L 4 RJ 112/01

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 7 RJ 254/00
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 4 RJ 112/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 21. Februar 2001 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt von der Beklagten eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Die am ... geborene Klägerin absolvierte nach einer achtjährigen Schulausbildung eine Lehre zur Fachverkäuferin bei der Konsumgenossenschaft in H ... vom 1.9.1965 bis 31.12.1968 und war dort anschließend bis zum 13.9.1969 in diesem Beruf tätig. Bis zum 4.2.1976 arbeitete sie sodann als Verkäuferin in einer Drogerie in W ... und bei der Konsumgenossenschaft in D ... Als Sachbearbeiterin wurde die Klägerin beschäftigt bis April 1982, anschließend war sie als Aufschlägerin tätig bis zum 30.6.1992. Vom 1.7.1992 an bezog sie zunächst Arbeitslosengeld, ab dem 29.12.1993 Arbeitslosenhilfe. Am 1.12.1994 nahm sie eine Arbeit als Fischverkäuferin auf, die sie bis zum 30.11.1995 ausübte. Die Klägerin ist Mutter zweier Kinder (geb. am 29.3.1970 und 6.5.1972).

Am 26.4.1994 beantragte die Klägerin bei der Beklagten eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Sie meinte, sie könne wegen ihrer Rückenschmerzen, unter denen sie seit 1974 leide, keinerlei Arbeiten mehr verrichten. Des Weiteren habe sie zwei Unterleibsoperationen sowie eine Operation am Fuß durchmachen müssen. Die Beklagte zog folgende medizinische Unterlagen bei:

- Befundbericht Dipl.-Med. Z ... vom 21.7.1994. Danach bestand bei der Klägerin eine HWS-Streckhaltung mit hochgradiger Osteochondrose lumbosacral sowie eine Coxarthrose beidseits (rechts stärker als links), die im Vergleich zu 1992 nicht wesentlich fortgeschritten sei. Die Ärztin zweifelte, dass ein Rentenverfahren erfolgreich verlaufen könnte, - Befundbericht des Städt. Klinikums "S ... G ..." L ... vom 1.12.1992. Danach war die Bandscheibe L5/S1 erheblich degenerativ verändert; es wurde der Verdacht einer leichten Bandscheibenprotrusion geäußert, - Befundbericht Dr. M ... vom 21.6.1994. Der Arzt stellte eine Vergrößerung der Schilddrüse sowie ein autonomes Adenom im Bereich des linken Schilddrüsenlappens fest.

Die Beklagte ließ die Klägerin sodann durch ihren Gutachterdienst ärztlich begutachten am 24.1.1995. Es wurden folgende Gesundheitsstörungen diagnostiziert:

- Lumbalsyndrom bei hochgradiger Osteochondrose lumbosacral,
- Coxarthrose rechts stärker als links,
- Struma nodosa (=knotig),
- Arterielle Hypertonie Stad. I WHO,
- Hypercholesterienämie.

Die Klägerin könne nur noch leichte Tätigkeiten in wechselnder Arbeitshaltung halb- bis unter vollschichtig ausüben. Als Verkäuferin, Beschlägerin und Küchenhilfe sei sie nicht voll leistungsfähig. Der Ärztliche Dienst der Beklagten empfahl, der Klägerin Leistungen zur medizinischen Rehabilitation anzubieten, die die Klägerin allerdings am 28.4.1995 "aus privaten Gründen" ablehnte.

