L 5 RJ 98/01

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 15 RJ 976/99
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 5 RJ 98/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 11. Januar 2001 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit.

Die am ... geborene Klägerin erlernte in der Zeit von September 1971 bis Februar 1973 den Beruf einer Kleidungsfacharbeiterin, erwarb am 27. Februar 1973 das entsprechende Facharbeiterzeugnis, war als solche bis Februar 1976 und anschließend bis Juni 1990 in verschiedenen un- und angelernten Tätigkeiten beschäftigt. Für die zuletzt seit März 1986 ausgeübte Beschäftigung als Stanzerin war eine Anlernzeit von zwei Wochen erforderlich. Seitdem ist die Klägerin - unterbrochen durch Zeiten der Kindeserziehung - arbeitslos.

Den am 19. Mai 1999 gestellten Rentenantrag begründete sie mit Wirbelsäulen- und Gelenkschäden seit ca. 1994.

Im Verwaltungsverfahren lagen der Beklagten vor:

- der Befundbericht der Praktischen Ärztin Dipl.-Med. W ... von Mai 1999 sowie - das Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. Sch ... vom 31. August 1999, in welchem wegen eines Cervicalsyndrom und eines rezidivierenden Lumbalsyndrom ein unter halbschichtiges Leistungsvermögen als Stanzerin und ein vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt attestiert wurde

Mit Bescheid vom 16. September 1999 lehnte die Beklagte den Rentenantrag unter Verweis auf ein vollschichtiges Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ab. Den am 08. Oktober 1999 eingegangenen Widerspruch wies die Beklagte mit Bescheid vom 08. November 1999 zurück. Die Klägerin sei nach ihrem beruflichen Werdegang der Berufsgruppe der angelernten Arbeiter zuzuordnen und somit seien ihr alle ungelernten Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zuzumuten. Sie sei in der Lage, vollschichtig leichte körperliche Arbeiten mit wechselnder Arbeitshaltung, ohne häufiges Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten über 10 kg, ohne überwiegend einseitige Körperhaltung, ohne Überkopfarbeiten und ohne Gefährdung durch Zugluft und Nässe zu verrichten.

In der am 03. Dezember 1999 bei dem Sozialgericht Chemnitz erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt und auf einen aktuellen Befundbericht von Dipl.-Med. W ... verwiesen.

Das Sozialgericht hat Befundberichte des Facharztes für Neurologie/Psychiatrie Dipl.-Med. B ... vom 20. März 2000, des Facharztes für Orthopädie/Rheumatologie Dipl.-Med. L ... vom 12. April 2000, der Dipl.-Med. W ... vom 25. April 2000 sowie der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. K ... vom 11. Mai 2000 eingeholt. Des Weiteren hat es das Gutachten des Arbeitsamtes A ... vom 18. September 2000 beigezogen, in welchem ein vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte körperliche Tätigkeiten, überwiegend sitzend, gehend und zeitweise stehend, ohne häufiges schweres Heben und Tragen von Lasten ohne mechanische Hilfsmittel sowie ohne Zwangshaltungen im Wirbelsäulenbereich, Überkopfarbeit, Armvorhalte und Tätigkeiten mit Absturzgefährdung von Leitern und Gerüsten bescheinigt wurde.

Mit Urteil vom 11. Januar 2001 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die Klägerin sei als Stanzerin allenfalls in die Gruppe der angelernten Arbeiter einzuordnen und pauschal auf Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar. Diesbezüglich bestehe ein vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte Arbeiten unter Berücksichtigung der im Gutachten des Arbeitsamtes A ... festgestellten Einschränkungen.

Die Klägerin macht mit der hiergegen am 17. April 2001 fristgemäß bei dem Sächsischen Landessozialgericht eingelegten Berufung geltend, das Gutachten des Arbeitsamtes werde in vollem Umfang angezweifelt und sie sehe sich nicht in der Lage, einer vollschichtigen Tätigkeit nachzugehen.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 11. Januar 2001 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16. September 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08. November 1999 zu verurteilen, der Klägerin eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit ab Mai 1999 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf die ihrer Auffassung nach zutreffenden Ausführungen im erstinstanzlichen Urteil.

Der Senat hat die Befundberichte der Dipl.-Med. K ... vom 23. Juli 2001 und der Dipl.-Med. W ... vom 23. Juli 2001 eingeholt.

Der Senat hat die Beteiligten mit Schreiben vom 14. August 2001 darauf hingewiesen, dass eine Entscheidung des Rechtsstreits nach § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss beabsichtigt ist und Gelegenheit zur Stellungnahme gewährt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten aus beiden Rechtszügen und auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten, einschließlich Gutachtenheft, Bezug genommen und verwiesen.

