L 21 AS 592/19

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
21
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 33 AS 1511/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 21 AS 592/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird festgestellt, dass das Verfahren Sozialgericht Gelsenkirchen S 33 AS 1511/17 nicht beendet und vor dem Sozialgericht Gelsenkirchen fortzuführen ist. Die Kostenentscheidung bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Beklagte begehrt die Fortsetzung des erstinstanzlichen Verfahrens.

In der Hauptsache stritten die Beteiligten vor dem Sozialgericht Gelsenkirchen unter dem Aktenzeichen S 33 AS 1511/17 über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Streitig war der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II.

Das Sozialgericht hat am 5.12.2018 einen Erörterungstermin durchgeführt mit einer Dauer von 12 Minuten (laut Sitzungsprotokoll). Nach einem Hinweis auf die Erörterung des Sachverhaltes wird in dem Sitzungsprotokoll ausgeführt:

"Der Bevollmächtigte des Klägers der Beklagten erklärt:
Der Beklagte bittet das Gericht, per Vergleichsbeschluss über den Ausgang dieses Rechtsstreites zu entscheiden."

Das Gericht wies die Beteiligten darauf hin, dass die Klage volle Aussicht auf Erfolg habe. Weiter ist in dem Sitzungsprotokoll vermerkt:

"Entsprechende Ausführungen wird der Vergleichsbeschluss enthalten."

Am 10.12.2018 hat das Sozialgericht Gelsenkirchen sodann einen Beschluss getroffen mit folgendem Tenor:

"Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit mit dem Aktenzeichen S 33 AS 1511/17 am 05.12.2018 durch Vergleich dahingehend erledigt worden ist, dass der Beklagte sich verpflichtet, den Klägern für die Zeit vom 01.04.2017 bis zum 22.05.2017 monatliche Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe unter Beachtung des Regelbedarfs und der Leistungen für Unterkunftskosten Höhe zu bewilligen sowie für die Zeit vom 23.05.2017 bis zum 30.11.2017 monatliche Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe in Gestalt der Leistungen für Unterkunftskosten. Darüber hinaus wird festgestellt, dass der Beklagte zur Übernahme der außergerichtlichen Kosten der Klägerin verpflichtet ist."

In den Gründen dieses Beschlusses bezieht sich das Sozialgericht auf § 202 SGG i.V.m. § 278 Abs. 6 Satz 1 ZPO. Nach Satz 2 der letztgenannten Vorschrift stelle das Gericht das Zustandekommen und den Inhalt eines nach Satz 1 der Vorschrift geschlossenen Vergleiches durch Beschluss fest. Sodann hat das Sozialgericht das Verfahren als durch gerichtlichen Vergleich am 10.12.2018 erledigt ausgetragen.

Mit Schriftsatz vom 14.12.2018 wies der Beklagte gegenüber dem Sozialgericht darauf hin, dass sich aus dem Sitzungsprotokoll seiner Auffassung nach kein Vergleich im Sinne von Angebot und Annahme ergebe. Der Beklagte bat um Rücknahme des Beschlusses bzw. eine Klarstellung, dass das Verfahren nicht durch Vergleich beendet sei. Dies lehnte das Sozialgericht mit der Begründung ab, in dem Termin zur Erörterung des Sachverhaltes sei zum Ausdruck gebracht worden sei, dass die Klage volle Aussicht auf Erfolg habe. Dann sei von Seiten des Beklagten ein Vergleichsbeschluss des Gerichts beantragt worden, was erfolgt sei. Eine andere Entscheidung sei dem Gericht nicht möglich.

Gegen den Beschluss des Sozialgerichts vom 10.12.2018 hat der Beklagte sodann am 19.12.2018 vor dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) zunächst Beschwerde (unter dem Aktenzeichen L 21 AS 2125/18 B) erhoben und begehrt, den Beschluss des Sozialgerichts aufzuheben und festzustellen, dass der Rechtsstreit nicht durch Vergleich beendet worden sei. Nach Hinweis des Senats vom 8.1.2019, dass gegen eine Feststellung, dass ein Verfahren beendet worden sei, das Rechtsmittel einzulegen ist, dass auch gegen eine Entscheidung in der Sache selbst einzulegen wäre, hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 9.1.2019, am selben Tag beim LSG eingegangen, Berufung (unter dem Aktenzeichen L 21 AS 592/19), hilfsweise eine Beschwerde, eingelegt.

Der Beklagte hat vorgetragen, es habe keine Übereinstimmung mit der von dem Vorsitzenden im Erörterungstermin geäußerten Rechtsauffassung bestanden. Es sei gebeten worden, einen Vergleichsvorschlag zu unterbreiten, um die geäußerte Rechtsauffassung im Nachgang in Ruhe zu prüfen. Gewollt sei ein Vergleichsbeschluss gemäß § 101 Abs. 1 Satz 2 SGG gewesen. Das Eingehen eines Vergleichs, welcher ein vollständiges Unterliegen beinhalte, sei nicht naheliegend, es wäre dann wohl ein Anerkenntnis abgegeben worden, zumal sich dieses unter Kostengesichtspunkten günstiger darstelle.

