S 4 U 743/18

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Reutlingen (BWB)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 4 U 743/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
BK 2106, BK 2113, Latenzzeit, Erkrankungsbeginn, Einwirkungsdauer
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 23.05.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.03.2018 verurteilt, beim Kläger die Berufskrankheiten 2106 und 2113 anzuerkennen. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers sind von der Beklagten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Anerkennung der Berufskrankheiten (BKen) nach Nr. 2106 und Nr. 2113 der Anl. 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV; nachfolgend: BK 2106 bzw. BK 2113: Druckschädigung der Nerven bzw. Druckschädigung des Nervus medianus im Carpaltunnel - Carpaltunnel-Syndrom - durch repetitive manuelle Tätigkeiten mit Beugung und Streckung der Handgelenke, durch erhöhten Kraftaufwand der Hände oder durch Hand-Arm-Schwingungen).

Der im Jahr 1973 geborene Kläger war von August 1990 bis zum Eintritt dauerhafter Arbeitsunfähigkeit im März 2016 bei verschiedenen Unternehmen als Maurer tätig.

Der Kläger leidet jeweils beidseitig an einem Sulcus-Ulnaris-Syndrom bzw. Kubitaltunnelsyndrom und einem Carpaltunnelsyndrom. Seit Juli 2015 erfolgten wegen der damit einhergehenden Beschwerden an Händen, Ellbogen und Handgelenken ärztliche Behandlungen und operative Eingriffe. Zum Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens der Beschwerden teilte der Kläger im Juli 2015 mit, diese hätten "seit Jahren" zugenommen (Bl. 47 VA). Später gab er einen Beschwerdebeginn ca. im Jahr 2014 an (Bl. 13, 123 VA).

Die beruflichen Tätigkeiten waren sowohl im Hinblick auf das Sulcus-Ulnaris-Syndrom bzw. Kubitaltunnelsyndrom als auch auf das Carpaltaltunnelsyndrom mit gefährdenden Einwirkungen verbunden (Stellungnahme des Präventionsdienstes der Beklagten vom November 2016 Bl. 86 VA).

Der leitende Oberarzt der Orthopädie in den Fachkliniken Dr. C ging in seinem Gutachten vom März 2017 (Bl. 123 VA) davon aus, dass die Erkrankungen des Klägers mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit beruflich verursacht seien. Dem widersprach der beratende Arzt der Beklagten Dr. D (Bl. 155 VA), der zwar das Vorliegen von Krankheitsbildern im Sinne der beiden streitgegenständlichen BKen bestätigte, den aus seiner Sicht erforderlichen zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Beginn der beruflichen Belastung und dem Auftreten der Erkrankungen indes verneinte. Hierzu verwies er auf das Merkblatt zur BK 2106 (Bek. des BMA vom 01.10.2002, BArbBl. 11/2002, S. 62) und auf die wissenschaftliche Begründung zur BK 2113 (auszugweise Zitate hieraus in der Handlungsanleitung "Carpaltunnel-Syndrom" der DGUV vom Juni 2016) und ging davon aus, dass darin ein Auftreten beider Erkrankungen in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Beginn der gefährdenden Tätigkeit gefordert werde. Dieser enge zeitliche Zusammenhang sei angesichts der im Jahr 1990 aufgenommenen Maurertätigkeit und der erst ab dem Jahr 2015 dokumentierten Erkrankungen nicht gegeben.

Gestützt auf die Auffassung von Dr. D lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 23.05.2017 die Anerkennung der BKen 2106 und 2113 ab. Im Widerspruchsverfahren trug der behandelnde Orthopäde des Klägers Dr. E vor, das Fehlen kurzer Expositionszeiten sei kein Ausschlusskriterium. Auch wenn Beschwerden später auftreten, könne ein Kausalzusammenhang bestehen (Bl. 169 VA). Die Beklagte folgte dieser Begründung nicht und wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 15.03.2018 zurück.