II.

Der Senat kann gemäß § 153 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 3 SGG) und ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter (§ 12 Abs. 1 Satz 2, § 33 Satz 2 SGG) entscheiden, weil er einstimmig die Berufung für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten wurden vorher gehört (§ 153 Abs. 4 Satz 2 SGG) und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

Die Berufung ist unbegründet.

Zu Recht hat das Sozialgericht Chemnitz (SG) die Klage abgewiesen, weil der Klägerin ein Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht zusteht.

Die Klägerin ist weder berufs- noch erwerbsunfähig (§§ 43 Abs. 2, Satz 1 44 Abs. 2 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VI - in der bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Fassung [a.F.]).

Berufsunfähigkeit im Sinne des § 43 Abs. 2 SGB VI a.F. liegt nicht vor, da die Erwerbsfähigkeit der Klägerin wegen Krankheit oder Behinderung noch nicht auf weniger als die Hälfte derjenigen einer körperlich, geistig oder seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist.

Die Beurteilung, wie weit die Erwerbsfähigkeit einer Versicherten gesunken ist, wird danach getroffen, welchen Verdienst sie in einer Tätigkeit erzielen kann, auf die sie nach ihrem Gesundheitszustand und nach ihrem bisherigen Beruf zumutbar verwiesen werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 28. Februar 1963 - 12 RJ 24/58 - SozR Nr. 24 zu § 1246 RVO -). Für die Beurteilung, wie weit die Erwerbsfähigkeit einer Versicherten gesunken ist, kommt es auf den bisherigen Beruf an (vgl. BSG in SozR 2200 § 1246 RVO Nr. 107 und 169). In der Regel ist dies die letzte versicherungspflichtige Tätigkeit oder Beschäftigung, die vollwertig und nachhaltig verrichtet worden ist (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nrn. 130, 164).

Letzte Beschäftigung in diesem Sinne ist die Tätigkeit als Stanzerin. Diese hat die Klägerin vollwertig, bewusst und gewollt von März 1986 bis Juni 1990 zur dauerhaften Einkommenserzielung ausgeübt.

Den Beruf als Stanzerin kann die Klägerin nicht mehr vollwertig verrichten. Hiervon geht auch die Beklagte aus. Die mit dieser Tätigkeit verbundenen mittelschweren körperlichen Arbeiten sind mit den orthopädischen Leiden der Klägerin nicht mehr vereinbar.

Dennoch liegt Berufsunfähigkeit nicht vor. Die Klägerin ist zumutbar auf andere Tätigkeiten verweisbar, bei welchen sie mehr als die Hälfte des Verdienstes einer gesunden Vergleichsperson erzielen kann.

Zur Bestimmung, auf welche Tätigkeiten eine leistungsgeminderte Versicherte zumutbar verwiesen werden kann, hat das Bundessozialgericht ein Mehr-Stufen-Schema entwickelt und die Arbeiterberufe in Gruppen eingeteilt. Es gibt die Gruppe der Facharbeiterberufe, der Anlerntätigkeiten und der ungelernten Tätigkeiten (vgl. BSG, Urteil vom 17. Juli 1972 - 5 RJ 105/72 - SozR Nr. 103 zu § 1246 RVO). Später hat das Bundessozialgericht zu diesen drei Gruppen noch eine weitere Gruppe der "Facharbeiter mit Vorgesetztenfunktion" hinzugefügt (vgl. BSG, Urteil vom 30. März 1977 - 5 RJ 98/76 - BSGE 43, 243), zu welcher auch "besonders hoch qualifizierte Facharbeiter" gehören (vgl. BSG, Urteil vom 19. Januar 1978 - 4 RJ 81/77 - BSGE 45, 276). Die vielschichtige und inhomogene Gruppe der angelernten Arbeiter gliedert sich in einen oberen und in einen unteren Bereich (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 109, 132, 143). Dem unteren Bereich unterfallen alle Tätigkeiten mit einer regelmäßigen (auch betrieblichen) Ausbildungs- oder Anlernzeit von drei bis zwölf Monaten und dem oberen Bereich dementsprechend Tätigkeiten mit einer Ausbildungs- oder Anlernzeit von über zwölf Monaten bis zu vierundzwanzig Monaten (vgl. BSG SozR 3-2200 § 1246 RVO Nr. 45). Jeder Versicherte kann auf Tätigkeiten zumutbar verwiesen werden, die eine Stufe tiefer einzuordnen sind, als es dem bisherigen Beruf entspricht. Ein Facharbeiter kann daher auf Anlerntätigkeiten, ein angelernter Arbeiter im oberen Bereich auf angelernte und ein solcher im unteren Bereich auf ungelernte Tätigkeiten verwiesen werden (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 RVO Nr. 143 m.w.N.).