Der Beklagte hat zuletzt schriftsätzlich sinngemäß beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts aufzuheben und festzustellen, dass der Rechtsstreit nicht durch Vergleich beendet worden sei.

Die Kläger haben schriftsätzlich beantragt,

die Berufung und die hilfsweise eingelegte Beschwerde zurückzuweisen.

Die Kläger sind der Auffassung, dass sich der Vergleichsbeschluss in der Sache als rechtmäßig darstelle. Es habe im Rahmen "der mündlichen Verhandlung" zwischen den Parteien Einigkeit bestanden, dass Leistungen nach dem SGB II in dem aus dem Gerichtsbeschluss ersichtlichen Umfang zu gewähren seien. Der Beklagtenvertreter habe auf die Fertigung eines Vergleichs bestanden. Es sei nicht beantragt worden, dass das Gericht einen Vorschlag in Beschlussform erstelle. In dem Termin vor dem Sozialgericht sei der Hinweis erfolgt, dass die Klage in vollem Umfang Erfolg haben würde. Der Vertreter der Beklagten habe mit dieser durch das Gericht geäußerten Rechtsauffassung übereingestimmt, aber ausdrücklich die Entscheidung per Vergleichsbeschluss begehrt. Eine explizite Annahme dieses Vergleichs liege in der Erklärung, eine Entscheidung per Vergleichsbeschluss zu verlangen.

Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 1.3.2019 und 9.3.2019 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Senat ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Entscheidungsgründe:

Mit Einverständnis der Beteiligten konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden (§ 124 Abs. 2 SGG).

Die zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene Berufung des Beklagten ist begründet. Der Beklagte hat einen Anspruch auf Fortführung des erstinstanzlichen Verfahrens S 33 AS 1511/17, weil dieses Verfahren vor dem Sozialgericht Gelsenkirchen nicht beendet ist.

1. Nach der Rechtsprechung ist gegen eine Feststellung, dass ein Verfahren beendet worden ist, das Rechtsmittel einzulegen, das auch gegen eine Entscheidung in der Sache einzulegen wäre (LSG Nordrhein-Westfalen vom 23.3.2018 - L 21 R 955/16, juris Rn. 19, unter Berufung auf BVerwG vom 23.8.1984 - 9 CB 48/84, juris Rn. 3 ff.). Mit Schriftsatz vom 9.1.2019, am selben Tag bei dem LSG eingegangen, hat der Beklagte Berufung eingelegt; dieser Schriftsatz ist noch innerhalb der einmonatigen Berufungsfrist bei dem LSG eingegangen.

Der Senat kann dahinstehen lassen, ob die Zulässigkeit der Berufung in Verfahren, in denen die Wirksamkeit einer Verfahrensbeendigung streitgegenständlich ist, den Beschränkungen des § 144 Abs. 1 SGG unterliegt (bei einem Streit über eine Klagerücknahmefiktion dies bejahend BSG vom 10.10.2017 - B 12 KR 3/16 R, Rn. 12; LSG Baden-Württemberg vom 25.7.2017 - L 9 AS 1068/17, juris Rn. 25; LSG Berlin-Brandenburg vom 28.12.2016 - L 14 AS 745/16, juris Rn. 21; LSG Rheinland-Pfalz vom 13.10.2015 - L 6 AS 432/14, juris Rn. 18; LSG Sachsen vom 1.12.2010 - L 7 AS 524/09, juris Rn. 22), oder ob es hierauf nicht ankommt, weil unmittelbarer Gegenstand des Berufungsverfahrens allein die Frage ist, ob der Rechtsstreit beendet worden ist, und damit nicht (auch) der streitige Anspruch in der Sache (vgl. insoweit LSG Baden-Württemberg vom 17.4.2013 - L 5 KR 605/12, juris Rn. 23; LSG Sachsen-Anhalt vom 30.8.2012 - L 2 AS 132/12, juris Rn. 14), denn vorliegend übersteigt der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,00 Euro.

2. Die Berufung ist begründet. Das Verfahren Sozialgericht Gelsenkirchen S 33 AS 1511/17 ist nicht beendet.

a) Über die Klage wurde weder durch Urteil noch durch Gerichtsbescheid entschieden, auch ein den Rechtsstreit erledigendes angenommenes Anerkenntnis (§ 101 Abs. 2 SGG), eine Klagerücknahme (§ 102 Abs. 1 SGG) oder eine fiktive Klagerücknahme (§ 102 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.

b) Es liegt auch keine Verfahrensbeendigung nach § 101 Abs. 1 SGG im Wege des Vergleichs vor. Die protokollierte Erklärung des Beklagten "Der Beklagte bittet das Gericht, per Vergleichsbeschluss über den Ausgang dieses Rechtsstreites zu entscheiden" lässt eine solche Auslegung nicht zu.

aa) Nach § 101 Abs. 1 Satz 1 SGG können die Beteiligten, um den geltend gemachten Anspruch vollständig oder zum Teil zu erledigen, zu Protokoll des Gerichts oder des Vorsitzenden einen Vergleich schließen.

