L 2 U 148/99

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 14 U 98/97
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 148/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 18. August 1999 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass folgende Unfallfolgen festgestellt werden: 1) Funktionsbehinderungen der HWS nach operiertem Bandscheibenvorfall. 2) Multiple Sklerose.
II. Die Beklagte hat dem Kläger auch dessen außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Folgen eines Bandscheibenvorfalles im Bereich der Halswirbelsäule (HWS) sowie eine Multiple Sklerose von der Beklagten als Folgen eines Arbeitsunfalles anerkannt und entschädigt werden müssen.

Der am ... geborene Kläger war am 05.01.1993 in der Zeit zwischen 19.00 Uhr und 19.30 Uhr im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit eines Reparaturklempners (Bl. 9 Unfall-Akte) zusammen mit einem Arbeitskollegen damit beschäftigt, einen Wasserrohrbruch in der Zwischendecke eines Einkaufsmarktes in ... zu beheben (Bl. 247 Unfall-Akte). Dabei rutschte er auf einem der glasig vereisten hölzernen Deckenträger aus und stürzte, wobei er mit dem Rücken quer auf zwei dieser Balken aufschlug (Bl. 85, 89 f. SG-Akte). Das Eingreifen des Kollegen verhinderte ein Durchrutschen zwischen den Trägern und einen Fall aus mehreren Metern Höhe (Bl. 316 Unfall-Akte).

Am 07.01.1993 stellte sich der Kläger bei der FÄ für Allgemeinmedizin Dr. K ... vor und berichtete über Druckschmerzen im Bereich der unteren Brust- und oberen Lendenwirbelsäule sowie Verspannungen der Muskulatur an beiden Schultern (Bl. 54R Unfall-Akte). Der FA für Chirurgie/Durchgangsarzt (D-Arzt) Dr. F ... erhob noch am selben Tag folgenden Befund: "Druckschmerz und Klopfschmerz gesamte WS [Wirbelsäule], keine Ausfälle an den unteren Extremitäten, keine Sensibilitätsstörungen oder Durchblutungsstörungen im Bereich der unteren Extremitäten." Röntgenaufnahmen der BWS und LWS in zwei Ebenen hätten keine sicheren Unfallfolgen gezeigt. Der D-Arzt diagnostizierte eine Rückenprellung (Bl. 2 Unfall-Akte).

Am 18.03.1993 stellte sich der Kläger erneut bei Dr. F ... vor und gab ein "Einschlafen" der linken Hand, vor allem bei Belastung, an. Der D-Arzt fand einen Druckschmerz im Bereich der unteren BWS, deutliche Muskelverspannungen der Muskulatur der rechten Schulter mit Muskelverhärtungen und Sensibilitätsstörungen an den Fingern der linken Hand vor; die grobe Kraft dieser Hand war gegenüber rechts gemindert. Röntgenaufnahmen der HWS zeigten lediglich eine Steilstellung, aber keine (sonstigen) eindeutigen Unfallfolgen und auch keine degenerativen Veränderungen. Dr. F ... äußerte Zweifel hinsichtlich eines Zusammenhanges der nunmehr geltend gemachten Beschwerden mit dem Unfall vom 05.01.1993, da bei der ersten Vorstellung am 07.01.1993 (in erster Linie) Beschwerden im Bereich der BWS und LWS angegeben worden seien, nunmehr aber vor allem solche im Bereich der HWS (Bl. 6, 23 Unfall-Akte).

Im November 1993 wurde der Kläger von der Allgemeinärztin an die FÄ für Orthopädie Dipl.-Med. P ... überwiesen. Diese beschrieb anlässlich der Erstuntersuchung am 08.11.1993 erhebliche Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich der HWS sowie eine Minderung der groben Kraft des rechten Armes (Bl. 76R Unfall-Akte). Sie verordnete eine Reizstrombehandlung (Bl. 54R Unfall-Akte) und überwies den Kläger weiter zum FA für Neurologie/Psychiatrie Dr. H ..., wo sich der Kläger am 04.01.1994 erstmals vorstellte (Bl. 248 Unfall-Akte, 30 SG-Akte). Der Kläger gab an, ab etwa vier Wochen nach dem Unfallereignis vom Frühjahr 1993 habe sein rechter Arm gekribbelt und gezittert, jetzt könne er durch Kopfnicken regelmäßig ein "Elektrisieren" in beiden Armen auslösen. Der Neurologe fand eine Verminderung der groben Kraft im rechten Arm vor, abgesehen davon aber keine sicheren Paresen (Lähmungen), noch konnte er einen sonstigen nervenärztlichen Befund erheben (Bl. 48R Unfall-Akte). Er veranlasste jedoch umgehend die Erstellung eines CT der HWS durch den FA für Radiologie Dr. G ..., das einen "medio-lateralen, nach links gerichteten Bandscheibenprolaps C5/6 [zwischen dem 5. und dem 6. Halswirbel]" sowie eine Vorwölbung der Bandscheibe zwischen dem 6. und dem 7. Halswirbel ergab (zervikales CT C5-D1, 05.01.1994, Bl. 80 Unfall-Akte).

In der Zeit vom 10.02. bis zum 23.02.1994 wurde der Kläger in der Klinik und Poliklinik für Neurochirurgie der ... Universität ... zunächst stationär diagnostisch betreut, da der neurophysiologischen Abteilung im Hause eine "etwas atypische Symptomatik" aufgefallen war (Bl. 40 Unfall-Akte). In der Epikrise vom 23.02.1994 finden sich folgende Angaben zur Vorgeschichte: "Der ansonsten gesunde Patient hatte vor einem Jahr bei der Arbeit einen Sturz auf den Rücken und Hals erlitten. Es war primär nicht zu neurologischen Ausfällen gekommen, eine HWS-Fraktur war durch einen D-Arzt ausgeschlossen worden. Nach ein bis zwei Monaten war es dann zu Paraesthesien und Schmerzen in den Armen links mehr als rechts gekommen. Ca. drei Monate vor Vorstellung bei uns war dann eine Unsicherheit in beiden Beinen aufgetreten, insbesondere beim Treppensteigen. Des Weiteren klagte der Patient über einen heftigen Tremor der Hände, insbesondere bei Anstrengung und in Pension." (Bl. 78 Unfall-Akte). Im Gegensatz dazu werden in handschriftlichen Aufzeichnungen der Abt. Neurophysiologie vom 18.02.1994 unter der Rubrik "Anamnese" die Angaben des Klägers dahingehend wiedergegeben, "seit einem Jahr" bestünden bei ihm eine progrediente (fortschreitende) Gangstörung sowie ein "Zittern" (Bl. 180 Unfall-Akte). Mittels weiterführender Diagnostik in der neurophysiologischen Abteilung in der Zeit vom 23.02. bis zum 01.03.1994 erhärtete sich der Verdacht des Vorliegens einer Enzephalomyelitis disseminata (multiplen Sklerose). In einem internen Zwischenbericht nachgewiesene Bandscheibenvorfall und die Multiple Sklerose überlagerten sich in ihren Auswirkungen (Bl. 191 Unfall-Akte). Im Rahmen eines erneuten stationären Aufenthalts in der neurochirurgischen Abteilung in der Zeit vom 01.03.1994 bis zum 14.03.1994 wurde eine "Verblockungs-Operation mit ventraler Diskektomie nach Smith-Robinson" durchgeführt (Bl. 40 Unfall-Akte) und im Rahmen dieser Operation entnommene Bandscheibensubstanz dem Institut für Neuropathologie zur Auswertung vorgelegt, das "Faserknorpel mit geringen Degenerationszeichen" diagnostizierte (08.03.1994 - Bl. 179 Unfall-Akte).

