S 13 U 23/12

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Wiesbaden (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
13
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 13 U 23/12
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 9 U 153/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 39/18 B
Datum
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Feststellung weiterer Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls. Insbesondere streiten die Beteiligten darüber, ob bei dem Kläger eine Heilentgleisung im Sinne eines Morbus Sudeck eingetreten ist.

Der 1952 geborene Kläger erlitt am 10.08.2009 einen Arbeitsunfall, als er mit einer Leiter umkippte und sich hierbei u. a. eine Steißbeinfraktur sowie eine Ellenbogenprellung links und einen unverschobenen Bruch der linken Speiche zuzog, die konservativ behandelt wurde. Zwar nahm der Kläger nach Abschluss der Heilbehandlung und Belastungserprobung seine Tätigkeit als Heizungsinstallateur am 16.11.2009 wieder auf, unterbrach aber nach seinen Angaben in den folgenden Monaten die Arbeitstätigkeit mehrfach aufgrund von Schmerzen im linken Arm durch Urlaub, Ausgleich früher geleisteter Überstunden, Feiertage sowie Krankschreibungen.

Am 03.11.2010 begab sich der Kläger wegen ausstrahlender Schmerzen und eines Taubheitsgefühls im linken Arm erneut in die Behandlung des Durchgangsarztes Dr. C., Chefarzt der Abteilung für Orthopädie und Unfallchirurgie am Kreiskrankenhaus Weilburg, der eine Untersuchung bei Prof. Dr. D., Chefarzt der Neurologischen Klinik Weilmünster, veranlasste. Arbeitsunfähigkeit wurde dem Kläger, wie der Verletztengeldabrechnung der AOK Hessen vom 07.02.2011 zu entnehmen ist, ab 28.10.2010 bescheinigt. Nach dem Bericht von Prof. Dr. D. vom 08.11.2010 kam als Ursache der Schmerzsymptomatik eine cervikogene Ursache oder ein Morbus Sudeck in Betracht. Vom 11. bis 19.11.2010 erfolgte eine stationäre Behandlung in der vitos-Klinik für Neurologie Weilmünster, wo u. a. eine 3-Phasen-Skelettszintigraphie einen Befund ergab, der gut vereinbar sei mit einem Morbus Sudeck, was zur Angabe der Diagnosen "Sympathische Reflexdystrophie im Stadium III links nach distaler Radiusfraktur 08/2009, Bandscheibenprotrusion HWK 6/7" führte. Nach einer Vorstellung des Klägers in der Schmerzsprechstunde der BG-Unfallklinik Frankfurt am Main am 07.01.2011 vertraten die Dres. E. und F. die Ansicht, vom klinischen Befund her zeige der Kläger keinen Hinweis auf einen Morbus Sudeck, die Skelettszintigraphie vom 17.11.2010 sei als Untersuchung unspezifisch. In Übersteinstimmung mit dem Unfallchirurgen Oberarzt Dr. G. handele es sich bei der Beschwerdesymptomatik höchstwahrscheinlich um eine Folge der Bandscheibenprotrusion an der Halswirbelsäule.

Daraufhin teilte die Beklagte dem den Kläger behandelnden Arzt Dr. C. mit Schreiben vom 16.03.2011 mit, das berufsgenossenschaftliche Heilverfahren werde abgebrochen, weil die Vorstellung in der BG-Unfallklinik Frankfurt am Main ergeben habe, dass die derzeitige Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit nicht mit dem Unfall vom 10.08.2009 in Zusammenhang stehe. Diese Entscheidung wurde dem Kläger ebenfalls unter dem Datum des 16.03.2011 bekannt gegeben. Hiergegen legte der Kläger mit einem bei der Beklagten am 22.03.2011 eingegangenen Schreiben Widerspruch ein.

Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens holte die Beklagte zunächst ein handchirurgisches Gutachten bei Prof. Dr. H., Zentrum für Chirurgie des Universitätsklinikums Gießen und Marburg, ein. In diesem Gutachten vom 29.04.2011 kamen Prof. Dr. H. und der Oberarzt Dr. J. auf der Grundlage der Diagnosekriterien des CRPS (Complex regional pain syndrome) gemäß Konsensus 2003 in Budapest wegen der Angabe bewegungseinschränkender Schmerzen, der Angabe einer Schwellung der linken Hand und Schweißzunahme zu der Beurteilung, dass bei dem Kläger ein CRPS Typ 1 (Morbus Sudeck) vorliege, und schlugen einschlägige Therapiemaßnahmen vor.

Dr. K. äußerte als Beratungsarzt der Beklagten in seiner Stellungnahme vom 15.06.2011 Zweifel an der gestellten Diagnose, weil die o. g. Diagnoserichtlinien auch einen anamnestischen Teil beinhalteten und ein Teil der im Gutachten bejahten Diagnosekriterien (Temperaturasymmetrien oder Asymmetrie der Hautfarbe und Ödeme oder Asymmetrien des lokalen Schwitzens) bis zur Untersuchung für dieses Gutachten noch nicht dokumentiert seien und aus psychiatrischer Sicht auch eine somatoforme Schmerzstörung als Differenzialdiagnose zum CRPS in Betracht komme.

Auf Vorschlag von Dr. K. holte die Beklagte sodann ein Gutachten von Prof. Dr. L., Leiter der Neurologischen Klinik am Medizinischen Zentrum für Neurologie und Neurochirurgie des Universitätsklinikums Gießen und Marburg, Standort Gießen, ein. In diesem Gutachten von 07.11.2011 kamen Prof. Dr. L. sowie die Dres. M. und N. in ihrer Beurteilung zum Ausschluss eines CRPS und diagnostizierten ein chronisches myofasziales Schmerzsyndrom sowie den Verdacht auf eine somatoforme Störung. Nach den modifzierten Budapester Kriterien von 2010 fehle es an der im 3. Diagnosekriterium erforderlichen Feststellung von mindestens einem Zeichen in zwei oder mehr der dort genannten Kategorien. In der klinischen Untersuchung hätten die anamnestischen Angaben nicht sicher objektiviert werden können, insbesondere hätten eine Hauttemperatur- oder Umfangsdifferenz, eine Veränderung der Hautfarbe oder des Schwitzens und trophische Störungen nicht nachgewiesen werden können. Auch das 4. Diagnosekriterium sei nicht erfüllt, weil das Beschwerdebild durch ein myofasziales Schmerzsyndrom und eine somatoforme Schmerzstörung besser erklärt werden könne.

Nachdem sich Dr. K. als Beratungsarzt dieser Beurteilung angeschlossen hatte, wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 16.03.2011 mit Widerspruchsbescheid vom 20.12.2011, zu dessen vollständigem Inhalt auf Blatt 6 ff. der Gerichtsakte Bezug genommen wird, als unbegründet zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 18.01.2012 Klage zum Sozialgericht Gießen erhoben, das den Rechtsstreit mit Beschluss vom 22.02.2012 an das örtlich zuständige Sozialgericht Wiesbaden verwiesen hat. Zur Begründung seiner Klage hat der Kläger u. a. vorgetragen, er leide unter zahlreichen, von ihm auf den Arbeitsunfall zurückgeführten Symptomen, wie u. a. einem brennenden Gefühl an zwei Ringen um die linke Hand, ein Zittern im Ruhezustand, Schmerzen von der Hand bis in die Schulter ausstrahlend und einer Verdickung und Verfärbung der linken Hand mit klopfenden Schmerzen bei falschem Liegen. Er sieht die Diagnosekriterien eines Morbus Sudeck als erfüllt an. Vor dem Arbeitsunfall habe er eine hundertprozentige Gesundheit gehabt, nun leide er außerdem an Bluthochdruck, Diabetes mellitus, Schwindelerscheinungen und Asthma. Eine Anerkennung nach dem Schwerbehindertenrecht bescheinigt einen Grad der Behinderung von 40 für die Funktionsbeeinträchtigungen Schlaf-Apnoe-Syndrom, DOPD und Funktionsstörung der Wirbelsäule, Schmerzsyndrom (Abhilfebescheid vom 09.09.2011, Blatt 114 Gerichtsakte).

Wie sie bereits im Widerspruchsbescheid vom 20.12.2011 angekündigt hatte, hat die Beklagte nach Klageerhebung den Bescheid vom 15.02.2012 erlassen (Blatt 14 f. Gerichtsakte), mit dem sie dem Kläger nunmehr mitgeteilt hat, die Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit stehe bereits ab 28.10.2010 in keinem ursächlichen Zusammenhang mit dem Unfall von 10.08.2009, sodass Leistungen insoweit abgelehnt würden. Ein Morbus Sudeck sei nicht nachgewiesen worden. Es sei vielmehr von einer somatoformen Schmerzstörung auszugehen, welche eine unfallunabhängige, mutmaßlich persönlichkeitsbedingte Ursache habe.

Der Kläger trägt weiter vor, er leide seit geraumer Zeit an Depressionen, und hat hierüber einen Entlassungsbericht des Vitos-Klinikums Weilmünster vom 26.01.2015 über eine stationäre Behandlung vom 28.10.2014 bis zum 02.12.2014 vorgelegt (Blatt 204 ff. Gerichtsakte).

Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 16.03.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.12.2011 und des Bescheides vom 15.02.2012 abzuändern und festzustellen, dass unfallbedingte Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit des Klägers über den 27.10.2010 hinaus bestanden hat und besteht.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf die aktenkundigen Feststellungen und den Inhalt der Unfallakte. Durch das vom Gericht eingeholte Gutachten sieht sie sich in ihrer Entscheidung bestätigt.

Das Gericht hat von Amts wegen ein Sachverständigengutachten eingeholt bei Dr. med. O., Arzt für Orthopädie und Ärztlicher Direktor der Orthopädischen Klinik Braunfels. Dieser kommt in seinem Gutachten vom 04.07.2013, zu dessen vollständigem Inhalt auf Blatt 153 ff. der Gerichtsakte Bezug genommen wird, nach einer klinischen und röntgenologischen Untersuchung des Klägers mit ausführlicher Exploration vom 26.06.2013 zu folgenden Diagnosen: 1. Es besteht eine aktive und passive Schulterbewegungseinschränkung links. Die Bewegungseinschränkungen gehen mit intolerablen Schmerzen im Bereich des gesamten linken Armes einher. Radiologisch leichte Schultereckgelenksarthrose links. 2. Zustand nach Radiusfraktur mit aktiver Bewegungseinschränkung. 3. Chronifiziertes myofasciales Schmerzsyndrom. 4. Zustand nach Steißbeinfraktur (SWK V). 5. Osteochondrose C5/C6 und C 6/C7. Von einem chronisch regionalen Schmerzsyndrom sei nicht auszugehen, weil sich weder eine Temperaturdifferenz, noch eine Asymmetrie der Hautfarbe im Bereich der oberen Extremitäten haben nachweisen lassen. Der vom Kläger beklagte dauerhafte Schmerz im Bereich des gesamten linken Armes stehe in keinerlei Beziehung zu den auslösenden Faktoren während der Untersuchung, also der Palpation und Funktionsuntersuchung. Es bestehe auch kein vermehrtes Schwitzen und es werde auch keine Umfangsvermehrung im Sinne von Ödemen reproduziert. Auch zeige sich kein vermehrtes Nagel- oder verändertes Haarwachstum. Die Veränderungen an der Halswirbelsäule seien eindeutig degenerativer Natur. Zusammenfassend sei aus orthopädischer Sicht die Gebrauchsunfähigkeit des linken Armes nicht zu erklären, sodass eine weiterführende psychosomatische Begutachtung empfohlen werde.

Zum Sach- und Streitstand im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Unfallakten der Beklagten, der jeweils auszugsweise Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig, insbesondere ist sie innerhalb der einmonatigen Klagefrist des § 87 Abs. 1 und 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bei dem Sozialgericht Gießen eingegangen. Der Bescheid vom 15.02.2012 ist nach § 96 SGG Gegenstand des Rechtsstreits geworden.

Die Klage ist jedoch in der Sache nicht begründet. Die Beklagte hat mit den angefochtenen Bescheiden zu Recht festgestellt, dass Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 10.08.2009 über den 27.10.2010 hinaus nicht bestanden hat.

Rechtsgrundlage dieser Entscheidung sind die §§ 26, 27 ff. und 45 ff. in Verbindung mit §§ 8 Abs. 1 und 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VII, wonach Beschäftigte wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls u. a. Anspruch auf Heilbehandlung und – bei unfallbedingter Arbeitsunfähigkeit – auf Verletztengeld haben. Bei dieser Entscheidung folgt die Kammer der ausführlichen Begründung der Bescheide vom 16.03.2011 und vom 15.02.2012 sowie des Widerspruchsbescheides vom 20.12.2011 und sieht daher insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 136 Abs. 3 SGG).

Zu ergänzen ist zunächst, dass die Feststellung gesundheitlicher Folgen eines Arbeitsunfalls voraussetzt, dass die als Unfallfolge geltend gemachten Gesundheitsstörungen objektiv vorliegen, also bewiesen sind, und dass sie mit der zwar ausreichenden, aber auch erforderlichen Wahrscheinlichkeit wesentlich ursächlich auf den Unfall bzw. die dabei aufgetretenen Gesundheitserstschäden zurückzuführen sind. Es muss dabei mehr für als gegen den ursächlichen Zusammenhang sprechen.

Zu ergänzend ist ferner, dass das vom Gericht von Amts wegen eingeholte Gutachten von Dr. O. für das Gericht keine Veranlassung gegeben hat, die in den angefochtenen Bescheiden getroffenen Feststellungen in Zweifel zu ziehen. Der Sachverständige hat in Übereinstimmung insbesondere mit dem Gutachten auf neurologischem Fachgebiet von Prof. Dr. L. das Vorliegen eines Morbus Sudeck nicht feststellen können, weil die hierfür erforderlichen Diagnosekriterien zwar zum Teil, nicht aber im notwendigen Umfang nach den überarbeiteten Konsensuskriterien 2010 erfüllt gewesen sind. Er hat ausdrücklich ausgeführt, dass die vom Kläger angegebenen Schmerzen auch aus orthopädischer Sicht nicht zu erklären seien, und hat daher ein myofasciales Schmerzsyndrom mit somatoformer Schmerzstörung angenommen.

Da die Kammer für einen Unfallzusammenhang dieser zuletzt genannten Diagnosen keinen Anhaltspunkt gesehen hat, hat sie die Einholung des von Dr. O. angeregten weiteren Sachverständigengutachtens auf psychosomatischem Fachgebiet für die hier relevante Fragestellung fortbestehender unfallbedingter Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit nicht für erforderlich gehalten.

Abschließend ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass bezüglich der vom Kläger vorgetragenen weiteren körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen kein Anhaltspunkt für einen Unfallzusammenhang zu erkennen ist, sodass auch insoweit keine weiteren Sachermittlungen erforderlich gewesen sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG
Rechtskraft
Aus
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