L 2 U 116/98

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 4 U 266/97
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 116/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 16.11.1998 wird zurückgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin wegen des Todes ihres Ehemanns gegen die Beklagte Anspruch auf Hinterbliebenenleistungen hat.

Der Ehemann der Klägerin, der am ... geborene K ... G ... (im Folgenden: der Versicherte), verstarb am ... an den Folgen eines metastasierenden Bronchialkarzinoms. Asbestkörperchen konnten im Lungengewebe des Versicherten nicht nachgewiesen werden. Wegen der Einzelheiten wird auf den Autopsiebericht vom 26.8.1995 des Städtischen Klinikums St. G ... in L ... verwiesen (Blatt 30 bis 32 der Beklagtenakte) In einem Arztbrief des Städtischen Klinikums St. G ... in L ... vom 24.9.1995 wurde u.a. ausdrücklich festgehalten, dass keine Anhaltspunkte für eine Asbestose bestünden (Blatt 27 der Beklagtenakte).

Der Versicherte hatte den Beruf des Stuckateurs erlernt und bis 1995 ausgeübt, ab 1968 als Vorarbeiter (Stuckateurbrigadier) und ab 1974 als Stuckateuermeister. Jedenfalls seit den sechziger Jahren bis Ende der achtziger Jahre verarbeitete er im Bereich des Trockenausbaus Asbestprodukte (Sokalit, Neptunit, Wellasbestplatten und Plantafeln). Während dieser Zeit war er entsprechend den damals vorherrschenden Baumaßnahmen in der DDR nicht mit typischen Stuckateuerarbeiten befasst. Der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten errechnete für die Zeit vom 1.1.1960 bis 31.12.1988 eine Asbestexposition von 7,25 Faserjahren (vgl. Blatt 49 f. der Beklagtenakte; siehe ferner die Angaben der L ... A ... GmbH vom 13.11.1995 - Blatt 40 der Beklagtenakte).

Den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Hinterbliebenenleistungen lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 15.10.1997 ab, nachdem sie zuvor neben den schon erwähnten Ermittlungen des TAD und der gewerbeärztlichen Stellungnahme (Blatt 57 der Beklagtenakte) auch eine fachärztliche Stellungnahme bei Dr. F ... eingeholt hatte, der unter dem 13.5.1997 aufgrund der vorliegenden Befunde eine Asbestose ebenfalls verneint hatte (vgl. Blatt 52 der Beklagtenakte). Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus, ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Bronchialkarzinom des Versicherten und seiner beruflichen Tätigkeit habe nicht bestanden. Hinweise auf eine Asbestose lägen nicht vor. Weder seien entsprechende Veränderungen an Lunge und Rippenfell (Pleura) des Versicherten festzustellen gewesen, noch habe eine Asbestexposition von mindestens 25 Faserjahren vorgelegen. Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein, in dem sie ausführte, die noch vom Versicherten im Krankenhaus ausgefüllten Unterlagen seien nicht berücksichtigt worden und auf dem Dienstweg der Beklagten abhanden gekommen. Hieraus dürften ihr keine Nachteile entstehen. Mit Widerspruchsbescheid vom 26.11.1997 wies die Beklagte den Widerspruch zurück, indem sie nochmals präzisierend ausführte, ein Kausalzusammenhang zwischen Asbestexposition und Bronchialkarzinom könne nur unterstellt werden, wenn folgende nur alternativ erforderlichen Brückensymptome vorgelegen hätten: a) Arbeitstechnisch eine Exposition von mindestens 25 Faserjahren oder b) medizinisch eine röntgenologisch festgestellte Lungenasbestose, eine Pleuraasbestose oder eine Minimalasbestose. Keines dieser Brückensymptome habe beim Versicherten festgestellt werden können.