Die Beklagte holte Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers ein und zog die vollständigen Krankenunterlagen der Universitätsklinik ... sowie ein von den Ärzten dieser Klinik Dr. K ... und Dr. M ..., Klinik und Poliklinik für Neurochirurgie, im Auftrag der Allianz-Versicherungs-AG erstelltes Gutachten vom 17.05.1994 nebst ergänzenden Stellungnahmen vom 03.08.1994 und vom 17.10.1994 bei. Nach deren Auffassung war das Unfallereignis vom 05.01.1993 nach Schwere und Verlauf durchaus geeignet, einen traumatischen Bandscheibenvorfall hervorzurufen. Da die Beschwerdesymptomatik nach diesem Ereignis begonnen habe und keine Anhaltspunkte vorlägen, die auf eine frühere degenerative HWS-Erkrankung schließen ließen, sei der Bandscheibenvorfall als unfallbedingt zu werten (Bl. 217 Unfall-Akte). Im Falle einer so komplizierten Erkrankung wie einer Enzephalomyelitis disseminata seien sie als Neurochirurgen allerdings hinsichtlich der Zusammenhangsbeurteilung überfragt (Bl. 239 Unfall-Akte).

Die Beklagte hörte daraufhin Dr. B ..., Chefarzt der neurologischen Klinik des Klinikums ... GmbH, als Sachverständigen. Diesem gegenüber gab der Kläger an, er habe bereits unmittelbar nach dem Sturz Schmerzen im Bereich der gesamten Wirbelsäule verspürt, jedoch weitergearbeitet und sei auch an den folgenden Tagen trotz Schmerzen am Arbeitsplatz erschienen, da er erst seit zwei Tagen bei der neuen Firma angestellt gewesen sei und Angst gehabt habe, durch einen sofortigen Ausfall gleich wieder entlassen zu werden. In der Folgezeit auftretende Störungen der feinmotorischen und koordinativen Funktionen der Arme und Hände habe er auf einen Schock wegen des Unfalls zurückgeführt (Bl. 247 f. Unfall-Akte). Dr. B ... gelangte zu der Schlussfolgerung, es sei ausreichend gutachtlich zu begründen, dass die Multiple Sklerose als solche bei dem Kläger zwar bereits angelegt gewesen sei, das Trauma aber eindeutig für das erstmalige Auftreten eines Schubes dieser Erkrankung anzuschuldigen sei. Die MdE sei aktuell mit 70 v. H. einzuschätzen (Bl. 252 f. Unfall-Akte).

Die Beklagte zog daraufhin die Unterlagen der Landesversicherungsanstalt Sachsen bei. Unter diesen befand sich ein neurologisches Gutachten von Dr. H ... vom 11.09.1994. Darin wurde die Einschätzung getroffen, der Kläger habe am 05.01.1993 ein Stauchungstrauma der Wirbelsäule erlitten, das zu einem Bandscheibenvorfall zwischen dem 5. und dem 6. Halswirbel geführt habe. Außerdem sei davon auszugehen, dass der Unfall einen Schub einer vorher latent oder subklinisch bestehenden Multiplen Sklerose ausgelöst habe. Die MdE betrage insoweit 50 v. H. (Bl. 275 Unfall-Akte).

Der Meister des Klägers, Herr G ..., der den Unfall vom 05.01.1993 selbst beobachtet hatte, teilte auf Befragung der Beklagten mit, der Kläger habe unmittelbar nach dem Unfall über Schmerzen und ein Taubheitsgefühl sowie starkes Zittern der Arme und Beine geklagt (Bl. 278 Unfall-Akte).

Das Amt für Familie und Soziales ... stellte mit Bescheid vom 25.01.1996 einen Grad der Behinderung von 70 fest und erkannte dem Kläger das Merkzeichen "G" zu (Bl. 314 Unfall-Akte).

Die Beklagte zog ein im Auftrag der Allianz-Versicherungs-AG erstelltes Gutachten des FA für Neurologie und Psychiatrie Dr. N ..., Neurologische Universitätsklinik ..., vom 06.02.1996 bei. Dieser vertrat die Auffassung, der Unfallmechanismus, bei dem das Körpergewicht des Klägers punktuell beim Aufprall des Nackens auf einen relativ schmalen Träger habe abgefangen werden müssen, lasse den Schluss zu, dass der Vorfall der Bandscheibe traumatisch bedingt gewesen sei. Dafür spreche außerdem die Tatsache, dass Beschwerden in den Fingern bis dahin nicht bestanden, sich jedoch innerhalb von Tagen nach diesem Ereignis eingestellt hätten. Hinsichtlich der Multiplen Sklerose sei bei nicht ausreichender wisssenschaftlicher Datenlage eine sichere Beantwortung der Ursachenfrage nicht möglich. Nach den ihm vorliegenden Literaturangaben sei es zwar wahrscheinlicher, dass ein Trauma nicht ursächlich eine Multiple Sklerose induziere, dies sei aber auch nicht auszuschließen (Bl. 327 bis 329 Unfall-Akte).

Der von der Beklagten weiterhin als Sachverständiger befragte Arzt für Orthopädie Dr. T ..., Institut für Medizinische Begutachtung in ..., führte in seinem Gutachten vom 30.04.1996 zusammenfassend aus, der Unfall vom 05.01.1993 sei nach Art, Richtung und Größe der einwirkenden Kräfte nicht geeignet gewesen, einen Bandscheibenschaden an der HWS zu verursachen, unabhängig davon, welcher der unterschiedlichen Mitteilungen zum Unfallhergang man folge. So sei an einer zuvor gesunden Bandscheibe ein isolierter Unfallschaden kaum ohne knöcherne Begleitverletzungen zu erwarten (Bl. 343 Unfall-Akte). Auch sei es pathophysiologisch nicht erklärbar, wie eine von hinten einwirkende Kraft einen ebenfalls nach hinten gerichteten Bandscheibenvorfall bewirken solle, zumal noch nicht einmal unmittelbar nach dem Unfall eine entsprechende Symptomatik der HWS bestanden habe (Bl. 345 Unfall-Akte).

Der an der gleichen Einrichtung tätige Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. B ... gelangte in seinem Gutachten vom 07.05.1996 zu der Schlussfolgerung, dem Unfall vom 05.01.1993 könne nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit die Bedeutung einer wesentlichen Bedingung für die Enzephalomyelitis disseminata zugerechnet werden, da eine unfallbedingte Schädigung von Gehirn oder Rückenmark nicht nachzuweisen oder anzunehmen sei, und - nach den Ausführungen von Dr. T ... - auch kein wesentliches Wirbelsäulentrauma, sondern lediglich eine Prellung des Rückens vorgelegen habe (Bl. 374 Unfall-Akte).

Mit Bescheid vom 07.10.1996 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rente wegen des Arbeitsunfalles mit der Begründung ab, dieser habe eine MdE in rentenberechtigendem Grade über die 13. Woche hinaus nicht hinterlassen. Weder der Bandscheibenvorfall, noch die Multiple Sklerose seien durch diesen Unfall verursacht.

Mit seinem Widerspruch hiergegen machte der Kläger geltend, weder habe eine vorher bestehende Degeneration der Wirbelsäule, noch eine andere Gewalteinwirkung als die beim Unfall vom 05.01.1993 aufgetretene nachgewiesen werden können. Bei vernünftigem Abwägen aller Umstände überwögen die auf die berufliche Verursachung deutenden Faktoren so stark, dass darauf die Entscheidung eines Zusammenhangs zwischen Unfall und Bandscheibenvorfall gestützt werden könne. Bezogen auf die Multiple Sklerose zitiere das Gutachten von Dr. Nau zumindest eine wissenschaftliche Untersuchung, in der ein immerhin hoch signifikanter Zusammenhang zwischen körperlichem Trauma und der Entwicklung einer MS gefunden worden sei (Bl. 412 Unfall-Akte).

