeutend. Nach einer Auswertung der Patientenkontrollisten betrage der Anteil der Aussiedler, die von außerhalb die Praxis der Klägerin aufgesucht hätten, im Vergleichsquartal I/1995 5 % und nach den gleichen Prüfkriterien im Quartal I/2000 7 %. Dieser tatsächliche Zuwachs von 2 % könne den Zuwachs der budgetrelevanten Fälle in dem selben Vergleichszeitraum um immerhin 32 % nicht erklären.

Mit ihrer Klage hat die Klägerin ihren Vortrag aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und vertieft und ist der Auffassung gewesen, dass durch die Maßnahme der Fallzahlzuwachsbegrenzung in unzulässiger Weise in ihr Grundrecht der Berufsausübung eingegriffen werde.

Die Klägerin hat beantragt,

den Honorarbescheid für das Quartal I/2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.10.2000 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, das Honorar ohne Begrenzung durch die Maßnahme der Fallzahlzuwachsbegrenzung auszuzahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat darauf hingewiesen, dass der Anteil der Fremdkassenfälle in der Abrechnung der Klägerin von 14,6 % im Quartal I/1995 auf 6,8 % im Quartal I/2000 zurückgegangen sei.

Mit Urteil vom 22.08.2002 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Wegen der Begründung wird auf das angefochtene Urteil Bezug genommen.

Während des Berufungsverfahrens hat der Senat in einem Parallelverfahren L 11 KA 155/02 mit Urteil vom 03.12.2003 in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts im Urteil vom 13.03.2002 - B 6 KA 48/00 R - SozR 3-2500 § 85 Nr. 44 - die Fallzahlzuwachsbegrenzungsregelung im HVM der Beklagten insofern für unwirksam gehalten, als die Steigerung des zulässigen Fallzahlzuwachses an einem unzulässigen Kriterium ansetzte, nämlich die prozentuale Steigerung des auf die jeweilige Arztgruppe entfallenden Gesamtvergütungsanteil. Mit Beschluss der Vertreterversammlung der Beklagten vom 19.06.2004 wurden die Regelungen zur Fallzahlzuwachsbegrenzung in §§ 10, 11 bzw. 15 HVM rückwirkend ab 01.07.1997 neu gefasst (Westfälisches Ärzteblatt 7/2004). Danach errechnet sich u.a. der zulässige Fallzahlzuwachs aus der Multiplikation der durchschnittlichen Fallzahl der jeweiligen Fachgruppe im entsprechendem Vorjahresquartal mit 5 %, § 15 Abs. 3 HVM i. d. F. vom 19.06.2004. Mit Bescheid vom 04.08.2004 hat die Beklagte auf der Grundlage dieser von der Vertreterversammlung beschlossenen rückwirkenden Änderung der Fallzahlzuwachsbegrenzung eine Neuberechnung der zulässigen Fallzahl der Klägerin vorgenommen. Dadurch hat sich ihre zulässige Fallzahl von 1486 Fällen auf 1652 Fälle erhöht, so dass die Klägerin ihre budgetrelevante Fallzahl noch um 217 Fälle überschreitet. Durch die Neuberechnung ergab sich für die Klägerin eine Nachvergütung in Höhe von 1.839,16 EURO. Wegen der Einzelheiten wird auf den Bescheid und die Berechnungen in den Anlagen Bezug genommen.