Mit ihrer dagegen vor dem Sozialgericht Leipzig (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Für sie sei nicht nachvollziehbar, warum beim Versicherten lediglich eine berufsbedingte Asbestdosis von 7,25 Faserjahren berücksichtigt worden sei, obwohl der Versicherte fast 40 Jahre lang überwiegend asbesthaltige Materialien verarbeitet habe. Auf die von der Klägerin vorgelegten schriftlichen Angaben des Herrn A ... B ... zur Asbestexposition des Versicherten wird verwiesen (Blatt 28 der SG-Akte).

Mit Urteil vom 16.11.1998 hat das SG die Klage abgewiesen. Auf Blatt 40 der SG-Akte befindet sich eine wohl von der Beklagten stammende handschriftliche Erläuterung zur Berechnung der Faserjahre. Diese ist möglicherweise Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, nach § 214 Abs. 3 SGB VII sei weiterhin das Recht der Reichsversicherungsordnung (RVO) anwendbar. In der Sache komme hier nur ein Anspruch aufgrund einer Berufskrankheit des Versicherten nach Nr. 4104 der Anlage zur Berufskrankheiten- Verordnung (BKV) in der Variante in Betracht, dass der Versicherte eine Asbestexposition von 25 Faserjahren aufzuweisen habe. Es habe keinen Anlass, an der Berechnung des TAD und insbesondere an den Werten zur Höhe und Dauer der Exposition zu zweifeln. Die Faserjahre dürften nicht mit den Arbeitsjahren verwechselt werden.

Mit ihrer Berufung macht die Klägerin u.a. geltend, der Versicherte sei in einem erheblich größeren Umfang als angenommen dem Asbeststaub ausgesetzt gewesen. Sie beruft sich hierbei insbesondere auf eine weitere schriftliche Äußerung von Herrn A ... B ... vom 27.12.1998 (Blatt 15 der LSG- Akte). Außerdem habe ein Dr. B ... nach der Entfernung des rechten Lungenflügels des Versicherten erklärt, es sei Asbest in der Lunge gefunden worden.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Leipzig vom 16.11.1998 und des Bescheides der Beklagten vom 15.10.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.11.1997 die Beklagte zur verurteilen, ihr Hinterbliebenenleistungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Eine Überprüfung der Angaben von Herrn A ... B ... durch den TAD habe ergeben, dass es 1960 noch kein Sokalit in der DDR gegeben habe. Dieses sei erst ab 1970 verarbeitet worden. Nicht zutreffend könne daher die Aussage sein, dass der Versicherte von 1960 bis 1973 ständig Sokalitstaub ausgesetzt gewesen sei. Hinzu komme, dass die Arbeiten eines Stuckateurs sehr vielseitig gewesen seien. Der Umgang mit asbesthaltigem Material habe nur einen kleinen Teil der täglichen Arbeitszeit in Anspruch genommen. Vorrangig seien Elemente aus Calciumsulfat verarbeitet worden. Die Angaben von Herrn A ... B ... seien aus Unkenntnis unrealistisch hoch.

Durch Beweisanordnung vom 7.11.2000 hat der Senat Dr. F ... zum ärztlichen Sachverständigen ernannt und bei ihm ein Gutachten nach Aktenlage in Auftrag gegeben, das u.a. eine umfassende Expositionsanalyse zum Gegenstand haben sollte. Dr. F ... hat mit Schreiben vom 30.11.2000 dazu mitgeteilt, es sei ihm nicht möglich, ein Gutachten unter dieser spezifischen Fragestellung zu erstellen. Durch Beweisanordnung vom 22.1.2001 ist Dr. K ... zum ärztlichen Sachverständigen ernannt und bei ihm ein Gutachten nach Aktenlage in Auftrag gegeben worden. Das Gutachten vom 8.2.2001 ist mit Schreiben des Senats vom 8.3.2001 als in dieser Form nicht verwertbar zurückgewiesen worden, weil die Richtigkeit der zugrunde gelegten Variablen "Expositionshöhe" und "Expositionsanteile" nicht erörtert worden seien und die Faserjahrberechnung im Übrigen nur ein Multiplikationsvorgang sei. Hierauf hat Dr. K ... mit Schreiben vom 19.3.2001 mitgeteilt, dass ihm die Beurteilung der Richtigkeit dieser Variablen nicht möglich sei. Der Rechtsstreit ist unter Hinzuziehung einer Mitarbeiterin des TAD der Beklagten am 26.6.2001 ausführlich erörtert worden. Wegen der Einzelheiten wird auf Blatt 81 f. der LSG-Akte verwiesen.