Mit Bescheid vom 05.03.1997 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und bezog sich im Wesentlichen auf die Gutachten von Dr. T ... und von Dr. B ...

Auf die hiergegen am 04.04.1997 erhobene Klage hin hat das Sozialgericht Chemnitz (SG) Befundberichte von Dr. H ... und Dr. F ... eingeholt und Prof. Dr. W ..., Direktor der Klinik für Neurologie des Klinikums der ..., zum Sachverständigen ernannt. Dieser ist in seinem in Zusammenarbeit mit Oberarzt Dr. S ... am 02.01.1998 erstellten Gutachten zu der Einschätzung gelangt, außergewöhnliche Unfallereignisse mit grober Gewalteinwirkung auf Kopf und Wirbelsäule, wie sie beim Kläger vorgelegen hätten, seien geeignet, eine Multiple Sklerose auszulösen. Nach Bewertung der vorliegenden Literatur und der gegenwärtigen Rechtsprechung müsse im Falle des Klägers davon ausgegangen werden, dass der Unfall zwar nicht die Ursache der Multiplen Sklerose sei, es jedoch durch das Trauma zu einer Erstmanifestation der Erkrankung gekommen sei. Auch hinsichtlich des Bandscheibenvorfalles sei ein Zusammenhang mit dem Unfall anzunehmen; insoweit überzeugten die Ausführungen von Dr. K .../Dr. M ... sowie von Dr ... Dagegen könne man sich der Einschätzung von Dr. T ... nicht anschließen, da aus der eigenen langjährigen klinischen Erfahrung viele Patienten bekannt seien, die nach Stürzen oder Schleudertraumen einen Bandscheibenvorfall im Bereich der HWS entwickelt hätten, ohne dass es darüber hinaus zu schweren Verletzungen der knöchernen oder Bandstrukturen gekommen sei. Die komplexen biomechanischen Einwirkungen auf die HWS hingen ganz entscheidend von deren Stellung zum Zeitpunkt der Gewalteinwirkung ab (Bl. 66 f. SG-Akte).

Auf Einwände der Beklagten gegen dieses Gutachten hin (Bl. 73 f. SG-Akte) hat das SG den Kläger (Bl. 87 ff. SG-Akte) sowie seinen ehemaligen Meister, Herrn Gierth, (Bl. 84 f. SG-Akte) nochmals zum genauen Unfallhergang befragt, eine ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen, insbesondere zur Höhe der unfallbedingten MdE, eingeholt (Bl. 100-104 SG-Akte) und dann mit Urteil vom 19. August 1999 die Beklagte unter Abänderung der entgegenstehenden Bescheide verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 05.01.1993 ab dem 06.01.1993 eine Verletztenrente, dem Grunde nach, nach einer MdE um 20 v. H., ab dem 08.09.1994 nach einer MdE um 50 v. H., ab dem 21.06.1995 nach einer MdE um 70 v. H. und ab dem 10.12.1997 nach einer MdE um 100 v. H. zu gewähren. Rechtsgrundlage für die Gewährung einer Verletztenrente für das am 05.01.1993 eingetretene Ereignis sei § 581 Abs. 1 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) i.V.m. § 548 RVO. Dieser Unfall habe den beim Kläger vorliegenden Bandscheibenvorfall und den ersten Schub der Multiple Sklerose-Erkrankung wesentlich verursacht. Hinsichtlich des Bandscheibenprolaps C5/6 lägen die in der unfallmedizinischen Literatur genannten Kriterien für die Anerkennung eines Ursachenzusammenhangs vor. So habe es sich bei dem Unfallereignis um einen mit Überraschungseffekt abgelaufenen Sturz nach hinten gehandelt, der in seiner Mechanik die Entstehung einer Rissbildung der Bandscheibe erklären lasse (Sturz aus ca. 1 Meter Höhe mit punktuellem Aufprall des Ncckens auf einen relativ schmalen Träger). Auch Brückensymptome im Sinne sofortiger starker Schmerzen im Bereich der LWS und der HWS sofort nach dem Unfall hätten vorgelegen. Dagegen habe der Kläger vor diesem Ereignis weder unter Beschwerden der HWS gelitten, noch hätten degenerative Veränderungen vorgelegen. Schließlich sei es beim Kläger zu einem hinteren Bandscheibenvorfall gekommen.

Durch den Unfall sei weiterhin das erstmalige Auftreten der Krankheit Multiple Sklerose ausgelöst worden. Es habe ein außergewöhnliches Unfallereignis mit grober Gewalteinwirkung auf die Wirbelsäule vorgelegen, welches zu einem Bandscheibenvorfall geführt habe. Innerhalb von sechs Wochen nach dem Unfallgeschehen seien Missempfindungen der Finger und Arme, mithin die typischen Symptome einer Multiplen Sklerose aufgetreten. Da somit die notwendigen Brückensymptome vorhanden seien und eine Multiple Sklerose vor dem Unfallereignis nicht bestanden habe, sei auch die Kausalität zwischen Unfallereignis und Ausbruch dieser Erkrankung zu bejahen, da die bloße Krankheitsanlage noch keine Krankheit im Rechtssinne dargestellt habe. Deshalb müsse der gesamte heutige Zustand des Klägers dem Unfall zugerechnet werden. Wegen des Bandscheibenvorfalls sei beim Kläger die Annahme einer MdE um 20 v. H. ab dem Folgetag des Unfalles gerechtfertigt. Hinsichtlich der weiteren Entwicklung der MdE ist das SG den Sachverständigen Dr. H ..., Dr. B ... und Prof. Dr. W ... aus ihren Gutachten gefolgt.

Gegen das ihr am 09.09.1999 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 05.10.1999 Berufung eingelegt.

Der mittlerweile unstreitige Unfallhergang sei nicht geeignet gewesen, beim Kläger einen Bandscheibenvorfall auszulösen. Die Ausführungen des SG reichten nicht aus, um ein geeignetes Unfallereignis zu konstruieren. Zwar habe es sich um einen überraschenden Sturz gehandelt, aber allein dies genüge hier nicht. Der Kläger sei nicht mit einer schweren Last ausgerutscht, so dass keine unkoordinierte Kraftanstrengung vorgelegen habe. Viel gewichtiger und entscheidend sei jedoch, dass bei einem Unfallhergang mit Überstreckung der HWS - wie hier anzunehmen - typische Begleitverletzungen zu erwarten seien. Ohne den Nachweis solcher Schäden könne unfallmedizinisch nicht der Beleg für eine Einwirkung auf die HWS gesichert werden, die diese außerhalb ihres anatomisch-bestimmungsgemäßen Gebrauchs belastet habe. Ein Bandscheibenvorfall sei in der Regel eine Folge von Alterungsvorgängen des Bandscheibengewebes. Eine andere Entstehungsursache müsse bewiesen werden, was hier nicht möglich sei. Schließlich müsse, wenn es unfallbedingt zur Verlagerung von Bandscheibengewebe in den Wirbelkanal gekommen sei, als Verletzungszeichen umgehend ein Funktionsverlust eintreten, was beim Kläger aber nicht geschehen sei. In der Literatur werde die unmittelbare Arbeitsniederlegung nach dem Unfallereignis gefordert. Die gegenteilige Auffassung des SG werde durch die angegebene Quelle nicht gestützt. Das Unfallereignis vom 05.01.1993 sei auch nicht geeignet gewesen, beim Kläger den Ausbruch der Krankheit Multiple Sklerose zu verursachen. Nach den bisherigen Erkenntnissen über diese Erkrankung sei deren Verursachung durch äußere Schädigungen aller Art als unwahrscheinlich abzulehnen. Nach den Ausführungen des SG seien jedoch Verletzungen, die zu einer Läsion des Gehirns oder des Rückenmarks geführt hätten, geeignet, einen Schub der Krankheit in Gang zu bringen. Hier sei schon nicht nachgewiesen, dass die Multiple Sklerose vor dem Unfall nicht vorgelegen habe. Die Tatsache, dass keine klinische Symptomatik nachweisbar gewesen sei, belege nicht, dass diese Erkrankung nicht schon vor dem Unfall klinisch stumm bestanden habe. Es sei sogar möglich, dass durch die Multiple Sklerose bedingte Störungen den Unfall verursacht hätten. Selbst wenn jedoch die MS klinisch stumm vorgelegen hätte, sei das Unfallereignis trotzdem nicht außergewöhnlich genug gewesen, um den ersten Schub auszulösen, da es lediglich zu einer Rückenprellung gekommen sei. Zur Untermauerung ihrer Argumentation hat die Beklagte ärztliche Gutachten von Prof. Dr. S ..., Facharzt für Arbeitsmedizin, Institut für Arbeitsmedizin ..., vom 28.12.1999 und des Arztes für Orthopädie Dr. M ..., ..., vom 14.01.2000 vorgelegt.

