S 34 KR 769/15

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
34
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 34 KR 769/15
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 KR 182/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Erstattung der Kosten für eine Gesichtsfeldtherapie in Höhe von 2.350 Euro nach den Vorschriften des Fünften Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V).

Die 1984 geborene Klägerin leidet seit einer Sinusvenenthrombose mit Stauungsblutung im Gehirn im Juni 2014 an einer ausgeprägten Gesichtsfeldeinschränkung auf beiden Augen.

Am 06.05.2015 beantragte die Klägerin die Erstattung der Kosten für die durchgeführte Gesichtsfeldtherapie. Sie habe auf Anraten ihres behandelnden Arztes mit der Gesichtsfeldtherapie begonnen. Die nach zwei Monaten erzielten Ergebnisse seien vielversprechend. Sie beantrage die bereits entstandenen Kosten in Höhe von 2.350 Euro zu übernehmen.

Mit Bescheid vom 12.05.2015 und 18.06.2015 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung führte sie aus, dass es sich bei dem visuellen Restitutionstraining um eine neue Behandlungsmethode handele. Die Kosten könnten nur übernommen werden, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) diese anerkannt habe. Die von der Klägerin beantragte Therapie sei nicht vom GBA anerkannt.

Gegen die Bescheide legte die Klägerin Widerspruch ein.

Am 02.06.2015 erstattete der Medizinische Dienst der Krankenversicherung in Hessen (MDK) der Beklagten ein Gutachten. Dieser führte aus, dass eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung nicht vorliege. Es könne damit auch keine gleichgestellte Erkrankung anerkannt werden. Eine Erblindung drohe nicht. Die Voraussetzungen des BVerfG-Urteils zu neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden seien kumulativ nicht erfüllt. Es seien vertragliche Behandlungsmethoden vorhanden.

Mit Widerspruchsbescheid vom 05.10.2015 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Zum einen scheitere ein Anspruch auf Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 SGB V daran, das die Behandlung bereits zwei Monate durchgeführt worden sei bevor ein Antrag gestellt worden sei. Zum anderen scheitere ein Anspruch auch an materiell-rechtlichen Gründen. Für nicht anerkannte Behandlungsmethoden komme eine Kostenerstattung nicht in Betracht. Auch das BVerfG-Urteil vom 06.12.2005 (1 BvR 347/98) sei nicht anwendbar. Der MDK habe bestätigt, dass keine lebensbedrohliche Erkrankung vorliegen würde und andere Behandlungsmethoden vorhanden seien.

Hiergegen richtet sich die erhobene Klage. Die visuelle Therapie sei keine ärztliche Behandlungsmethode, da die Klägerin diese zu Hause am PC durchführe. Es handele sich dabei um einen Anspruch auf Versorgung mit Sehhilfen nach § 33 SGB V.

Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 12.05.2015 und 18.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.10.2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin die Kosten für eine Gesichtsfeldtherapie in Höhe von 2.350 Euro zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie stützt sich im Wesentlichen auf ihre Ausführungen im Ausgangs- und Widerspruchsbescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vortrags der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, die jeweils Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig. Sie ist insbesondere form- und fristgerecht vor dem zuständigen Gericht erhoben worden (§§ 87, 90 Sozialgerichtsgesetz – SGG -).

Die Klage ist jedoch unbegründet. Der Bescheid vom 12.05.2015 und 18.06.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.10.2015 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Beklagte hat zu Recht eine Kostenerstattung der Gesichtsfeldtherapie abgelehnt.

Rechtsgrundlage für den Kostenerstattungsanspruch ist § 13 Abs. 3 SGB V. Danach ist eine Krankenkasse zur Erstattung der Kosten für eine von dem Versicherten selbst beschaffte Leistung verpflichtet, wenn sie entweder eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und zwischen der rechtswidrigen Ablehnung und der Kostenlast des Versicherten ein Ursachenzusammenhang besteht. Dieser Ursachenzusammenhang fehlt, wenn die Krankenkasse vor Inanspruchnahme bzw. Beschaffung der Leistung mit dem Leistungsbegehren nicht befasst wurde, obwohl dies möglich gewesen wäre (BSG, Urteil vom 30.06.2009 – B 1 KR 5/09 R – juris Rn. 15).

§ 13 Abs. 3 Satz 1 1. Alternative SGB V scheidet nach Ansicht der Kammer mangels unaufschiebbarer Leistung aus. Die Kammer schließt sich dem überzeugenden Gutachten des MDK vom 01.06.2015 an, der eine unaufschiebbare Leistung ebenfalls verneint.

Die Voraussetzungen des § 13 Abs. 3 Satz 1 2. Alternative SGB V liegen ebenfalls nicht vor. Zum einen scheitert der Erstattungsanspruch bereits daran, dass sich die Klägerin vor Inanspruchnahme der Leistung nicht an die Beklagte gewandt hat. Zum anderen ist der Kostenerstattungsanspruch auch aus materiell-rechtlichen Gründen nicht gegeben. Denn der Kostenerstattungsanspruch geht nicht weiter als der entsprechende Sachleistungsanspruch. Nur wenn die selbstbeschaffte Leistung zu denjenigen Leistungen gehört, welche von den Krankenkassen grundsätzlich als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen gewesen wären, kann ein Kostenerstattungsanspruch bestehen (vgl. BSG, Urteil vom 27.03.2007 – B 1 KR 17/06 R – juris Rn. 12). Die visuelle Restitutionstherapie gehört jedoch nicht zu den von der Beklagten zu erbringenden Sachleistungen. Dabei kann nach Ansicht der Kammer offen bleiben, ob es sich bei der visuellen Restitutionstherapie um eine Behandlungsmethode oder um ein Hilfsmittel handelt, da die jeweiligen materiell-rechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt sind.

