L 6 KN 23/98

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 7 KN 154/97
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 6 KN 23/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 13. Februar 1998 sowie der Bescheid der Beklagten vom 26.09.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.03.1997 aufgehoben.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der am ... geborene Kläger war nach seiner Ausbildung zum Schmied zunächst als Nieter und Schweißer im Stahlbau ... tätig, von 1960 bis 1962 leistete er seinen Dienst bei der Nationalen Volksarmee (NVA). Im Anschluss daran war er als Grubenschlosser im Steinkohlenwerk ... bzw. als Seilschmied im Steinkohlenwerk ... tätig. Anfang des Jahres 1973 nahm er auch an einem Qualifizierungslehrgang für Seilfahrtingenieure teil. Zum 01.01.1975 wurde der Kläger invalidisiert (Bescheid des FDGB-Kreisvorstandes ... vom 04.04.1975). Grundlage war eine chronische rezidivierende Enzephalitis. Während seiner Arbeit in den Steinkohlewerken war er Lärm zwischen 85 und 98 dB(A) ausgesetzt. Nach seiner Invalidisierung arbeitete er noch bis 1986 als Kompressorenwart im Backwarenkombinat ... als Betriebsschlosser (BK 43) mit einer täglichen Arbeitszeit von 4 1/2 Stunden. Auch während dieser Zeit war der Kläger, mit einer Belastung zwischen 93 und 96 dB(A), lärmexponiert.

Die Invalidenrente aus der Sozialversicherung der DDR wurde mit Bescheid der Beklagten vom 29.11.1991 als Rente wegen Erwerbsunfähigkeit umgewertet und angepasst. Der dagegen erhobene Widerspruch des Klägers, den er auf die Rentenhöhe und die Anzahl der aufgeführten Versicherungsjahre beschränkte, wurde von der Beklagten nicht formell beschieden. Es entspann sich ein Schriftwechsel, welcher zunächst mit einem Schreiben der Beklagten vom 12.06.1992 endete; in diesem Schreiben wurden noch einmal ausdrücklich einige Einzelheiten des Umwertungsbescheides erläutert und im Übrigen die Auffassung vertreten, dass man die Angelegenheit als erledigt betrachte, falls man nichts mehr von dem Kläger höre. Der monatliche Zahlbetrag machte zum 01.01.1992 1.355,04 DM aus und änderte sich durch die jeweiligen Anpassungen zuletzt zum 01.01.1996 auf den Betrag von 2.026,41 DM. Bereits Ende 1990 war ein Berufskrankheitenverfahren eingeleitet worden, wobei die Lärmdosis-Analyse ergab, dass während der Tätigkeit als Betriebsschlosser und Nachtpförtner ab Januar 1987 überhaupt kein, und während der Zeit als Kompressorenwart ein sehr geringes Risiko für die Ausbildung einer Lärmschwerhörigkeit bestanden habe. Der mit der Stellung eines medizinischen Fachgutachtens beauftragte Dr ... bejahte eine Lärmschwerhörigkeit mit einem Grad des Körperschadens von 30 (Gutachten vom 22.12.1990). Als Beginn der Berufskrankheit wurde der Juni 1990 festgesetzt. Der Bewilligungsbescheid erging dann allerdings erst am 22.04.1992 auf die Intervention eines Mitgliedes des Bundestages hin. In dem Bewilligungsbescheid wurde mitgeteilt, dass die Rente bis zum 31.12.1991 nur in Höhe von 50 v. H. gezahlt werde, weil gleichzeitig der Anspruch auf eine höhere, nicht gleichartige Rente bestehe (§ 50 Abs. 3 Renten-VO). Ab dem 01.01.1992 entfalle die Kürzungsvorschrift des § 50 Renten-VO.

Ob in dem Bescheid der Beklagten vom 29.11.1991 sich ein Hinweis auf die ab dem 01.01.1992 geltende Anrechnungsvorschriften befand, lässt sich den Akten nicht entnehmen, da von diesem Bescheid nur Blatt 1 zu den Akten genommen wurde. Jedenfalls teilte der Kläger auf Anfrage der Beklagten im Oktober 1993 den Bezug der Unfallrente mit. Die Beklagte kündigte daraufhin mit Schreiben vom 10.06.1994 die Anwendung von Anrechnungsvorschriften an und gab dem Kläger somit die Gelegenheit, sich hierzu zu äußern. Ein förmliches Anhörungsschreiben wurde am 14.08.1996 ausgefertigt. Der Kläger wies mit Schreiben vom 02.09.1996 darauf hin, dass er keine Tatsachen verschwiegen habe; im Übrigen könne auch ein rechtswidrig begünstigender Verwaltungsakt nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Er habe auf die Richtigkeit des Umwertungsbescheides und der Folgebescheide vertraut.