Der Senat hat daraufhin Dr. S ..., nunmehr Kommissarischer Direktor der Klinik für Neurologie der ..., ergänzend befragt. Dieser hat sich unter dem 17.05.2000 dahingehend geäußert, der Unfallmechanismus sei sehr wohl geeignet gewesen, einen Bandscheibenvorfall auszulösen und darüber hinaus eine Schädigung der Blut-Hirn-Schranke zu bewirken, die mit Wahrscheinlichkeit den neuroimmunologischen Prozess ausgelöst habe, welcher seinerseits in die Multiple Sklerose eingemündet sei. Unter dem 04.09.2000 hat der Sachverständige sein Vorbringen ergänzt und präzisiert. Es sei nicht zwingend, dass nach einem Bandscheibenvorfall umgehend Zeichen einer zervikalen Myelopathie, also eines kompletten oder inkompletten Querschnittssyndroms, aufträten. Bei einem Bandscheibenvorfall handle es sich nicht um einen statischen, sondern um einen dynamischen Prozess, der sich sowohl in seiner Ausdehnung (Größe) als auch in der Lokalisation verändern könne. Eine Zunahme, wie auch Abnahme der Beschwerden sei daher möglich. Da im Falle des Klägers in engem zeitlichem Zusammenhang mit dem Unfall erstmals Beschwerden im Bereich der HWS bzw. der Schultermuskulatur aufgetreten seien, sei auch der ursächliche Zusammenhang wahrscheinlich. Darüber hinaus könne auch davon ausgegangen werden, dass es bei dem Bandscheibenvorfall zu einer Verletzung der das Rückenmark versorgenden Gefäße und demnach der Blut-Hirn-Schranke gekommen Nervensystems sei hierbei nicht notwendig, da die Blut-Hirn-Schranke sich um die Blutgefäße manifestiere. Eine Störung dieser Schranke bestehe darin, dass sie zeitweise komplett oder partiell für immunologische Prozesse durchlässig werde.

Die Beklagte überzeugt dies nicht. Schon der unmittelbare zeitliche Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem Bandscheibenvorfall sei nicht bewiesen. Erst bei seiner zweiten Vorstellung beim D-Arzt im März 1993 habe der Kläger Beschwerden im Bereich der HWS angegeben und auch unmittelbare klinische Zeichen seien erstmal dort festgestellt worden. Dass eine Schädigung der Blutversorgung durch einen Bandscheibenschaden prinzipiell denkbar sei, wie dies Dr. S ... beschreibe, genüge den Kausalitätsanforderungen in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht. Vielmehr müsse die Schädigung der das Rückenmark versorgenden Gefäße nachgewiesen sein, was auch Dr. S ... nicht gelinge.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 19. August 1999 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Revision zuzulassen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Es sei Sache der Beklagten darzulegen und unter Beweis zu stellen, dass unfallunabhängige Kausalfaktoren, wie etwa eine bestehende Schadensanlage des Klägers an dem Eintritt des Bandscheibenvorfalles beteiligt gewesen seien. Im Falle des Klägers habe jedoch eine solche Schadensanlage gerade nicht vorgelegen. Soweit die Ausführungen der Beklagten dahingehend zu verstehen seien, dass ihrer Auffassung nach der Kläger bereits vor dem Unfallereignis an einer Multiplen Sklerose erkrankt gewesen sei, so trage sie auch hierfür die Darlegungs- und Beweislast.

Dem Senat lagen neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge die Verwaltungsakten der Beklagten (3 Bände) sowie die Akte des Amtes für Familie und Soziales Chemnitz, Az. 94/40/133872, vor.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

Zutreffend hat das SG § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO seiner Prüfung zugrunde gelegt, wonach einem Verletzten, solange infolge eines Arbeitsunfalles seine Erwerbsfähigkeit um wenigstens 1/5 gemindert ist, als Verletztenrente der Teil der Vollrente gewährt wird, der dem Grade der Minderung seiner Erwerbsfähigkeit entspricht (Teilrente). Denn der - als solcher von der Beklagten anerkannte - Arbeitsunfall fand am 05.01.1993 und somit nach Inkrafttreten der §§ 539 ff., 580 f. RVO im "Beitrittsgebiet" (zum 01.01.1992 - §§ 1148, 1149 Abs. 1 RVO), aber vor dem Inkrafttreten des Siebenten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII - zum 01.01.1997 - § 212 SGB VII) statt.

Kein Streit besteht zwischen den Beteiligten, wie erwähnt, darüber, dass es sich bei dem Ereignis vom 05.01.1993 um einen Arbeitsunfall gehandelt hat; dies wurde seitens der Beklagten mit Bescheid vom 07.10.1996 anerkannt. Auch der Unfallhergang ist im Hinblick auf die konstanten und widerspruchsfreien Angaben des Klägers hierzu - die freilich naturgemäß im Laufe des Verfahrens durch präzises Nachfragen der Beklagten und des SG an Detailreichtum und Genauigkeit gewonnen haben - geklärt; diese Angaben werden auch vom ehemaligen Meister des Klägers, Herrn Gierth, bestätigt und nach alledem auch von der Beklagten nicht angezweifelt (Bl. 19 LSG-Akte). Danach rutschte der Kläger auf einem glasig vereisten hölzernen Deckenträger aus, der das Zwischendach trug, auf dem er gerade arbeitete; er stürzte und schlug rücklings mit dem Bereich der LWS/unteren BWS auf einen ersten, mit der HWS auf einen anderen Träger auf (s. Bl. 84 f., 87-90 SG-Akte inklusive Skizzen). Das SG hat mit zutreffenden Erwägungen einen rechtlich wesentlichen Zusammenhang zwischen diesem Unfall und dem Auftreten eines Bandscheibenvorfalls sowie der ersten Krankheitsmanifestation einer Multiplen Sklerose für wahrscheinlich erachtet. Die dagegen von der Beklagten vorgebrachten vielfältigen und zum Teil auch uneinheitlichen Einwände überzeugen den Senat nicht.