Daraufhin lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab mit Bescheid vom 9.1.1996. Diese sei weder erwerbs- noch berufsunfähig und zudem auch nicht invalide. Eine weitere Begründung erfolgte nicht. Auf den dagegen von der Klägerin eingelegten Widerspruch vom 25.1.1996 bewilligte die Beklagte ihr eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1.6.1996 bis 31.12.1997. Die Klägerin nahm daraufhin ihren Widerspruch im Übrigen zurück am 10.4.1996. Auf ihren Antrag vom 23.9.1997 bewilligte die Beklagte diese Rente darüber hinaus bis zum 31.12.1999 (Bescheid vom 6.1.1998). Dieser Entscheidung hatten die Befundberichte der Hausärztin der Klägerin und Dipl.-Med. Z ... vom 4.12.1997 und 27.11.1997 zugrunde gelegen. Danach hätten sich die Hüftbeschwerden der Klägerin derart verschlechtert, dass die Versorgung mit einem künstlichen Gelenk erforderlich sei. Dies geschah schließlich im April 1998 (rechts).

Am 13.10.1999 beantragte die Klägerin die Weitergewährung der Rente über das Jahr 1999 hinaus. Sie fügte den Bescheid des Amtes für Familie und Soziales, Leipzig, vom 17.2.1999 bei, der einen Grad der Behinderung von 30 bescheinigte. Die daraufhin eingeholten Befundberichte der Hausärztin ergaben die bereits bekannten Gesundheitsstörungen. Die Beklagte veranlasste sodann eine erneute Begutachtung durch ihren Ärztlichen Dienst am 23.12.1999. Diese ergab folgende Diagnosen:

- rechtsseitiger Hüftgelenksverschleiß mit Einbringung einer zementfreien Hüft-TEP 1998, funktionell gutes Ergebnis ohne Bewegungseinschränkung,
- verschleiß- und haltungsbedingte Beschwerden der HWS und LWS (Osteochondrose L5/S1), keine neurologische Beteiligung,
- arterielle Hypertonie,
- Übergewicht,
- Struma nodosa mit grenzwertiger Überfunktion.

Insgesamt könne die Klägerin leichte Tätigkeiten vollschichtig in wechselnder Arbeitshaltung bewältigen, wobei sie längeres Sitzen, Gehen oder Stehen und das Gehen auf unebenen Böden sowie häufiges Bücken vermeiden müsse.

Die Beklagte lehnte daraufhin den Antrag der Klägerin ab mit Bescheid vom 27.1.2000. Die bewilligte Rente könne nicht über den 31.12.1999 hinaus gezahlt werden, da die Klägerin weder erwerbs- noch berufsunfähig sei. Mit den vorhandenen Gesundheitsstörungen könne sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig leichte Arbeit verrichten.

Den dagegen von der Klägerin eingelegten Widerspruch wies die Beklagte zurück mit Widerspruchsbescheid vom 4.4.2000. Aufgrund ihrer Erkrankungen könne die Klägerin zwar nur noch zweistündig bis unter halbschichtig als Küchenhilfe tätig sein; sie sei jedoch seit dem 1.1.2000 dazu in der Lage, leichte Arbeit vollschichtig in wechselnder Arbeitshaltung zu verrichten. Die Aufnahme einer anderen Tätigkeit sei der Klägerin zuzumuten. Als angelernte Arbeiterin seien ihr alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zuzumuten, die ihrem Leistungsvermögen entsprächen.

Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer am 4.5.2000 vor dem Sozialgericht Leipzig (SG) erhobenen Klage. Aufgrund ihres unverändert schlechten Gesundheitszustandes könne sie keiner Arbeit nachgehen.

Das SG zog folgende medizinische Unterlagen bei:

- den Befundbericht der Hausärztin M ... vom 10.6.2000. Sie erwähnte die bereits bekannten Gesundheitsstörungen. Das LWS-Syndrom sowie die Beweglichkeit des linken Hüftgelenks verschlechtere sich zunehmend. Zudem sei die Klägerin depressiv verstimmt, - den Befundbericht von Dr. Z ... vom 9.6.2000. Diese bestätigte die von der Hausärztin erhobenen Befunde und Bewertungen, - das arbeitsamtsärztliche Gutachten von Dipl-Med. Sch ... vom 23.3.2000. Danach kann die Klägerin überwiegend leichte, zeitweise aber auch mittelschwere Arbeit in wechselnder Körperhaltung ausüben, wobei sie Zeitdruck, Nässe, Kälte, Temperaturschwankungen, häufiges Bücken, Heben und Tragen von Lasten sowie Arbeiten mit Absturzgefahr meiden müsse.