Für einen solchen, bereits in dem Erörterungstermin am 5.12.2018 geschlossenen Vergleich fehlen jegliche Anhaltspunkte. Ein Vergleich wäre gemäß § 122 SGG i.V.m. § 160 Abs. 3 Nr. 1 ZPO in der Niederschrift festzustellen, was nicht der Fall ist. Es gibt in der Niederschrift auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass in dem Termin eine übereinstimmende Willenserklärung von Kläger bzw. Klägerbevollmächtigtem und Beklagtenvertreter vorlag (vgl. dazu Schmidt in: Meyer-Ladewig u.a., SGG, 2017 § 101 Rn. 7). Entgegen der Auffassung des Klägerbevollmächtigten kann in der genannten protokollierte Erklärung des Beklagten nicht im Ansatz die Annahme eines Vergleichs gesehen werden; denn es fehlt bereits jeglicher Hinweis darauf, was Inhalt eines Vergleichsangebotes gewesen sein soll. Schließlich wäre die Bitte um einen Vergleichsbeschluss in diesem Falle überflüssig.

bb) In der Erklärung kann entgegen der Auffassung des Sozialgerichts auch kein Antrag auf Erlass eines feststellenden Beschlusses gemäß § 202 SGG i.V.m. § 278 Abs. 6 Satz 2 ZPO gesehen werden. Dies würde voraussetzen, dass die Parteien dem Gericht einen schriftlichen Vergleichsvorschlag unterbreitet oder einen Vergleichsvorschlag des Gerichts durch Schriftsatz gegenüber dem Gericht angenommen hätten.

Daran fehlt es aber. Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass das Sozialgericht in den Gründen seines Beschlusses vom 5.12.2018 auf die Möglichkeit abstellt, dass die Parteien dem Gericht einen schriftlichen Vergleichsvorschlag unterbreiten. Eine Subsumtion erfolgt durch das Sozialgericht nicht, einen solchen Vergleichsvorschlag der Beteiligten gibt es tatsächlich nicht, er wird auch von dem Sozialgericht nicht behauptet.

cc) In Betracht kommt daher nur noch eine Auslegung der protokollierten Erklärung des Beklagten als Antrag nach § 101 Abs. 1 Satz 2 SGG. Danach kann ein gerichtlicher Vergleich auch dadurch geschlossen werden, dass die Beteiligten einen in der Form eines Beschlusses ergangenen Vorschlag des Gerichts oder des Vorsitzenden schriftlich gegenüber dem Gericht annehmen.

In diesem Fall "entscheidet" das Gericht zwar nicht "über den Ausgang [des] Rechtsstreits", wie es in der Erklärung des Beklagtenvertreters heißt. Es handelt sich dabei aber um eine sprachliche Ungenauigkeit, der bei Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont (§ 133 BGB) keine Bedeutung zukommt.

Zu ermitteln ist damit das vom Erklärenden unter Zugrundelegung seiner Interessen vernünftigerweise gewollte, das in irgendeiner Form erkennbar - wenn auch unvollkommenen - zum Ausdruck gekommen sein muss (BSG vom 9.8.2006 - B 12 KR 22/05 R, juris Rn. 19). Angesichts des Fehlens von Anhaltspunkten für die Voraussetzungen und die Sinnhaftigkeit eines anderen Antrags kommt allein diese Auslegung in Betracht.

Eine Verfahrensbeendigung nach dieser Variante setzt jedoch die schriftlich Annahme des durch gerichtlichen Beschluss ergangenen Vorschlags voraus. An einer solchen Annahme fehlt es ebenso wie an einem durch gerichtlichen Beschluss ergangenen Vorschlag.

c) Für eine Erledigung des Verfahrens S 33 AS 1511/17 vor dem Sozialgericht Gelsenkirchen gibt es daher keinerlei Anhaltspunkte.

d) Mit der Feststellung, dass der Rechtstreit S 33 AS 1511/17 nicht beendet worden ist, ist der zulässige Streitgegenstand des im Berufungsverfahren allein rechtshängig gewesenen Fortsetzungsstreits erschöpft. Das Sozialgericht hat den Rechtsstreit fortzuführen; die Rechtshängigkeit des Ausgangsverfahrens war zu keinem Zeitpunkt entfallen, weil eine Erledigung nicht eingetreten ist (dazu LSG Nordrhein-Westfalen vom 23.3.2018 - L 21 R 955/16, juris Rn. 37 mit zahlr. Nachw.). Daher hat das Sozialgericht von Amts wegen über das dort durchgehend anhängig gebliebene Verfahren noch in der Sache zu entscheiden.

3. Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung des Sozialgerichts im Ausgangsverfahren vorbehalten, weil der Fortsetzungsstreit ein Zwischenstreit ist (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen vom 19.5.2017 - L 17 U 315/16, juris Rn. 22; LSG Berlin-Brandenburg vom 15.3.2017 - L 18 AS 2584/16, juris Rn. 19; Sächsisches LSG vom 28.2.2013 - L 7 AS 523/09, juris Rn. 30).

4. Gründe, im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, lagen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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