Ebenso wie das SG hat sich auch der Senat die Überzeugung gebildet, dass sowohl der beim Kläger aufgrund des CT der HWS am 05.01.1994 erstmals festgestellte Bandscheibenvorfall (siehe dazu unten I.) und seine nach der Bandscheibenoperation vom 03.03.1994 verbliebenen Folgen, als auch die erste Manifestation der in diesem Zusammenhang zusätzlich diagnostizierten Multiplen Sklerose (II.) in rechtlich wesentlicher Weise durch das Unfallereignis vom 05.01.1993 hervorgerufen wurde. Allerdings war der Tenor der erstinstanzlichen Entscheidung um die genaue Bezeichnung der zu entschädigenden Unfallfolgen zu ergänzen. Diese Klarstellung entspricht zum einen dem - sinngemäß - vom Kläger erstinstanzlich verfolgten Feststellungsbegehren und wird zum anderen von der Berufung der Beklagten und Berufungsklägerin mit umfasst, deren Leistungspflicht damit eingegrenzt wird, deren weitergehender mit der Berufung verfolgter Antrag allerdings keinen Erfolg hat.

Die Prüfung des Bestehens oder Nichtbestehens eines rechtlich wesentlichen Kausalzusammenhangs hat nach der ständigen Rechtssprechung des Bundessozialgerichts (BSG) in mehreren getrennten Schritten zu erfolgen. Zunächst kommt es darauf an, ob das angeschuldigte Unfallereignis eine Ursache im medizinisch-naturwissenschaftlichen Sinne für den festgestellten Gesundheitsschaden gebildet hat. Bejahendenfalls ist weiterhin zu untersuchen, ob auch andere, in ihren tatsächlichen Grundlagen sicher nachgewiesene Ursachen einen Kausalbeitrag zu dem genannten "Erfolg" (im rechtlichen Sinne), d. h. der geltend gemachten Gesundheitsschädigung, geleistet haben. Schließlich muss in einem dritten Schritt zwischen den festgestellten Ursachen hinsichtlich ihrer (quantitativen) Wirksamkeit abgewogen werden (Urteil des BSG vom 22.08.1990 - 8 RKn 5/90, in: Breithaupt 1991 S. 471, 473 m. w. N.). Rechtlich wesentlich und somit entschädigungspflichtig ist aber nicht nur eine nach dem Ergebnis dieser Abwägung alle anderen (quantitativ) überwiegende Ursache, sondern vielmehr jede Ursache im medizinisch-naturwissenschaftlichen Sinne, die im Einzelfall wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen hat (Urteil des BSG vom 28.06.1988 - 2/9b RU 28/87, BSG SozR 2200 § 548 RVO Nr. 91 S. 255). Es handelt sich somit bei dem Kriterium der rechtlichen Wesentlichkeit in erster Linie um ein qualitatives Element (vgl. BSG a.a.O., S. 253: Bei Konkurrenz von unfallbedingter und unfallunabhängiger Einwirkung ist (rechtlich wesentlich) diejenige Ursache, die wegen ihrer besonderen qualitativen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen hat).

I. Im vorliegenden Fall ist der Senat überzeugt, dass für den beim Kläger aufgetretenen Bandscheibenvorfall das Unfallereignis vom 05.01.1993 nicht nur als eine (neben anderen), sondern als die rechtlich allein wesentliche Ursache anzusehen ist.

Dem widerspricht - entgegen der Auffassung der Beklagten - nicht bereits zwingend, dass sich im Falle des Klägers nicht schon unmittelbar nach dem Unfallereignis die später festgestellten typischen Zeichen eines medio-lateralen (nach links gerichteten) Bandscheibenvorfalls im Bereich der HWS mit Druck auf das Rückenmark oder auf die Nervenwurzel gezeigt haben (vgl. dazu im Einzelnen Strian, Schmerz-Ursachen, Symptome, Therapien, 1996 S. 88). Denn bei einem Bandscheibenvorfall handelt es sich nicht um etwas Statisches bzw. ein kurzzeitiges Geschehen, durch das ein stabiler Körperzustand in einen anderen überführt wird, wie dem Senat aus der Bearbeitung einer Vielzahl ähnlich gelagerter Verfahren bekannt ist und was auch Dr. Sliwka in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 04.09.2000 nochmals bestätigt hat. Der "Vorfall" als ein dynamischer Prozess kann sich vielmehr sowohl in seiner Ausdehnung (Größe) als auch Lokalisation verändern. Daher ist ebenso eine Zunahme wie eine Abnahme der Beschwerden grundsätzlich möglich, also auch, dass sich das Vollbild eines Bandscheibenvorfalls mit einer Kompression von Nervenstrukturen, "angestoßen" durch ein Trauma der HWS, allmählich - im Extremfall über Wochen - entwickelt (Urteil des Senats vom 29.06.2000 - L 2 U 94/97). Zwar wird man regelmäßig, vor allem wenn Vorschädigungen der HWS nachgewiesen sind, aus denen sich der Bandscheibenschaden auch eigengesetzlich entwickelt haben kann, für die Annahme einer wahrscheinlichen Kausalbeziehung - unter Beachtung der im Einzelfall gegebenenfalls bestehenden Besonderheiten - einen engen zeitlichen Zusammenhang fordern müssen (Urteil des Senats vom 17.10.2000 - L 2 U 98/98 S. 15). Denn Bandscheibenveränderungen vollziehen sich üblicherweise langzeitig. Es kommt dabei zu einer fortschreitenden Beschädigung des faserknorpeligen äußeren Bandscheibenringes (anulus fibrosus) mit Dehydration (Austrocknung) der Grundsubstanz des Faserknorpels sowie Entrundung des sich darin befindlichen gallertartigen Bandscheibenkerns (des nucleus pulposus). Die Begrenzung dieses Bandscheibenkerns wird mit fortschreitendem Grad der Abnutzung in Form insbesondere einer Osteochondrose (Verschmälerung der Zwischenwirbelräume und Sklerosierung der Deckplatten) lappenförmig und unregelmäßig, bis er schließlich durch die Schichten des ihn umgebenden geschädigten äußeren Bandscheibenringes nach außen dringt (vgl. Urteil des Senats vom 29.06.2000 - L 2 U 94/97 S. 13 auf der Grundlage einer im Verfahren eingeholten sachverständigen Äußerung auf orthopädischem Fachgebiet). Je mehr Zeit dagegen zwischen einem Trauma - das nach der Art und Intensität seiner Einwirkung als geeignet angesehen werden muss, diesen Prozess zu beschleunigen oder sonst zu beeinflussen - und dem Nachweis einer konkreten Bandscheibenschädigung anhand der für diese charakteristischen Befunde liegt, um so wahrscheinlicher ist es, dass diese Schädigung ausschließlich oder jedenfalls allein wesentlich auf jenen sich allmählich entwickelnden Prozessen und nicht mehr auf dem angeschuldigten Ereignis beruht (Urteil des Senats vom 17.10.2000 - L 2 U 98/98 S. 15). Im Falle des Klägers, eines zum Unfallzeitpunkt gerade 25-jährigen Mannes, ist jedoch die Besonderheit zu beachten, dass bei ihm ausweislich der von Dr. Flade im März 1993 angefertigten Röntgenaufnahmen gerade keine Abnutzungserscheinungen im Bereich der HWS festgestellt werden konnten (Bl. 6 Unfall-Akte). Auch das dem Kläger bei der Bandscheibenoperation entnommene histologische Präparat in Gestalt von Bandscheibensubstanz (Faserknorpel) zeigte nach dem neuropathologischen Befund der Universität Göttingen vom März 1994 lediglich geringe Degenerationszeichen (Bl. 179 Unfall-Akte). Da somit zum Unfallzeitpunkt weder von einem nennenswerten Elastizitätsverlust der Bandscheibe infolge "natürlichen Verschleisses" (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 6. Auflage 1998, S. 509 f.), noch vom Vorliegen für Bandscheibenschäden typischer sekundärer (knöcherner) Umbauprozesse wie Spondylosis deformans und Osteochondrose (a.a.O. S. 510 f.) ausgegangen werden kann, ist das Bestehen einer Schadensanlage im Bereich der HWS, die ihrerseits als allein ursächlich für das Entstehen des Bandscheibenvorfalles in Betracht kommen könnte, nicht nachzuweisen. Kann aber eine mögliche körpereigene Ursache bereits in ihren tatsächlichen Grundlagen nicht sicher festgestellt werden, so erhebt sich nach der ständigen Rechtsprechung des BSG nicht einmal die Frage, ob sie im konkreten Einzelfall auch nur als Ursache im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne in Betracht zu ziehen ist. Die Feststellung einer ursächlichen Verknüpfung ist nämlich nicht eine hypothetische, sondern vielmehr eine die gegebenen Tatsachen berücksichtigende Aufgabe (Urteil des BSG vom 20.01.1987 - 2 RU 27/86, BSGE 61, 127, 130).