Zudem lag dem SG die Akte des Amtes für Familie und Soziales Leipzig vor. Nach der Auskunft des letzten Arbeitgebers der Klägerin war diese mit dem Verkauf und Zubereiten von Fischwaren betraut. Diese Tätigkeit könne auch von ungelernten Arbeitern nach zweiwöchiger Einarbeitungszeit ausgeführt werden. Sie sei ortsüblich bezahlt worden mit 1.600 DM brutto monatlich. Das Beschäftigungsverhältnis sei aus betrieblichen Gründen beendet worden.

Im Auftrag des SG erstattete Prof. G ... ein Gutachten zur Beurteilung des Leistungsvermögens der Klägerin am 21.2.2001. Der Gutachter erläuterte, er gelange zu derselben Einschätzung des Leistungsbildes der Klägerin wie die Beklagte in ihrem Gutachten vom 23.12.1999. Die Klägerin könne leichte Tätigkeiten vollschichtig in wechselnder Arbeitshaltung verrichten und den Weg zur Arbeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln, einem Auto oder einem Fahrrad zurücklegen. Als Kassiererin könne sie nicht beschäftigt werden, weil die Klägerin dabei nach Ansicht des Gutachters den Schulter-Arm-Bereich einseitig belasten würde.

Das SG hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab dem 1.1.2000 eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen und im Übrigen die Klage abgewiesen. Bisheriger Beruf im Sinne des § 43 SGB VI sei ihre zuletzt ausgeübte Facharbeitertätigkeit als Verkäuferin in einem Fischgeschäft, die sie allerdings gesundheitlich nicht mehr ausüben könne. Verweisungsberufe seien weder ersichtlich noch von der Beklagten benannt worden. Insbesondere könne die Klägerin nicht auf die Tätigkeit einer Kassiererin verwiesen werden aufgrund der diesbezüglichen Ausführungen des Gutachters. Sie sei jedoch nicht erwerbsunfähig, da sie leichte Tätigkeiten vollschichtig verrichten könne.

Gegen das ihr am 3.4.2001 zugestellte Urteil hat die Beklagte Berufung zum Sächsischen Landessozialgericht eingelegt am 30.4.2001. Das SG habe nicht geprüft, ob es sich bei der letzten Tätigkeit der Klägerin als Fischverkäuferin tatsächlich um einen spezialisierten Einsatz als Fachverkäuferin oder nicht vielmehr um eine solche als angelernte Arbeiterin des unteren Bereichs gehandelt habe. Zudem habe das SG sich nicht mit in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten auseinandergesetzt.

Selbst wenn man davon ausginge, die Klägerin sei als Facharbeiterin anzusehen, wäre sie nach Auffassung der Beklagten zumutbar auf die Tätigkeit als Kassiererin an einer Sammelkasse oder an einer Bereichs- oder Etagenkasse in Kauf- und Warenhäusern verweisbar. Dabei handele es sich um leichte Arbeiten im Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen, die die Klägerin gesundheitlich ausüben könne. Sie sei daher nicht berufsunfähig.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 21.2.2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 144, 151, 153 I SGG) ist zulässig und begründet.

Das SG hat die Beklagte zu Unrecht zur Zahlung einer Berufsunfähigkeitsrente verurteilt. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine solche Rente, da sie nicht berufsunfähig im Sinne des § 43 II SGB VI in der Fassung bis zum 31.12.2000 (vgl. § 300 II SGB VI) ist.