Betrachtet man die visuelle Restitutionstherapie als Behandlungsmethode richtet sich der materiell-rechtliche Anspruch nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V. Danach haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern.

Nach § 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V dürfen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen und vertragszahnärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der GBA auf Antrag eines Unparteiischen nach § 91 Abs. 2 Satz 1, einer Kassenärztlichen Bundesvereinigung, einer Kassenärztlichen Vereinigung oder des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 Empfehlungen abgegeben hat.

Der GBA hat bezüglich dieser Behandlung noch keine positive Empfehlung abgegeben, so dass die Behandlung keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung ist. Auch ein Fall des so genannten "Systemversagens" (vgl. BSG, Urteil vom 07.05.2013 – B 1 KR 44/12 R) liegt nicht vor.

Ebenfalls lässt sich ein Kostenerstattungsanspruch nicht aus § 2 Abs. 1a SGB V ableiten. Danach können Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, auch eine von § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegenden Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht; § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V sieht vor, dass Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen haben.

In § 2 Abs. 1a SGB V hat der Gesetzgeber die vom BVerfG entwickelten Rechtsgrundsätze zur grundrechtsorientieren Auslegung des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung kodifiziert. In seinem grundlegenden Beschluss vom 06.12.2005 (1 BvR 347/98) hat es das BVerfG für mit dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht vereinbar erklärt, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischen Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, von der Leistung einer vom ihm gewählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat diese verfassungsgerichtlichen Vorgaben seiner Rechtsprechung zugrunde gelegt und näher konkretisiert (vgl. etwa BSG, Urteil vom 07.11.2006 – B 1 KR 24/06 R; BSG, Urteil vom 04.04.2006 – B 1 KR 7/05 R). Danach verstößt die Leistungsverweigerung der Krankenkasse unter Berufung darauf, eine bestimmte neue ärztliche Behandlungsmethode sei im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen, weil der zuständige GBA diese noch nicht anerkannt oder sie sich zumindest in der Praxis und in der medizinischen Fachdiskussion noch nicht durchgesetzt habe, gegen das Grundgesetz, wenn folgende drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:

1. es liegt eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Krankheit vor

2. für die Krankheit besteht keine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung

3. hinsichtlich der ärztlich angewandten Behandlungsmethode besteht eine auf Indizien gestützte nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf.

Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Die Kammer schließt sich insoweit dem überzeugenden Gutachten des MDK vom 01.06.2015 an. Dieser führt aus, dass die Erkrankung der Klägerin weder lebensbedrohlich oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung sei. Es könne damit auch keine gleichgestellte Erkrankung erkannt werden, eine Erblindung der Klägerin drohe nicht. Des Weiteren führt er aus, dass eine ergotherapeutische Behandlung für die Behandlung der Erkrankung der Klägerin zur Verfügung steht. Zudem gebe es keine evidenzbasierenden Studien, die eine eindeutige Verbesserung des Gesichtsfeldes nachweisen könnten. Die Voraussetzungen der Rechtsprechung sind damit nicht kumulativ erfüllt.

Betrachtet man die Gesichtsfeldtherapie als Hilfsmittel – wie die Klägerin – hat die Klage ebenfalls keine Aussicht auf Erfolg. Der materiell-rechtliche Anspruch richtet sich dann unter anderem nach § 33 Abs. 1 SGB V. Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind. Dabei besteht ein Anspruch auf Versorgung nur, soweit das begehrte Hilfsmittel geeignet, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet; darüber hinausgehende Leistungen darf die Krankenkasse nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 SGB V). Die Voraussetzungen des Sachleistungsanspruchs richten sich aber nicht allein nach § 33 SGB V. Denn die Klägerin hat sich vorliegend nicht nur ein Hilfsmittel selbst beschafft, sondern hierzu auch Leistungen einer ärztlichen Behandlung in Anspruch genommen. Die Verwendung der Therapie-Software erschöpft sich nämlich nicht in der Überlassung eines Hilfsmittels. Vielmehr wurde die Klägerin vor Beginn der Therapie untersucht. Des Weiteren wird sie während des Therapieprogramms durchgehend betreut. Die Verwendung der Software ist damit untrennbar mit ärztlichen Behandlungsleistungen verbunden. Deswegen muss in Bezug auf die ärztlichen Behandlungen die Voraussetzungen einer Leistungspflicht der Beklagten gegeben sein, damit das Hilfsmittel übernommen werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 08.07.2015 B 3 KR 5/14 R; BSG, Urteil vom 08.07.2015 – B 3 KR 6/14 R). Da es sich – wie oben bereits ausgeführt – bei der visuellen Restitutionstherapie um eine neue Behandlungsmethode handelt und die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1a SGB V nicht erfüllt sind, kommt eine Kostenübernahme für ein Hilfsmittel (hier: Computer-Software) ebenfalls nicht in Betracht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.
Rechtskraft
Aus
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