Das Trauma ging mit einer massiven Einwirkung auf die HWS des Klägers einher. Der punktuelle Aufprall des Nackens des Klägers auf den relativ schmalen Träger entsprach, wie Dr. N ... und Prof. Dr. W .../Dr. S ... überzeugend dargetan haben (Bl. 327 Unfall-Akte, 65 SG-Akte), einer erheblichen Belastung dieser Wirbelsäulenregion, wie sie im alltäglichen Leben üblicherweise auch nicht annähernd in gleicher Stärke aufzutreten pflegt. Es liegt auf der Hand, dass ein solches Trauma - wie dies ja auch im vorliegenden Verfahren von der Mehrzahl der befragten Sachverständigen bestätigt wird - das Auftreten eines Bandscheibenvorfalls begünstigen kann. Wenn die Beklagte dennoch argumentiert, darin habe kein "geeignetes Unfallereignis" für einen Bandscheibenvorfall gelegen, so beachtet sie nicht ausreichend, dass eine solche, auf die fallunabhängige, allgemeine Erfahrung gestützte, generalisierende Betrachtungsweise, mit der die Anerkennung und Entschädigung von Unfallfolgen davon abhängig gemacht wird, dass der Unfallhergang bestimmte, genau umrissene, in der unfallmedizinischen Literatur niedergelegte Kriterien erfüllt, nicht mit dem Gebot der individuellen Prüfung der Umstände des konkreten Einzelfalles zu vereinbaren ist, als einer Ausprägung der im sozialen Unfallrecht maßgebenden Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung. Hiernach ist nicht nur erheblich, was erfahrungsgemäß unter gleichen Umständen bei anderen Personen anzutreffen wäre. Vielmehr kann auch ein außergewöhnlicher Schadensverlauf den die Leistungspflicht begründenden Tatbestand verwirklichen. Zu untersuchen ist infolge dessen nicht ein typischer Geschehensablauf, sondern die singuläre Situation des Menschen und sein Zustand, so wie er wirklich beschaffen ist (BSG, Urteil vom 12.02.1975 - 9 RV 392/74, SozR 3200 § 81 SVG Nr. 3 S. 17; Urteil vom 28.06.1988 - 2/9b RU 28/87 a.a.O., S. 253). Somit ist aber auch der Argumentation von Dr. Tändler, die sich die Beklagte zu Eigen gemacht hat, wonach eine isolierte Bandscheibenschädigung ohne bestimmte Begleitverletzungen "kaum vorstellbar" sei, entgegenzuhalten, dass solche eben doch immer wieder vorkommen (Schönberger/Mehrtens/Valentin S. 490). Dies entspricht auch der langjährigen klinischen Erfahrung von Dr. S ... (Bl. 66 f. SG-Akte).

Das Fehlen von Prellmarken (Hämatomen) an der vom Aufschlagen betroffenen Stelle der HWS erklärt sich genügend damit, dass der Kläger entsprechend der Jahreszeit (5. Januar) eine Kragenjacke trug, die zwar ausreichte, die Haut selbst vor Verletzungen zu schützen, aber nicht, die durch den Sturz verursachte Krafteinwirkung auf die Wirbel abzumildern.

Ohnehin ist mit dem in der Literatur auftretenden Begriff des "geeigneten Unfallereignisses" nicht gemeint, dass ein Ereignis, das nicht die dort aufgeführten Kriterien erfüllt, niemals einen Verursachungsbeitrag zu einem Bandscheibenvorfall leisten könnte. Vielmehr zielen diese Grundsätze darauf ab, dass bei einer (erheblich) vorgeschädigten Wirbelsäule unter Umständen schon ein "geringer Zusatzimpuls" genügen kann, um das aktuelle klinische Syndrom des Bandscheibenvorfalls auszulösen (a.a.O. S. 493). Die Geringfügigkeit des potentiellen schädigenden Ereignisses könne dann - so sinngemäß die Argumentation - ein gewichtiges Indiz dafür sein, dass der Vorschädigung das überragende Gewicht gegenüber dem Unfallereignis zukommt. Ein solcher Fall ist jedoch hier nicht gegeben, da der Kläger zum einen am 05.01.1993 kein Bagatelltrauma in diesem Sinne erlitt, zum anderen nennenswerte Vorschädigungen der HWS bei ihm nachgewiesenermaßen gerade nicht vorlagen.

Auch der weitere Verlauf ist mit der Verursachung einer Bandscheibenschädigung vereinbar: Beim Kläger bestand nach dem D-Arzt-Bericht vom 08.01.1993 ein Druckschmerz der gesamten Wirbelsäule - wenn er auch vorwiegend Schmerzen der gleichfalls vom Unfall betroffenen oberen LWS/unteren BWS angab, weshalb zunächst nur von diesen Abschnitten Röntgenaufnahmen gefertigt wurden. Auch gegenüber Dr. Kühnert berichtete der Kläger neben Schmerzen in den letztgenannten Bereichen auch Beschwerden im Schulter-Nacken-Bereich (Bl. 54R Unfall Akte). Bei der zweiten Vorstellung bei Dr. F ... im März 1993 bestanden dann - insoweit auch von der Beklagten eingeräumt (Bl. 83 LSG-Akte) - die für einen Bandscheibenvorfall mit Nervenwurzelreizung typischen Beschwerden wie Brachialgie (Armschmerzen) und Muskelhartspann (vgl. Strian a.a.O.; Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 257. Auflage 1994, Stichwort: "Brachialgie" S. 210 f.). All dies weist gleichfalls darauf hin, dass durch den Unfall vom 05.01.1993 im Bereich der HWS ein Krankheitsprozess in Gang gesetzt wurde, der schließlich in das Vollbild eines Bandscheibenvorfalles mit radikulärer Symptomatik einmündete.

Damit verdichtet sich, vergegenwärtigt man sich die dokumentierte Beschwerdeentwicklung, die Möglichkeit, dass der Unfall vom 05.01.1993 zum Bandscheibenvorfall geführt hat, zur hinreichenden Wahrscheinlichkeit, weil mehr dafür als dagegen spricht, dass der Unfall Ursache des Bandscheibenvorfalls gewesen ist und andere wesentliche Ursachen nicht ersichtlich sind, er also rechtlich als die allein wesentliche Ursache zu werten ist. Seine Folgen sind somit von der Beklagten zu entschädigen.

II. Aber auch das Auftreten einer Multiplen Sklerose (MS) wurde mit Wahrscheinlichkeit in rechtlich wesentlicher Weise durch den Unfall mit verursacht.