Ausgangspunkt für die Prüfung der Berufsunfähigkeit ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG ) der "bisherige Beruf", den der Versicherte ausgeübt hat (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 107, 169). Ausgehend von dem in § 43 II SGB VI verankerten Berufsschutz soll demjenigen Versicherten, der aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der bisherigen Weise tätig sein kann, ein zu starkes Absinken im Beruf erspart bleiben (BSG, Urteil vom 30.7.1997 - 5 RJ 8/96; Urteil vom 24.11.1998 - B 13 RJ 95/97 R). Demnach ist die Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit nach der Wertigkeit des bisherigen Berufs zu beurteilen.

Zur Erleichterung dieser Beurteilung hat das BSG die Versicherten in Gruppen eingeteilt. Die Berufsgruppen sind ausgehend von der Bedeutung, der Dauer und dem Umfang der Ausbildung für die Qualität eines Berufes gebildet worden. Entsprechend dem so genannten Mehrstufenschema werden die Arbeiterberufe durch Gruppen mit dem Leitberuf des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw. dem des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), des angelernten Arbeiters (sonstiger Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von bis zu zwei Jahren) und des ungelernten Arbeiters charakterisiert (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 140 m. w. N.).

Allerdings ist nicht allein die Dauer der absolvierten Ausbildung entscheidend. Vielmehr ist die Wertigkeit der verrichteten Arbeit zu betrachten. Es kommt auf das Gesamtbild an, wie es durch die im § 43 II 2 SGB VI genannten Merkmale (Dauer und Umfang der Ausbildung sowie des bisherigen Berufs, besondere Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit) umschrieben wird (BSG SozR 3-2600 § 43 Nr. 15, 17 m. w. N.). Davon ausgehend darf der Versicherte im Vergleich zu seinem bisherigen Beruf grundsätzlich auf die nächstniedrigere Berufsgruppe verwiesen werden (BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr. 5 m. w. N.).

Demnach hat das SG zutreffend für die Klägerin die Tätigkeit als Verkäuferin in einem Fischgeschäft als "bisherigen Beruf" zugrunde gelegt. Diesen kann sie ausweislich der medizinischen Befunde nicht mehr ausüben. Allerdings ist die Klägerin damit nicht berufsunfähig, da sie sich auf eine zumutbare andere Tätigkeit verweisen lassen muss. Dabei kann es dahinstehen, ob die Klägerin im Mehrstufenschema des BSG als Facharbeiterin (so das SG) oder aber als angelernte Arbeiterin (so die Beklagte) anzusehen wäre. Denn jedenfalls könnte die Klägerin auf die Tätigkeit als Kassiererin an einer Sammelkasse verwiesen werden, da diese der einer Kauffrau im Einzelhandel gleichwertig ist (Sächsisches LSG, Urteil vom 28.1.1999 - L 4 RA 18/98 R). Die Verweisung bedeutet keinen Abstieg um mehr als eine Gruppe (Sächsisches LSG, Urteil vom 27.9.2000 - L 4 RA 36/00).

Die Klägerin ist auch objektiv in der Lage, die Arbeit im Verweisungsberuf auszuüben. Als ausgebildete Fachverkäuferin verfügt sie über die Kenntnisse und Fähigkeiten, die der Verweisungsberuf erfordert, denn dazu zählte auch das Kassieren. Darüber hinaus handelt es sich um leichte körperliche Arbeit, wobei die Körperhaltung nach eigenem Belieben gewechselt werden kann; die Arbeit kann sowohl sitzend als auch stehend und in gewissem Umfang auch gehend verrichtet werden.

Entsprechende Arbeitsplätze sind in Kaufhäusern, Schuh- und Textilkaufhäusern in großer Zahl vorhanden (Sächsisches LSG, Urteil vom 28.1.1999 - L 4 RA 18/98 R). Die gesundheitlichen Anforderungen der Verweisungstätigkeit entsprechen damit dem Restleistungsvermögen der Klägerin.

Die Berufung war deshalb erfolgreich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 I SGG, die Nichtzulassung der Revision auf § 160 II SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved