L 1 SB 44/01

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
1
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 2 SB 101/00
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 1 SB 44/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Leipzig vom 26.07.2001 aufgehoben. Die Streitsache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.
II. Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des Sozialgerichts vorbehalten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB).

Das Versorgungsamt L ... des beklagten Freistaats hat mit bindend gewordenem Änderungsbescheid vom 01.10.1998 bei dem am ... geborenen Kläger unter Zuerkennung eines GdB von 50 folgende Funktionsbeeinträchtigungen festgestellt:

1. Herzleistungsminderung; Durchblutungsstörung des Herzens; Bluthochdruck.
2. Lungenfunktionsbeeinträchtigung.
3. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule.
4. Psychovegetative Störungen.

Auf den am 20.07.1999 gestellten Erhöhungsantrag, den der Kläger mit Schmerzen im Narbenbereich und mit orthopädischen Beeinträchtigungen begründet hat, hat die Versorgungsverwaltung wie folgt ermittelt: Im Befundbericht vom 02.09.1999 hat die Fachärztin für Orthopädie Dr. R. mitgeteilt, dass beim Kläger eine Bandscheibendegeneration L5/S1 nebst Spondylarthrose mit chronischem L5-Syndrom ohne neurologische Ausfälle bestehe. Die Allgemeinmedizinerin Th. hat unter dem 11.09.1999 berichtet, beim Kläger liege eine extreme Adipositas vor. Die Blutdruckwerte hätten bei 140/90, 130/90 und bei 140/80 gelegen.

Daraufhin hat der Beklagte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 27.10.1999 abgelehnt. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 28.07.2000, zugestellt am 03.08.2000). Der Beklagte hat seiner Entscheidung beigezogene Unterlagen des Kreiskrankenhauses T ... sowie ein versorgungsärztliches Gutachten der Fachärztin Dr. D. zu Grunde gelegt; auf diese Unterlagen wird Bezug genommen (Bl. 156/159, 160/167 Verwaltungsakte [VA]).

Hiergegen hat sich die beim Beklagten am 08.08.2000 erhobene Klage gerichtet, die der Beklagte an das Sozialgericht (SG) weiter geleitet hat.

Das SG hat mit Beweisanordnung vom 28.12.2000 die Einholung eines orthopädischen Gutachtens angeordnet und dazu den Direktor der orthopädischen Klinik, Prof. Dr. S.-S., als Sachverständigen ernannt.

Der Kläger hat die vom Sachverständigen anberaumte Untersuchung unter anderem mit dem Hinweis abgelehnt, er befinde sich am Untersuchungstag noch im Urlaub; auch lehne er die anberaumte Uhrzeit wegen der schlechten Rückkehrmöglichkeit ab; schließlich ersuche er wegen seiner gesundheitlichen Verhältnisse um eine ortsnahe Untersuchung in Bad D ..., T ... oder in H ...

Daraufhin hat das SG die Beweisanordnung mit Beschluss vom 06.02.2001 mit dem Hinweis aufgehoben, der Kläger habe eine Untersuchung beim Sachverständigen abgelehnt. Dieses Schreiben hat das SG den Beteiligten nicht zur Kenntnis gegeben. Mit Schreiben vom selben Tag hat das SG die Beteiligten angehört, dass die Entscheidung durch Gerichtsbescheid erwogen werde. Sodann hat dass SG die Klage durch Gerichtsbescheid vom 26.07.2001 unter anderem mit dem Hinweis abgewiesen, es ergäben sich "insgesamt ... keine Hinweise auf eine zu niedrige Einstufung des GdB".

Gegen den per Einschreiben am 03.08.2001 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 13.08.2001 beim SG eingelegte Berufung, mit der der Kläger sinngemäß eine fehlende Amtsermittlung rügt.

Der im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht anwesende und nicht vertretene Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Leipzig vom 26.07.2001 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 27.10.1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.07.2000 zu verurteilen, bei ihm einen höheren GdB als 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Leipzig vom 26.07.2001 aufzuheben und die Sache an das Sozialgericht nach Maßgabe des § 159 Sozialgerichtsgesetz zurückzuverweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten aus beiden Rechtszügen und auf die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Der Senat konnte in Abwesenheit des ordnungsgemäß geladenen Klägers verhandeln und entscheiden (§ 153 Abs. 1, § 110 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist im Sinne der Zurückverweisung an das SG nach Maßgabe des § 159 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) begründet. Nach dieser Vorschrift kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet (§ 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

Das sozialgerichtliche Gerichtsbescheid leidet an mehreren wesentlichen Verfahrensmängeln.

Das SG hat gegen den Grundsatz der Amtsermittlung (§ 103 SGG) verstoßen, indem es über den Anspruch der Klägerin befunden hat, ohne ein Sachverständigengutachten eingeholt zu haben. Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sind verpflichtet, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 Halbsatz 1 SGG). Dieser Grundsatz gilt im Sozialgerichtsgesetz wegen des öffentlichen Interesses an der Aufklärung des Sachverhalts und der Richtigkeit der Entscheidung. Der Untersuchungsgrundsatz bezieht sich auf den Sachverhalt. Die Gerichte müssen alle Tatsachen ermitteln, die für die Entscheidung in prozessualer und materieller Hinsicht wesentlich und damit entscheidungserheblich sind. Sieht das Gericht davon ab, Sachverständige zu bestellen, so verstößt es gegen § 103 SGG, wenn es eine Tatsachenfrage selbst beurteilt, ohne selbst über besondere eigene Sachkunde zu verfügen (zum Ganzen vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 6.Aufl. 1998, § 103 Rdnr. 1, 3, 4 a und 7 b, jeweils m.w.N.).