Entscheidungsgründe:

I.

Der Senat kann durch den Berichterstatter als Einzelrichter (§ 155 Abs. 4 i.V.m. Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz ) ohne mündliche Verhandlung (§ 153 Abs. 1 i.V.m. 124 Abs. 2 SGG) entscheiden, weil sich die Beteiligten in ihren Schreiben vom 21.8.2001 mit dieser Vorgehensweise einverstanden erklärt haben.

II.

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Auf den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch sind noch die Vorschriften der RVO anwendbar, weil der mögliche Versicherungsfall vor dem 1.1.1997 eingetreten ist (§ 212 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch ). Nichts anderes ergibt sich aus der vom SG genannten Vorschrift des § 214 Abs. 3 SGB VII. Diese Vorschrift stellt eine Ausnahme zu dem in § 212 SGB VII aufgestellten Grundsatz dar, dass die Vorschriften des SGB VII erst für Versicherungsfälle ab Inkrafttreten des SGB VII gelten. § 214 Abs. 3 SGB VII betrifft die Konstellation, dass Versicherungs- und Leistungsfall zeitlich differieren. Ist der Versicherungsfall noch unter Geltung der RVO, der Leistungsfall hinsichtlich der in § 214 Abs. 3 SGB VII genannten Leistungsarten jedoch erst nach dem 31.12.1996 eingetreten, sollen allein die entsprechenden Leistungsvorschriften des SGB VII anwendbar sein. Diese Konstellation liegt hier ersichtlich nicht vor.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Hinterbliebenenleistungen nach den §§ 589 ff. RVO.

Es steht nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts fest, dass die von der hier allein in Betracht kommenden Nr. 4104 der Anlage zur BKV (im Folgenden: Nr. 4104 BKV) geforderten Voraussetzungen beim Versicherten vorgelegen haben. Die Nr. 4104 BKV ist systematisch betrachtet ein Unterfall der Nr. 4103 BKV und dient allein dazu, Beweiserleichterungen zu ermöglichen. Nur wenn mindestens eine der dort genannten drei Voraussetzungen (Asbestose, asbestverursachte Pleuraerkrankung, 25 Faserjahre) vorliegt, wird unwiderleglich vermutet, dass ein primärer Lungenkrebs durch Asbestexposition verursacht worden ist.

Weder eine Asbestose (Asbeststaublungenerkrankung) noch eine durch Asbeststaub verursachte Erkrankung der Pleura konnten autoptisch gesichert werden. Eine Asbestose wurde ausgeschlossen. Ein klinisch diagnostiziertes Pleuraempyem (Rippenfellvereiterung) trat erst postoperativ auf. Histologisch wurde eine fibrinöse Pleuritis der linken Pleura pulmonalis und autoptisch eine tumornekrotisch veränderte rechte Pleurahöhle festgestellt. Auch hier konnte kein Hinweis auf ein Asbesteinwirkung gefunden werden. Unterstellt, dass ein Dr. B ... gegenüber der Klägerin oder dem Versicherten gesagt hat, Asbest sei im rechten Lungenflügel gefunden worden, vermag dies die eindeutigen Feststellungen im Autopsiebericht nicht zu erschüttern. Jedenfalls könnte sich das Gericht auf der Grundlage der möglichen Aussage von Dr. B ... keine Überzeugung dahingehend bilden, dass der Versicherte an Asbestose oder an einer asbestverursachten Erkrankung der Pleura gelitten hat. Dafür sind die Befunde der Autopsie zu eindeutig.