Dabei ist sich der Senat der Tatsache bewusst, dass derzeit noch gesicherte Erkenntnisse fehlen, wodurch genau diese häufigste Erkrankung des Zentralnervensystems (ZNS) hervorgerufen wird und welchen Einfluss von außen wirkende Faktoren auf das Auftreten und den weiteren Verlauf der Erkrankung haben (Schönberger/Mehrtens/Valentin S. 280 f.; s. auch W. Firnhaber in Rauschelbach/Jochheim, Das neurologische Gutachten, 3. Auflage 1997, S. 324; Fritze, Die ärztliche Begutachtung, 5. Auflage 1996, S. 701). Zwar wird die Auffassung vertreten, von rein wissenschaftlichem Standpunkt her sei ein ursächlicher Zusammenhang zwischen exogenen Faktoren und der Erstmanifestation oder dem Auftreten eines akuten Rezidivs einer MS nicht als wahrscheinlich zu bezeichnen (Firnhaber, a.a.O., S. 327; Fritze a.a.O. mit Hinweis auf "fundierte Studien in den USA"). Andererseits wird aber trotz des "Wissens um die Anfechtbarkeit konstruierter Zusammenhangshypothesen" in zahlreichen Staaten der nördlichen Hemisphäre (wo das Leiden hauptsächlich auftritt - Pschyrembel, Stichwort: "Multiple Sklerose" S. 998) die MS unter bestimmten Voraussetzungen als Wehrdienstbeschädigung anerkannt (Firnhaber, S. 326). Auch nach dem Recht der sozialen Entschädigung kann in seltenen Einzelfällen ein Zusammenhang der MS mit einer Schädigung wahrscheinlich sein, z. B. wenn ein Schub des Leidens in augenfälliger zeitlicher Verbindung mit außergewöhnlich massiven Belastungsfaktoren auftritt und dann bei jeder der herrschenden wissenschaftlichen Hypothesen (Infektionskrankheit und/oder neuro-allergisches, auf einer Autoimmunreaktion beruhendes Krankheitsgeschehen - zum aktuellen Erkenntnisstand s. insbes. Suchenwirth/Kunze/Krasney, Neurologische Begutachtung, 3. Aufl. 2000, S. 354) die gleiche Beurteilung abzugeben wäre (Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, 1996 - AHP 1996 - Abschnitt 64 S. 246). Damit wird zum einen der Tatsache Rechnung getragen, dass es - worauf Prof. Dr. W .../Dr. S ... und Dr. N ... hingewiesen haben -, eben doch in der wissenschaftlichen Literatur mehrere Fallberichte gibt, die auf einen möglichen Zusammenhang zwischen Trauma und MS hinweisen (so aktuell E. Mauch [neuer Bearbeiter] in Rauschelbach/Jochheim, 4. Aufl. 2000, S. 265: "Es gibt jedoch überzeugende Einzelbeobachtungen, die einen derartigen Zusammenhang nahelegen."; ähnlich Suchenwirth/Kunze, Krasney, a.a.O.; vgl. auch bereits Hammerschmidt-Gollwitzer, Wörterbuch der Medizinischen Fachausdrücke, 1. Auflage 1994, Stichwort: "Sklerose, multiple", S. 252). Zum anderen gibt es pathophysiologische Vorstellungen, die davon ausgehen, dass eine Schädigung der Blut-Hirn-Schranke maßgeblich an der Entstehung der MS beteiligt sein kann. Für eine solche Kausalität sprechen Ergebnisse aus Tierversuchen, die zeigen, dass die Injektion von Nervengewebe in das Nervensystem ein chronisch-entzündliches Krankheitsbild verursachen kann, welches der MS sehr ähnelt (Dr. Sliwka, ergänzende Stellungnahme vom 17.05.2000 - Bl. 53 LSG-Akte; ähnlich bereits Dr. Nau, Gutachten vom 06.02.1996, S. 12 - Bl. 326 Unfall-Akte). Es hat sich demnach in medizinischer Literatur und bei Sozialverwaltungen die Einsicht durchgesetzt, dass ein In-Gang-Setzen oder eine wesentliche Beeinflussung des Krankheitsgeschehens durch ein Trauma auch bei der MS grundsätzlich möglich ist.

Dem entspricht schon ein Urteil des LSG Rheinland-Pfalz, wonach es zwar "wohl sicher" sei, dass "ein Trauma, welches das ZNS trifft, nicht die alleinige und auch nicht einmal die wesentliche Teilursache bei der Entstehung des Leidens [einer MS] sein wird" (Urteil vom 13.01.1955 - SGU 1281/54, in: Breithaupt 1958 Nr. 311 S. 928). Immerhin hat aber das LSG in der genannten Entscheidung den ursächlichen Zusammenhang einer Einwirkung auf das Zentralnervensystem mit dem dort streitgegenständlichen Unfall insoweit bejaht, als der erste Krankheitsschub als Unfallfolge anerkannt wurde (a.a.O.). Das BSG hat das Urteil bestätigt und hierzu lediglich festgestellt, die Auffassung der Vorinstanz, wonach die in dem betreffende Fall von außen wirkende Schädigung nicht im Rechtssinne die Ursache der Erkrankung jener Klägerin sei, sondern deren Verlauf nur während eines gewissen Zeitabschnittes in rechtlich wesentlichem Umfange beeinflusst habe, verstoße nicht gegen gesicherte Erfahrungssätze der medizinischen Wissenschaft und beruhe auch nicht auf einem Verstoß gegen die Denkgesetze, noch lasse das Urteil des LSG erkennen, dass dieses den von der Rechtssprechung entwickelten Ursachenbegriff verkannt oder sonst unrichtig angewandt habe (a.a.O., S. 929 Fußnote 1). Eine eigene Bewertung des Ursachenzusammenhangs enthält die Entscheidung nicht.

In Teilen der sozialmedizinischen Literatur wird zwar die Auffassung vertreten, nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Wissenschaft könne eine MS durch eine äußere Schädigung grundsätzlich nicht "verursacht", sondern allenfalls "verschlimmert" werden (Schönberger/Mehrtens/Valentin S. 281; vorsichtiger Firnhaber S. 327; etwas anders Fritze S. 702; deutlich abweichend nunmehr E. Mauch, S. 264 f.). Das hat zum Hintergrund, dass nach der derzeit herrschenden Auffassung von der Entstehung einer MS die Voraussetzungen, an diesem Leiden zu erkranken, in der Kindheit gelegt werden (Firnhaber S. 326); die derzeitigen Einsichten gehen - auf der Grundlage epidemiologischer Erkenntnisse (Firnhaber S. 324, 326) - von einer Autoimmunreaktion im Rahmen einer in der Jugend erworbenen "slow-virus-infection" aus (Fritze S. 701; Suchenwirth/Kunze/Krasney S. 354: Mauch a.a.O., "als Hypothese ist eine Autoimmungenese allgemein akzeptiert."). In diesem Zusammenhang ist aber zu beachten, dass der medizinische Begriff der "Verschlimmerung" nicht in allen Fällen mit dem juristischen identisch sein muss, wie er der sozialrechtlichen Kausalitätslehre innewohnt. Dies wird insbesondere bei Fritze (S. 702) deutlich, wo ausgeführt wird, eine MS könne aufgrund des anatomischen Befundes nie durch eine Hirn- oder Rückenmarksverletzung [in medizinisch-naturwissenschaftlichem Sinne] verursacht werden; vielmehr könne einer solchen nur die Bedeutung eines pathogenetischen Teilfaktors bei Erstmanifestation, Zustandekommen eines neuen Schubes oder Verschlimmerung des Leidens zuerkannt werden (ähnlich Mauch a.a.O., S. 264, 265). Im Sozialrecht aber ist die Abgrenzung der (Mit-)Verursachung eines Leidens im Sinne der Verschlimmerung von der Entstehung danach vorzunehmen, ob sich vor dem Unfallereignis bereits ein krankhaftes Geschehen - wenn auch unbemerkt - im Körper entwickelt, oder die "Anlage" bisher kein krankhaftes Geschehen hervorgerufen hatte, denn nur eine bereits vorliegende "Krankheit im Rechtssinne" kann sich durch ein Trauma - im sozialrechtlichen Sinne - verschlimmern (s. zusammenfassend Urteil des BSG vom 16.10.1974 - 10 RV 531/73, SozR 3100 § 1 BVG Nr. 3 S. 10 m.w.N.; ferner Erlenkämper/Fichte, Sozialrecht, 4. Auflage 1996, S. 103; Urteil des Senats vom 28.03.2000 - L 2 VU 22/97 S. 14 f.).