Das SG hat schon deshalb gegen die ihm obliegende Verpflichtung zur Amtsermittlung verstoßen, weil es verfahrensfehlerhaft keinerlei Ermittlungen geführt hat. Dabei hat sich das SG aus seiner eigenen rechtlichen Beurteilung ersichtlich zur Amtsermittlung angehalten gesehen. Denn bereits die Beweisanordnung vom 28.12.2000 macht deutlich und belegt, dass das SG die Notwendigkeit der Durchführung von Amtsermittlungen für erforderlich gehalten hat.

Soweit das SG die Durchführung von Ermittlungen wegen - unterstellter - fehlender erforderlicher Mitwirkung des Klägers für aus tatsächlichen Gründen nicht durchführbar gehalten haben mag, worauf das an den Sachverständigen gerichtete, den Beteiligten offensichtlich nicht zur Kenntnis gegebene Schreiben des Vorsitzenden vom 06.02.2001 hindeutet, liegt ebenfalls ein wesentlicher Verfahrensfehler vor. Zwar sind die Beteiligten bei der Ermittlung zur Mitwirkung verpflichtet; insoweit sind die Gerichte im Sachzusammenhang darauf angewiesen, dass die Beteiligten sich im Rahmen der nach § 65 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ergebenden Grenzen auf Verlangen den erforderlichen Untersuchungen unterziehen. Indessen fehlt es hier bereits an einer "Ablehnung" des Klägers schlechthin.

Der Kläger hat die vom Sachverständigen anberaumte Untersuchung zwar abgelehnt. Allerdings lag darin ersichtlich keine Ablehnung einer Untersuchung schlechthin. Vielmehr hat er dem SG mit seinem Schreiben vom 28.01.2001 ausreichend deutlich gemacht, dass er sich zum Untersuchungstermin noch im Urlaub befinde; auch lehne er die anberaumte Uhrzeit wegen der schlechten Rückkehrmöglichkeit ab; schließlich ersuche er wegen seiner gesundheitlichen Verhältnisse um eine ortsnahe Untersuchung. All dies, aber gerade auch der weitere Schriftverkehr, den der Kläger nach Erteilung des Anhörungsschreibens vom 06.02.2001 mit dem SG geführt hat, belegt unzweideutig, dass der Kläger tatsächlich im Verfahren im erforderlichen Umfang durchweg mitgewirkt hat. Bei dieser Sachlage kann offen bleiben, ob gerade im Blick auf das Fehlen eines die Folgen eines Mitwirkungsverstoßes kenntlich machenden Hinweisschreibens seitens des SG gegenüber dem Kläger noch von einem "fairen Verfahren" (dazu vgl. nur BVerfGE 78, 123 [126]) gesprochen werden kann.

Schließlich hat das SG auch überhaupt keine Beweiswürdigung vorgenommen. Zwar enthalten die Gründe der angefochtenen Entscheidung einige Hinweise auf "die Verlaufswerte von Frau Dipl.-med. T." und auf das versorgungsärztliche Gutachten. Prozessualer Maßstab ist indessen, dass das Gericht die möglichen Beweismittel auch ausschöpft. Es darf namentlich nicht davon absehen, Beweismittel heranzuziehen, die zur Verfügung stehen. Es ist hier schon nicht zu ersehen, aus welchen Gründen das SG sich nicht veranlasst gesehen hat, bei den in Betracht kommenden, den Kläger behandelnden Ärzten wenigstens Befundberichte einzuholen. Nicht erkennbar ist auch, aus welchen Gründen das SG nicht die - aus seiner eigenen Sicht - erforderliche orthopädische Begutachtung bei einem anderen Sachverständigen oder wenigstens eine terminliche Abänderung der getroffenen Beweisanordnung beim benannten Sachverständigen in Betracht gezogen hat. Keinesfalls durfte sich das SG dagegen dazu befugt sehen, auf die Mitteilung des Klägers vom 28.01.2001 den Sachverständigen von seinem Amt zu entbinden und von einer weiteren Beweiserhebung völlig abzusehen.

Diese Verfahrensfehler sind wesentlich, da das angefochtene Urteil auf ihnen beruhen kann. Es ist nicht auszuschließen, dass das SG bei einer ordnungsgemäßen Sachverhaltsermittlung und ohne Verstoß gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung anders entschieden hätte. Nicht auszuschließen und insoweit denkbar ist jedenfalls, dass beim Kläger ein höherer GdB als 50 in Betracht kommen kann. Maßgeblich ist für den Senat auch, dass sich das SG mit den vom Kläger im Übrigen geltend gemachten Behinderungen auf nicht-orthopädischem Gebiet überhaupt nicht befasst hat.

Es liegt im Ermessen des Senats, ob er in der Sache selbst entscheidet oder zurückverweisen will. Die Zurückverweisung soll die Ausnahme sein. In Abwägung zwischen den Interessen der Beteiligten an einer Sachentscheidung sowie dem Grundsatz der Prozessökonomie und dem Verlust einer Instanz hält der Senat wegen der noch notwendigen umfangreichen Beweisaufnahme (Sachaufklärung durch Einholung von Befundberichten und/oder eines orthopädischen Gutachtens bzw. evtl. Beiziehung weiterer medizinischer Unterlagen) die Zurückverweisung dringend für geboten.

Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des SG vorbehalten, das auch über die Kosten des Berufungverfahrens zu entscheiden haben wird.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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