Deswegen hat der Kläger am 23.03.2018 beim Sozialgericht Reutlingen Klage erhoben und vorgetragen, jahrzehntelang mit Stampfern, Hiltis und Presslufthämmern gearbeitet zu haben, was zu seinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen geführt habe. Die ab Mai 2011 ausgeübte Tätigkeit sei in besonderem Umfang mit gefährdenden Einwirkungen verbunden gewesen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 23.05.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.03.2018 zu verurteilen, beim Kläger die BKen 2106 und 2113 anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hält an der getroffenen Entscheidung fest und verweist auf die ergänzende Stellungnahme ihres Präventionsdienstes (Bl. 22 Gerichtsakte), wonach die die seit Mai 2011 vom Kläger verrichtete Tätigkeit gegenüber den früheren Tätigkeiten nur mit einer 5%-igen Erhöhung von Pflasterarbeiten und einer Handhabung von Verdichtungsgeräten verbunden gewesen sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie auf die Gerichtsakte, welche Gegenstand der mündlichen Verhandlung geworden sind, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht beim sachlich und örtlich zuständigen Sozialgericht Reutlingen erhobene Klage ist zulässig. Statthafte Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Klage hat auch in der Sache Erfolg. Beim Kläger liegen die BKen 2106 und 2113 vor. Der Beklagte ist unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide zu deren Anerkennung zu verurteilen.

BKen sind nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung oder mit Zustimmung des Bundesrates als solche bezeichnet und die Versicherte in Folge einer den Versicherungsschutz nach den § 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung Krankheiten als BKen zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind (§ 9 Abs. 1 Satz 2 erster Halbsatz SGB VII). Hierzu zählen nach Nr. 2106 der Anlage 1 zur BKV Druckschädigungen der Nerven und nach Nr. 2113 nach näherer Maßgabe das Carpaltunnelsyndrom.

Für die Anerkennung einer Erkrankung als BK 2106 müssen folgende Tatbestandsmerkmale gegeben sein: Bei dem oder der Versicherten muss eine Druckschädigung eines Nervs vorliegen, die durch die berufliche Belastung versursacht wurde.

Für die Anerkennung Erkrankung als BK 2113 muss ein Carpaltunnelsyndrom vorliegen, das durch eine berufliche Belastung in Form von repetitiven manuellen Tätigkeiten mit Beugung und Streckung der Handgelenke, in Form eines erhöhten Kraftaufwands der Hände oder in Form von Hand-Arm-Schwingungen verursacht wurde.

Dabei müssen die anspruchsbegründenden Tatsachen, nämlich die versicherte Tätigkeit, die schädigende Einwirkung und die als Folge geltend gemachte Gesundheitsstörung - hier also die Druckschädigung der Nerven und das Carpaltunnelsyndrom - erwiesen sein, d. h. bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können (vgl. u. a. BSG, Urteil vom 30.04.1985, 2 RU 43/84 in juris). Hingegen genügt hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung (haftungsbegründende Kausalität) sowie der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung (haftungsausfüllende Kausalität) eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (vgl. BSG, Urteil vom 30.04.1985, a.a.O.). Das bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung aller wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalls mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang sprechen muss, wobei dieser nicht schon dann wahrscheinlich ist, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist (vgl. BSG, Urteil vom 02.11.1999, B 2 U 47/98 R Urteil vom 02.05.2001, B 2 U 16/00 R beide in juris).

Nach diesen Maßstäben liegen beim Kläger die BKen 2106 und 2113 vor.

Der Kläger leidet an einer beidseitigen Druckschädigung der Nerven in Form eines Sulcus-Ulnaris-Syndroms bzw. Kubitaltunnelsyndroms. Beide Krankheitsbilder werden im Merkblatt zur BK 2106 ausdrücklich als für diese BK typisch genannt. Ferner leidet der Kläger an einem beidseitigen Carpaltunnelsyndrom und damit an dem namensgebenden Krankheitsbild der BK 2113. Dementsprechend haben auch Dr. C und - insoweit übereinstimmend - Dr. D zum Ausdruck gebracht, dass beim Kläger Erkrankungen im Sinne der beiden streitgegenständlichen BKen vorliegen.