Eine Berufskrankheit nach Nr. 4104 BKV kann sich aber auch nicht aus der Anzahl der Faserjahre ergeben. Die 1 Stunde und 45 Minuten dauernde Erörterung des Sachverhalts am 26.6.2001 hat dreierlei deutlich gemacht:

a) Asbest war durchaus eine Mangelware in der DDR, weil der Rohstoff importiert werden musste. Asbest wurde nicht wahllos und beliebig verbaut.

b) Der Trockenbauer verarbeitete nicht ständig Asbest, sondern im Wesentlichen nur dort, wo es galt, Anforderungen des Feuerschutzes zu erfüllen. Hieraus ist abzuleiten, dass der Umfang des eingesetzten Asbestmaterials relativ gering war.

c) Ferner wurde im Erörterungstermin herausgearbeitet - insoweit nicht im Protokoll festgehalten -, dass es keine Mess- oder Erfahrungswerte über die Konzentration der Fasern in der Raumluft beim Trockenausbau unter DDR-Verhältnissen gibt. Insbesondere hilft hier der "Faserjahre-Report" des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften nicht weiter. Die Angaben zur Faserkonzentration bleiben damit weitgehend spekulativ. Der von der Beklagten angesetzte Wert ist eine gegriffene Größe im Sinne einer sachverständigen Schätzung ohne gesicherte empirische Grundlagen.

Es bleibt danach fraglich, wie die Expositionsdauer und die Expositionshöhe einzuschätzen sind. Diese beiden der Berechnung der Faserjahre zugrunde zu legenden Variablen sind im vorliegenden Fall jedenfalls nicht so beschaffen, dass auf Mess- und Erfahrungswerte verzichtet werden kann. Denn eine u.U. relativ kurze, aber massive Exposition des Versicherten gegenüber Asbeststaub kann zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden, ist aber schon nach den bislang vorliegenden Erkenntnissen nicht wahrscheinlich und kann keinesfalls in einem Umfang als sicher unterstellt werden, der 25 Faserjahre erreicht oder gar überschreitet. Die Klägerin trägt aber als Anspruchstellerin nach allgemeinen Grundsätzen die objektive Beweislast dafür, dass der Versicherte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Umfang von 25 Faserjahren Asbeststaub berufsbedingt ausgesetzt war. Dieser Beweismaßstab verlangt, dass sich das Gericht mit einer keine vernünftigen Zweifel aufkommenden Gewissheit von diesem Sachverhalt überzeugen kann. Dies ist aus den bereits genannten Gründen jedoch nicht der Fall.

Eine dem Beweisnotstand der Klägerin Rechnung tragende Modifikation der Beweiswürdigung (vgl. BSG, Urteil vom 27.5.1997 2 RU 38/96 SozR 3-1500 § 128 Nr. 11) ist hier weder geboten noch zulässig. Denn der Beweisnotstand wurde hier nicht von der Beklagten verursacht, sondern ergibt sich aus dem auch dem Verordnungsgeber bekannten Umstand, dass wegen der in der Vergangenheit bestehenden Unkenntnis über die von Asbest ausgehenden Gefahren nunmehr häufig für zum Teil Jahrzehnte zurückliegende Zeiträume keine Messdaten oder zuverlässig schätzbaren Daten vorhanden sind. Der "Faserjahre-Report" verdankt seine Existenz nicht zuletzt dem Bemühen der Berufsgenossenschaften, hier halbwegs sichere Grundlagen zu schaffen, um die Vorgaben des Verordnungsgebers überhaupt umsetzen zu können. Dass sich aus dem Report keine konkreten Erkenntnisse für den Fall der Klägerin ableiten lassen, kann der Beklagten nicht angelastet werden.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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