Die Klägerin hält die Neuregelung insofern für rechtswidrig, als der zulässige Fallzahlzuwachs von 5 % bezogen auf das jeweilige Vorjahresquartal sich errechnet aus der Multiplikation der durchschnittlichen Fallzahl der jeweiligen Fachgruppe und nicht der eigenen anerkannten Fallzahl im Vorjahresquartal. Darüberhinaus trägt sie vor, die außergewöhnliche Patientenzusammensetzung ihrer Praxis sei als beachtliche Praxisbesonderheit durch die Beklagte nicht ausreichend gewürdigt worden. So seien im Quartal I/1999 42 % der durch sie behandelten Patienten russisch-sprachig bzw. jüdischer Abstammung, davon seien wiederrum 36 % unter einer von M zu unterscheidenden Postleitzahl gemeldet. Im Quartal I/2000 habe sich der Patientenanteil dieser beschriebenen Gruppe auf 39 % gesteigert. Aus den von der Klägerin gefertigten Patientenlisten ergebe sich, dass beispielsweise ein beträchtlicher Teil der nicht in M gemeldeten russisch-sprachigen bzw. jüdisch-stämmigen Patienten in Osnabrück wohnhaft sei, nämlich im Quartal I/2000 77 Patienten. Der Zuzug von Spätaussiedlern im Landkreis Osnabrück habe sich in den letzten Jahren enorm erhöht. Auch bei jüdischen Imigranten spiele bei der Ortswahl eine Rolle, wo jüdische Gemeinden bestehen. In Osnabrück beispielsweise sei eine solche jüdische Gemeinde vorhanden, so dass eine über den Bundesdurchschnitt liegende Zahl jüdischer Imigranten im Osnabrücker Raum wohnhaft sei. Auch bei einem Vergleich der Quartale I/1999 und I/2000 zeige sich die tatsächlich bestehende Zuzugtendenz.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 22.08.2002 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide vom 07.07.2000 und 07.11.2000 in der Fassung der Nachberechnung vom 04.08.2004 zu verurteilen, der Klägerin weitere 5.510,56 EURO vertragsärztliches Honorar für das Quartal I/2000 zu vergüten.

Die Bevollmächtigte der Beklagten beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die Fallzahlzuwachsberechnung für das Quartal I/2000 nach dem Bescheid vom 04.08.2004 für rechtmäßig und erläutert im Einzelnen die Berechnungsgrundlagen.

Weitere Einzelheiten, auch des Vorbringens der Beteiligten, ergeben sich aus den Prozessakten und Verwaltungsakten der Beklagten, auf die Bezug genommen wird.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 22.08.2002 und die Klage gegen den Neuberechnungsbescheid vom 04.08.2004 sind zulässig, aber unbegründet.

Der Klägerin steht kein weiteres vertragsärztliches Honorar für das Quartal I/2000 zu.

Gegenstand des Verfahrens ist allein der Neuberechnungsbescheid vom 04.08.2004 gemäß § 96 SGG, der die bisher angefochten gewesenen Bescheide ergänzend und ersetzt. Dieser Bescheid ist rechtmäßig und beschwert die Klägerin nicht.

Die Fallzahlzuwachsbegrenzung der Beklagten gemäß § 15 HVM in der Fassung des Beschlusses der Vertreterversammlung vom 19.06.2004 für die Quartale III/1997 bis III/2003 ist rechtmäßig und verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. Grundsätzliche Bedenken werden von der Klägerin insoweit auch nicht geltend gemacht. Die grundsätzliche Zulässigkeit von Regelungen über die Begrenzung des Fallzahlzuwachses hat der Senat in seiner oben genannten Entscheidung vom 03.12.2003 bereits bejaht. Die Bedenken des Senates wegen der Begrenzung der Fallzahlsteigerung auf den Umfang der Grundlohnsummensteigerung hat die Beklagte durch die Neufassung vom 19.06.2004 ausgeräumt.

Die Klägerin kann nicht verlangen, den zulässigen Fallzahlzuwachs von jährlich 5 % zu errechnen nach dem eigenen anerkannten Fallzahlvolumen des jeweiligen Vorjahresquartals statt an der durchschnittlichen Fallzahl der jeweiligen Fachgruppe. Das Bundessozialgericht hat entschieden, dass Steigerungssätze für ein pro Jahr zulässiges Honorarwachstum nicht auf das bisherige Abrechnungsvolumen des Arztes, sondern auf einen generellen Wert wie z.B. den Durchschnittsumsatz der Fachgruppe bezogen werden sollten, um ungleiche Zuwachsmöglichkeiten auszuschließen (BSG vom 10.12.2003 - B 6 KA 54/02 R). Es sind für den Senat keine Gesichtspunkte zu erkennen, dieses Regelungssystem nicht auch auf ein pro Jahr zulässiges Fallzahlwachstum anzuwenden.