In Übereinstimmung mit der sozialgerichtlichen Entscheidung ist die Klägerin allenfalls der Gruppe mit dem Leitberuf des angelernten Arbeiters im unteren Bereich zuzuordnen. Dies ergibt sich aus den eigenen Darstellungen der Klägerin im Verwaltungsverfahren, wonach zur Verrichtung der Tätigkeit als Stanzerin lediglich eine Anlernzeit von zwei Wochen erforderlich gewesen ist. Insofern ist die Klägerin sozial zumutbar auf sämtliche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar, ohne dass diese konkret benannt werden müssten.

Für körperlich leichte Tätigkeiten besteht seit der Rentenantragstellung ein vollschichtiges Leistungsvermögen. Der Senat schließt sich nach Überprüfung den entsprechenden Feststellungen des SG an und nimmt unter Verweisung darauf Bezug (§ 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG-). Die Bekundung der Klägerin, das Gutachten und die Leistungsbeurteilung des Arbeitsamtes A ... vom 18. September 2000 werden angezweifelt, ist nicht objektivierbar. Selbst die die Klägerin langjährig behandelnde Ärztin Dipl.-Med. W ... hat in ihrem Befundbericht vom 23. Juli 2001 eine deutliche Gesundheitsverschlechterung verneint und eine Tätigkeit als Pförtnerin oder Bürohilfskraft für zumutbar erachtet. Weitergehende Gesundheitsverschlechterungen sind von der Klägerin im Berufungsverfahren nicht behauptet worden.

Mit dem vollschichtigen Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist die Klägerin nicht berufsunfähig. Bei einer auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisbaren Versicherten bedarf es nach dem Urteil des Bundessozialgerichtes vom 01. März 1984 (4 RJ 43/83 - SozR 2200 § 1246 RVO Nr. 117) nur dann der konkreten Benennung zumindest einer Verweisungstätigkeit, wenn die Klägerin selbst leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nur noch mit vielfältigen und/oder erheblichen gesundheitlichen Einschränkungen ausführen kann. Dies ist nach den zutreffenden Feststellungen des SG jedoch nicht der Fall. Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine sonstige schwerwiegende Behinderung, die es der Klägerin auch bei vollschichtiger Einsatzfähigkeit unmöglich macht, eine geeignete Erwerbstätigkeit aufzunehmen, sogenannte "Katalogfälle" (vgl. BSG, Urteil vom 25. Juni 1986 - 4 a RJ 55/84 - SozR 2200 § 1246 RVO Nr. 137) liegen nicht vor. Insbesondere ist die Klägerin nicht am Zurücklegen des Arbeitsweges, also des Weges von ihrer Wohnung bis zu einer etwaigen Arbeitsstätte (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 1991 - 13/5 RJ 43/90 - SozR 3-2200 § 1247 RVO Nr. 10), gehindert. Betriebsunübliche Pausen (vgl. BSG, Urteil vom 30. Mai 1984 5a RKn 18/83 SozR 2200 § 1247 RVO Nr. 43) muss sie während der Arbeitszeit nicht einhalten.

Der Umstand, dass es in einer Zeit angespannter Arbeitsmarktlage schwierig ist, einen passenden Arbeitsplatz zu finden, und die Bundesanstalt für Arbeit zu einer derartigen Vermittlung nicht in der Lage ist, ist kein Grund zur Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit. Denn bei vollschichtiger Einsatzmöglichkeit ist der Arbeitsmarkt der gesamten Bundesrepublik Deutschland zu berücksichtigen, und es kommt auf die Zahl der vorhandenen, nicht auf die Zahl der gerade freien Arbeitsplätze an (vgl. BSG, Großer Senat, Beschluss vom 19. Dezember 1996 - GS 2/95 - BSGE 80, 24 -).

Nachdem die Klägerin nicht berufsunfähig im Sinne des § 43 Abs. 2 SGB VI a.F. ist, hat sie erst recht keinen Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach den strengeren Vorschriften des § 44 SGB VI a.F ... Bei einem Leistungsvermögen von mehr als sechs Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sind auch die Voraussetzungen zur Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI (in der Fassung ab dem 01. Januar 2001 BGBl. 2000, Teil I, Seite 1827) nicht erfüllt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen für die Zulassung nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
Saved