Mit Bescheid vom 26.09.1996 berechnete die Beklagte daraufhin die Erwerbsunfähigkeitsrente komplett neu. Für die Zeit ab dem 01.01.1992 machte sie aber mit manuell ausgefertigten Begleitschreiben deutlich, dass die maschinell errechnete Überzahlung von 15.923,70 DM nicht geltend gemacht werde und die Bewilligung nur mit Wirkung für die Zukunft, also ab dem 01.10.1996 zurückgenommen werde. Der dagegen erhobene Widerspruch wurde mit Bescheid vom 07.03.1997 als unbegründet zurückgewiesen: Die Rücknahme des Umwertungsbescheides mit Wirkung für die Zukunft sei nicht zu beanstanden. Die Versichertengemeinschaft sei vor finanziellen Verlusten zu schützen. Das öffentliche Interesse am Schutz der Versichertengemeinschaft genieße Vorrang gegenüber den Interessen Einzelner.

Diese Auffassung bestätigte im Wesentlichen das angerufene Sozialgericht Chemnitz mit Urteil vom 13.02.1998. Nach Auffassung des SG muss die Unfallrente angerechnet werden, da sich der Versicherungsfall Berufskrankheit bereits vor der Invalidisierung, also bereits im Jahre 1974 ereignet habe.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers. Er weist daraufhin, dass gem. § 93 Abs. 5 Satz 2 SGB VI im Zusammenhang mit den Anrechnungsvorschriften als Zeitpunkt des Versicherungsfalls bei Berufskrankheiten der letzte Tag der Exposition gelte. Er sei vor seiner Invalidisierung am 01.01.1975 nicht lärmschwerhörig gewesen.

Er beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 13.02.1998 sowie den Bescheid vom 26.09.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.03.1997 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 13.02.1998 zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass die Lärmschwerhörigkeit nur auf die bis 1974 ausgeübte Unter-Tage-Tätigkeit zurückzuführen sei. Schließlich habe bereits im Jahr 1978 ein Hörverlust von 18,9 % rechts und 44,5 % links vorgelegen.

Dem Senat liegen neben den Gerichtsakten beider Instanzen die Verwaltungsakten der Beklagten und die BK-Akten der Bauberufsgenossenschaft Bayern und Sachsen (Aktz. B 77, 90, 115, 254) vor.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist auch begründet, denn die Beklagte durfte keine Anrechnung nach § 93 SGB VI vornehmen. Nach § 93 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 SGB VI werden nämlich die Absätze 1 bis 4 dieser Vorschrift nicht angewendet, wenn die Rente aus der Unfallversicherung für einen Versicherungsfall geleistet wird, der sich nach Rentenbeginn oder nach Eintritt der für die Rente maßgebenden Minderung der Erwerbsfähigkeit ereignet hat. Als Zeitpunkt des Versicherungsfalls gilt bei Berufskrankheiten der letzte Tag, an dem der Versicherte Tätigkeiten verrichtet hat, die ihrer Art nach geeignet waren, die Berufskrankheit zu verursachen (§ 93 Abs. 5 Satz 2 SGB VI). Renten aus der Unfallversicherung für Arbeitsunfälle, die sich nach dem Beginn einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung oder bei einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit gemäß §§ 43 bis 45 SGB VI nach dem Eintritt der BU, EU oder der verminderten Berufsfähigkeit im Bergbau ereignet haben, führen nicht zur Kürzung der Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 93 Abs. 1 SGB VI, sie bleiben bei der Ermittlung der Freibeträge gemäß § 93 Abs. 2 SGB VI außer Betracht, sie bestimmen nicht den Grenzbetrag gemäß § 93 Abs. 3 SGB VI und führen auch nicht über § 93 Abs. 4 SGB VI zur Kürzung gemäß Abs. 1. Tritt der Versicherungsfall vor einem der in § 93 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 SGB VI genannten Zeitpunkte ein, wird der Versicherte durch die Unfallrente finanziell so weit gefördert, dass er einem nicht verletzten Arbeitnehmer in etwa gleichkommt und gegebenenfalls neben einer versicherungspflichtigen Beschäftigung eine zusätzliche Zukunftsvorsorge aufbauen kann. Tritt der Versicherungsfall jedoch nach den in § 93 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 genannten Zeitpunkten ein, ist es gerechtfertigt, dem Versicherten den Ertrag zu belassen, der ihm aus einer neben dem Rentenbezug ausgeübten Tätigkeit zufließt und durch eine hierfür gewährte Unfallrente in etwa ersetzt wird (BSG SozR 2200 § 1278 Nr. 12, KassKomm Gürtner Rn. 44 zu § 93 SGB VI).

Nach dem Gutachten des Dr ... von Dezember 1990 ist der Versicherungsfall im Juni 1990 eingetreten. Was allerdings genau unter dem Eintritt des Versicherungsfalles bei einer Berufskrankheit zu verstehen ist, ist nicht nur bei der Anwendung von DDR-Recht im Einzelnen umstritten, sondern auch oft in tatsächlicher Hinsicht kaum noch aufzuklären. § 93 Abs. 5 Satz 2 formuliert daher eine Legaldefinition, die freilich nur im Zusammenhang mit der Anrechnung von der Verletztenrente gilt.

Der letzte Tag der Exposition war bei dem Kläger der 31.12.1986. Mit einer Lärmbelastung von durchschnittlich 94 dB(A) lag diese Zeit als Kompressorenwart deutlich im hörschädigenden Bereich. Nach VDI 2058 B. 2 besteht die Gefahr des Entstehens von Gehörschäden bei Lärmeinwirkungen mit Beurteilungspegeln ab 85 dB (A). Der Umstand, dass der Kläger dieser Lärmbelastung täglich jeweils nur 4 1/2 Stunden ausgesetzt war, spielt dabei keine Rolle. Auf einem - medizinisch ohnehin kaum zu bestimmenden - "Verursachungsanteil" kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Hierauf scheint aber die Beklagte abzustellen, wenn sie ihren Antrag darauf stützt, dass die Lärmschwerhörigkeit auf die bis 1974 ausgeübte Unter-Tage-Tätigkeit wahrscheinlich zurückzuführen sei. Dies mag durchaus so sein, im Rahmen des § 93 Abs. 5 Satz 2 kommt es allerdings allein darauf an, ob die versicherte Tätigkeit ihrer Art nach geeignet war, die Berufskrankheit zu verursachen. Es geht also um die abstrakte Schadensgeneigtheit. Diese ist auch für die Tätigkeit des Klägers als Kompressorenwart zu bejahren, denn die Lärmbelastung lag über 85 dB(A). Freilich ist der schädigende Einfluss von Lärm geringer, wenn die tägliche Einwirkung kürzer ist. So erbrachte eine von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz in Auftrag gegebene Studie, dass bei Industriearbeitern der Hörverlust stärker von der Dauer der Lärmtätigkeit als vom Lärmpegel abhängt (Irion, Rossner, Lazarus, Entwicklung des Hörverlustes in Abhängigkeit von Lärm, Alter und anderen Einflüssen, Forschungsbericht 370 der BA für Arbeitsschutz, Dortmund 1983). Allerdings entspricht beispielsweise ein Dauerschallpegel von 96 dB (A) für 2 Stunden einem Pegel von 90 dB (A) für die Dauer von 8 Stunden. Die Schädlichkeit steigt also gewissermaßen exponentiell (vgl. Plath, Lärmschäden des Gehörs und ihre Begutachtung, Hannover 1991, S. 62). Vor diesem Hintergrund ist der Tätigkeit als Kompressorenwart mit Lärm bis zu 96 dB (A) die abstrakte Gefährlichkeit keineswegs abzusprechen.

Damit gilt der Versicherungsfall Berufskrankheit als am 31.12.1986, mithin nach der Invalidisierung eingetreten. Ob im Jahre 1978 bereits ein relevanter Hörschaden bestanden hat, kann also ebenso offen bleiben wie die Frage, auf welches Datum vom medizinischen Standpunkt her der "Beginn der Berufskrankheit" festzusetzen gewesen wäre.

Rentenbeginn war der 01.01.1975. Die Umwertung berührt den Rentenbeginn nicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, die Entscheidung über die Nichtzulassung der Revision auf § 160 Abs. 2 SGG.
Rechtskraft
Aus
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