Die Kammer ist davon überzeugt, dass das Sulcus-Ulnaris-Syndrom bzw. Kubitaltunnelsyndrom und das Carpaltunnelsyndrom wahrscheinlich durch die beruflichen Belastungen des Klägers während seinen versicherten Tätigkeiten als Maurer verursacht wurde. Die dahingehenden Ausführungen von Dr. C und Dr. E sind überzeugend.

Während seiner beruflichen Tätigkeit als Maurer war der Kläger gefährdenden Druckeinwirkungen auf die beidseitigen Ulnarisnerven ausgesetzt. Der Präventionsdienst der Beklagten legte unter Bezugnahme auf die im Merkblatt zur BK 2106 typisierend beschriebenen einschlägigen Einwirkungen dar, dass der Kläger bei Stemm- und Verdichtungsarbeiten starken, abrupten und repetitiven Flexions- und Extensionswechseln im Ellbogengelenk sowie einem dauerhaften Andruck eines Werkzeugs in einer Gelenkstellung ausgesetzt war. Ferner verrichtete der Kläger sich ständig wiederholende, gleichartige Körperbewegungen mit mechanischen Überlastungen beim Mauern sowie beim Verlegen von Rand- und Pflastersteinen. Schließlich musste er bei Verbundsteinarbeiten häufig mit hohem Kraftaufwand zugreifen.

Die Berufstätigkeit des Klägers beinhaltete zudem in gefährdendem Ausmaß repetitive manuelle Tätigkeiten mit Beugung und Streckung der Handgelenke sowie Hand-Arm-Schwingungen i.S. der BK 2113. Auch dies entnimmt die Kammer den Ausführungen des Präventionsdienstes der Beklagten.

Neben diesen beruflichen Belastungen sind keine anderen Ursachen für die hier streitgegenständlichen Erkrankungen ersichtlich. Dies entnimmt die Kammer dem Gutachten von Dr. C. Er schloss relevante Erkrankungen oder Funktionsstörungen des Klägers konstitutioneller Art bzw. aus dem Formenkreis des entzündlichen Rheumatismus, Stoffwechselstörungen oder richtungsweisende degenerative Einschränkungen der Halswirbelsäule bzw. des peripheren Gelenkbereichs der oberen Extremitäten aus. Als mögliche, jedoch eher niederschwellige neurotoxische Begleitstörung stellte er nur einen langjährigen Nikotinabusus des Klägers fest. Allerdings war sich Dr. C sicher, dass dieser Abusus nicht einmal im Ansatz mit der Relevanz der biomechanisch berufsbedingten Belastung gleichzusetzen ist.

Damit liegt hinsichtlich der BK 2106 eine eindeutige Beziehung der Lokalisation des vormals beruflich einwirkenden Drucks und dem klinischen Befund an den Ellenbogen vor. Das Schadensbild ist mithin belastungskonform und es fehlen Anhaltspunkte für eine alternative äußere oder innere Verursachung. Dies spricht für eine wahrscheinlich berufliche Verursachung (vgl. BSG, Urteil vom 17.12.2015, B 2 U 11/14 R in juris Leitsätze Nr. 1 und 3). Für die BK 2113 gilt Entsprechendes.

Die Auffassung von Dr. D, ein beruflicher Zusammenhang der Erkrankungen des Klägers sei unwahrscheinlich, weil sie erst Jahrzehnte nach der Aufnahme der beruflichen Tätigkeiten in Erscheinung traten, überzeugt die Kammer nicht. Die Kammer versteht die von Dr. D herangezogenen Formulierungen aus dem Merkblatt zur BK 2106 und aus der wissenschaftlichen Begründung zur BK 2113 anders als Dr. D und sieht sich in ihrer Auffassung durch die Entscheidung des Bundessozialgerichts zur BK 2106 im Urteil vom 17.12.2005 (s. eben) und durch die Ausführungen von Dr. E bestärkt.

Zur Überzeugung der Kammer setzen die BKen 2106 und 2113 nicht voraus, dass die maßgeblichen Erkrankungen innerhalb einer kurzen Latenzzeit von ca. 12 Monaten nach Aufnahme der gefährdenden Tätigkeit auftraten. Vielmehr kommt die Anerkennung der BKen 2106 und 2113 auch dann in Betracht, wenn die Erkrankungen erst nach langjähriger - auch jahrzehntelanger - beruflicher Tätigkeit in Erscheinung treten.

Die Kammer stützt sich dabei ausdrücklich auf das Merkblatt zur BK 2106 und auf die wissenschaftliche Begründung zur BK 2113.

Im Merkblatt zur BK 2106 werden unter I. Berufsgruppen genannt, für die Hinweise auf vermehrt auftretende Druckschädigung der Nerven vorliegen. Aufgezählt werden Berufsmusiker, Schleifer, Metzger, Lebensmittelhändler, Beschäftigte in der Tiefkühlkostherstellung, Supermarktkassiererinnen und Bodenreiniger. Ergänzt wird diese Liste durch Berufssportler, beispielsweise Radfahrer, Golfer, Kegler und Reiter. Schon diese Aufzählung zeigt, dass der Verordnungsgeber bei der BK 2106 nicht davon ausging, dass Druckschädigungen der Nerven aufgrund beruflicher Expositionen regelmäßig frühzeitig auftreten. Dagegen spricht, dass Berufsmusiker und Berufssportler bereits vor Aufnahme ihrer Berufstätigkeit in aller Regel ähnlichen Belastungen bei ihrem noch nicht berufsmäßigen Musizieren oder Sportreiben ausgesetzt waren. Da sich die nicht-berufliche Vorlaufzeit bei Musikern und Sportlern regelmäßig über viele Jahre erstreckt, käme bei diesen Berufsgruppen unter Zugrundelegung der Auffassung von Dr. E die Anerkennung der BK 2106 fast nie in Betracht. Mit den Beschäftigten in der Tiefkühlkostherstellung und Supermarktkassiererin werden im Merkblatt Berufsgruppen benannt, bei denen die einzelnen beruflichen Handlungen nicht mit übermäßiger Kraftanstrengung verbunden sind. Auch dies spricht dafür, dass vom Verordnungsgeber das Auftreten von Erkrankungen nach einer langjährigen monoton leichten bis mittelschweren Belastung in den Blick genommen wurde.

Dementsprechend kann dem Merkblatt gerade keine Regelung entnommen werden, dass die Erkrankung zeitnah zum Beginn der beruflichen Tätigkeit, z.B. spätestens nach zwölf Monaten, auftreten muss, um einen wahrscheinlichen beruflichen Zusammenhang annehmen zu können.

Seine gegenteilige Auffassung stützt Dr. E auf die im Merkblatt unter III. enthaltene Formulierungen:

"Bei Druckschädigungen von Nerven werden typischerweise schon in frühen Stadien anamnestische Angaben über "Kribbeln, pelziges Gefühl, Ameisenlaufen, eingeschlafener Körperteil etc." oder "allgemeines Ermüdungsgefühl" gemacht. Ebenfalls schon früh werden Schmerzen im Versorgungsgebiet des Nerven angegeben".

Entgegen der Auffassung von Dr. D ist hier mit "frühen Stadien" aber nicht der Beginn der beruflichen Tätigkeit gemeint, sondern der Beginn der Erkrankung, d.h. der Druckschädigung des Nerven. So war es auch beim Kläger, der vor der ersten Inanspruchnahme einer fachärztlichen Behandlung im Juli 2015 schon für ca. zwei Jahre zunehmende Beschwerden an Händen, Ellbogen und Handgelenken bemerkte.

Damit steht der im Verhältnis zur Aufnahme der Tätigkeit als Maurer sehr späte Beginn der Erkrankung der Anerkennung der BK 2106 nicht im Weg.

Der aufgetretene Streit, ob sich die letzte berufliche Tätigkeit hinsichtlich der konkreten gefährdenden Belastungen maßgeblich von den vorangegangenen Tätigkeiten unterschied, ist damit nicht streitentscheidend.