Letztlich ist eine Verpflichtung der Beklagten nicht zu erkennen, im Falle der Praxis der Klägerin eine Ausnahme von der Fallzahlzuwachsbegrenzung unter Sicherstellungsgesichtspunkten im Sinne des § 15 Abs. 7 HVM zu machen. Die von der Klägerin behaupteten Praxisbesonderheiten gebieten aus mehreren Gründen nicht ansatzweise eine solche Entscheidung. Der von der Klägerin behauptete verstärkte Zuspruch von nicht in M gemeldeten russisch-sprachigen bzw. jüdischstämmigen Patienten mit Wohnsitz in Osnabrück wegen der dortigen Besonderheiten der Existenz einer jüdischen Gemeinde lässt sich schon nicht objektivieren. Nach Feststellung des Senates anhand der von der Klägerin nicht substantiiert beschrittenen Angaben der Beklagten bereits im Klageverfahren (Schriftsatz vom 10.10.2001) betrug jedenfalls im Primärkassenbereich der Anteil der Fremdkassenfälle im Quartal I/1995 14,6 %, im Quartal I/2000 nur noch 6,8 % bei 1391 bzw. 1037 Primärkassenfällen. Dieser deutlich abnehmende Anteil von Fremdkassenfällen schließt es aus, dass gerade der im Vergleich der Quartale I/1999 und I/2000 sich ergebende Fallzahlzuwachs insgesamt um 119 Patienten ausschließlich oder überwiegend auf einen zusätzlichen Zustrom von Patienten aus der Stadt Osnabrück zurückzuführen ist. Zudem ist für den Senat nicht erkennbar, dass und warum sich der zusätzliche Patientenzustrom, dessen sich die Klägerin rühmt, allein auf das Quartal I/2000 beschränken sollte. Denn in den nachfolgenden Quartalen des Jahres 2000 ist die budgetrelevante Fallzahl der Klägerin im Vergleich zum Vorjahresquartal sogar rückläufig (von 1618 auf 1612; von 1669 auf 1658; von 1716 auf 1710). Der Senat hält diese Feststellung für die Praxis der Klägerin als repräsentativ, weil der Anteil an Primärkassenfällen mit um 74 % in beiden Zeiträumen deutlich überwiegt. Der Senat schließt es aufgrund seiner Sachkunde - die im Einzelnen in der mündlichen Verhandlung dargelegt und erörtert worden ist - aus, dass diejenigen Patientenkreise, aus denen die Klägerin einen vermehrten Zustrom in Anspruch nimmt, gerade typischerweise Versicherte von Ersatzkassen sind. Darüberhinaus würde sich für das von der Klägerin beschriebene Patientengut keine besondere Sicherstellungsverpflichtung der Beklagten im System der gesetzlichen Krankenversicherung ergeben. Die Unterscheidungsmerkmale wie Aussiedler, Ausländer, Patienten mit ausländischer Herkunft usw. mit den sich daran anknüpfenden religiösen, kulturellen und sprachlichen Besonderheiten sind bereits in der Prüfung der ärztlichen Behandlungs- und Abrechnungsweise auf Wirtschaftlichkeit keine tauglichen, zu ermittelnden und objektivierbaren Kriterien zu Darlegung von Praxisbesonderheiten (s. dazu ausführlich BSG vom 10.05.2000 - B 6 KA 25/99 R - SozR 3-2500 § 106 Nr. 49). Ebensowenig können sie als Rechtfertigungsmerkmal für die Inanspruchnahme anderer Sicherstellungs- und Ausnahmetatbestände im Rahmen der vertragsärztlichen Abrechnung gelten. Letztlich erstreckte sich ein Sicherstellungsauftrag der Beklagten aus § 75 Abs. 1 Satz 1 SGB V auch im Rahmen einer angemessenen Entscheidung von Ausnahmefällen nach § 15 Abs. 7 HVM nur auf ihren räumlichen Zuständigkeitsbereich, nämlich den Landesteil Westfalen-Lippe des Landes Nordrhein-Westfalen. Somit wäre eine Verpflichtung der Beklagten zur Berücksichtigung von Versorgungsnotwendigkeiten von Patienten mit Wohnsitz in Niedersachsen schon grundsätzlich nicht zu erkennen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 und 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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