So wie beim Kläger lag auch in dem Sachverhalt, über den das Bundessozialgericht am 17.12.2015 (s.o.) zur BK 2106 entschied, der Beginn der maßgeblichen Tätigkeit Jahrzehnte vor dem Auftreten der Erkrankung. Der vor dem Bundessozialgericht klagende Obstbauer übte belastende Tätigkeiten ab dem Jahr 1970 aus, die maßgebliche Erkrankung war erst ab dem Jahr 1997 dokumentiert. Das Bundessozialgericht sah in dieser langen Latenzzeit offensichtlich keinen Grund dafür, die Annahme der BK 2106 für ausgeschlossen zu erachten. Ansonsten hätte es sich nicht umfassend mit der in diesem Verfahren streitigen Beziehung zwischen der Lokalisation des einwirkenden Drucks und dem klinisch-neurologischen Befund befasst.

Für die BK 2113 gilt hinsichtlich des zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Beginn der belastenden Tätigkeit und dem Auftreten der Erkrankung letztlich das Gleiche. Auch bei dieser BK lässt sich entgegen der Auffassung von Dr. D aus der wissenschaftlichen Begründung der BK 2113 (s.o.) keine Voraussetzung herleiten, dass das Carpaltunnelyndrom bereits zwölf Monate nach Beginn der gefährdenden Tätigkeit auftreten muss.

Die maßgeblichen Formulierungen der wissenschaftlichen Begründung, auf die sich Dr. D bezieht, sind in der Handlungsanleitung "Carpaltunnel-Syndrom" der DGUV unter 3.1 dargestellt. Danach wird in der wissenschaftlichen Begründung festgestellt, dass hinsichtlich dem zeitlichen Verlauf uneinheitliche Angaben aus wissenschaftlichen Studien vorliegen. Überwiegend aber würden kurze Expositionszeiten als ausreichend beschrieben.

Aus diesen Formulierungen lässt sich keine Voraussetzung einer kurzen Expositionszeit entnehmen. Vielmehr wird nur dargestellt, dass sich in den wissenschaftlichen Studien kein einheitlicher Maßstab für den zeitlichen Verlauf finden lässt. Die meisten Studien halten kurze Expositionszeiten für ausreichend, d.h. es gab auch Studien die eine lange Exposition für die Annahme eines beruflichen Zusammenhangs für nötig erachteten. Letzteren folgte die wissenschaftliche Begründung nicht. Eine Festlegung auf eine kurze Exposition erfolgte indes nicht - sie wird nur als "ausreichend" beschrieben, d.h. lange Expositionen machen erst Recht einen beruflichen Zusammenhang wahrscheinlich.

Soweit weiter ausgeführt wird, ein Kausalzusammenhang sei plausibel, wenn der Erkrankungsbeginn in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Exposition steht, ist daraus nur zu schließen, dass keine Lücke zwischen der Exposition und dem Erkrankungsbeginn liegen soll - was beim Kläger auch nicht der Fall war. Im Übrigen wird ein länger als ein Jahr zurückliegende Beginn der nicht unterbrochenen Ausübung einer belastenden Tätigkeit gerade nicht ausgeschlossen. Eine länger zurückliegende belastende Tätigkeit wird in der wissenschaftlichen Begründung lediglich dann nicht für ursächlich angesehen, wenn zwischenzeitlich keine tätigkeitsbedingte Exposition bestand - also eine Lücke zwischen der beruflichen Tätigkeit und dem Auftreten der Erkrankung vorlag. Nur hinsichtlich einer solchen Lücke werden zwölf Monate als Orientierungswert angegeben. Das heißt, tritt ein Carpaltunnelsyndrom erst über zwölf Monate nach der Beendigung der beruflichen Tätigkeit auf, ist ein beruflicher Zusammenhang eher unwahrscheinlich. Wobei selbst diese Lücke lt. der wissenschaftlichen Begründung nicht als endgültiges "Abschneidekriterium" verstanden werden darf. Aus den Formulierungen der wissenschaftlichen Begründung lässt sich mithin gerade nicht schließen, dass ein Carpaltunnelsyndrom, dass erst nach jahrzehntelanger Tätigkeit auftritt, nicht als wahrscheinlich beruflich bedingt angesehen werden darf.
Rechtskraft
Aus
Saved