Im vorliegenden Fall haben sämtliche befragte Sachverständige - soweit sie sich überhaupt dazu geäußert haben - die Ansicht vertreten, dass beim Kläger bereits vor dem Unfall vom 05.01.1993 wahrscheinlich die primären Bedingungen des Leidens als klinisch stumme Herde im Sinne einer Krankheitsanlage vorhanden waren (s. insbesondere bereits das im Verwaltungsverfahren eingeholte Gutachten von Dr. B ... vom 21.06.1995 S. 6 - Bl. 252 Unfall-Akte). Weder hat aber der Kläger nach seinen glaubhaften und durch nichts zu widerlegenden Angaben vor dem Unfall entsprechende Krankheitsanzeichen gezeigt (Gutachten Dr. H ... vom 11.09.1994 - Bl. 275 Unfall-Akte), noch kann nachträglich auf andere Art der Nachweis eines krankheitswertigen Vorgangs im Körper des Klägers in der Zeit vor dem Unfallereignis geführt werden. Es kommt somit vorliegend in rechtlicher Bewertung ausschließlich eine Verursachung der MS im Sinne der Entstehung in Betracht.

Eine solche hält der Senat im vorliegenden Fall, wie vor ihm bereits das SG, auch für wahrscheinlich. Für die Kausalitätsbeurteilung sind diejenigen Kriterien anzuwenden, die im überwiegenden Teil der sozialmedizinischen Literatur - dort allerdings in der Regel bezogen auf die Verschlimmerung eines bereits bestehenden MS-Leidens oder die Verursachung eines einzelnen Krankheitsschubes - wiedergegeben sind. Danach ist Voraussetzung für die Anerkennung eines rechtlich wesentlichen Kausalzusammenhanges zum einen ein außergewöhnliches Unfallereignis mit grober Gewalteinwirkung, vorwiegend auf die Wirbelsäule (1), und zum anderen ein enger zeitlicher Zusammenhang von bis zu 3 Monaten zwischen dem Trauma und dem erstmaligen Auftreten krankheitstypischer Beschwerden (s. E. Mauch, S. 265; Fritze S. 207; Schönberger/Mehrtens/Valentin S. 281; ähnlich: Poser in Suchenwirth/Wolff, neurologische Begutachtung, 2. Auflage 1987, S. 164 f.) (2). Darüber hinaus spricht es für eine wesentliche Mitwirkung eines "Kofaktors" bei der Auslösung eines MS-Schubes, wenn der (neue) MS-Herd in dem Bereich des ZNS lokalisiert ist, der von dem Trauma betroffen war (z. B. zervikaler Herd beim HWS-Trauma - E. Mauch, a.a.O.). Das Gleiche muss aus der Sicht des Senats hinsichtlich der Erstmanifestation der Erkrankung gelten, auch bei einer chronisch-progredienten Verlaufsform des Leidens, da ein Grund für eine abweichende Beurteilung nicht ersichtlich ist (3). Schließlich ist die Erstmanifestation des MS-Leidens des Klägers durch den Unfall in vollem Umfang und nicht bloß auf einen zeitlich abgrenzbaren "Schub" bezogen verursacht (4).

(1) Das Unfallereignis vom 05.01.1993 ging mit einer schwerwiegenden Einwirkung auf die Rückseite der Wirbelsäule des Klägers und somit auch das Rückenmark als Teil des ZNS einher. Diese war immerhin so gravierend, dass sie an einer zuvor altersentsprechend gesunden Wirbelsäule eines 25-Jährigen Prozesse in Gang setzte, die zur Herausbildung eines Bandscheibenvorfalles führten. Somit ist aber auch die Schlussfolgerung von Dr. Sliwka für den Senat überzeugend, dass das Trauma auch - entsprechend den Vorgaben der sozialmedizinischen Literatur - nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Wissenschaft grundsätzlich geeignet war, Krankheitsprozesse auszulösen, durch die es zur Erstmanifestation der MS kam, sei es durch "Aktivierung" einer Infektion und/oder durch Einleitung eines immunologischen Prozesses. So hat der Sachverständige in seinem Gutachten dargelegt und ausführlich begründet, wie es bei einem solchen Geschehen zu einer Verletzung der das Rückenmark versorgenden Gefäße und demnach der Blut-Hirn-Schranke kommen kann, die diese zeitweise komplett oder teilweise für immunologische Prozesse durchlässig macht. Die Auslösung eines solchen Prozesses setzt somit nicht eine direkte Zerstörung von Nervengewebe des ZNS voraus (Bl. 79 f. LSG-Akte). Der von der Beklagten darüber hinaus verlangte konkrete Nachweis einer Schädigung des ZNS durch den Unfall ist nicht erforderlich. Denn wenn ein solcher Nachweis im Einzelfall je zu führen wäre, begnügte sich die sozialmedizinische Literatur (einschließlich der AHP 1996) nicht mit der Feststellung eines Traumas einer bestimmten Lokalisation und Intensität sowie einer zeitlichen Zusammenhangskomponente. Erstere soll dabei sicherstellen, dass überhaupt ein Trauma vorgelegen hat, das nach dem derzeitigen Erkenntnisstand der Wissenschaft - wonach die genauen Entstehungsmechanismen der MS eben gerade nicht bekannt sind - generell zur Beeinflussung der der Entstehung dieser Erkrankung zugrunde liegenden Ursachenketten, soweit man dies eben derzeit beurteilen kann, geeignet war. Letztere ist das Kriterium dafür, ob sich diese angenommene Möglichkeit der Krankheitsentstehung im Einzelfall mit hinreichender Wahrscheinlichkeit realisiert hat. Aus rechtlicher Sicht sind ohnehin lediglich der Unfall in betrieblicher Sphäre und die Gesundheitsstörung mittels Vollbeweises zu belegen; hinsichtlich der Beurteilung der Kausalität zwischen beiden, d. h. der Frage der Krankheitsentstehung, genügt hingegen die hinreichende Wahrscheinlichkeit. (2) Auch der erforderliche enge zeitliche Zusammenhang ist gegeben. Der Kläger hat übereinstimmend sowohl gegenüber Dr. H ... (Bl. 274 Unfall-Akte; 30 SG-Akte), als auch gegenüber Dr. N ... (Bl. 316 Unfall-Akte), gegenüber Dr. T ... (Bl. 335 Unfall-Akte), Dr. B ... (Bl. 397 Unfall-Akte) und schließlich Prof. Dr. W .../Dr. S ... angegeben, dass es innerhalb von etwa 2 bis 4 Wochen nach dem Unfallereignis zu einem Taubheitsgefühl beider Arme und Hände, verbunden mit Kribbeln und Zittern, gekommen sei. Daneben hätten durchgehend und konstant Schmerzen im Bereich der HWS bestanden. Auch der ehemalige Meister des Klägers, Herr ..., hat bereits am 04.08.1995 gegenüber der Beklagten schriftlich bestätigt, dass der Kläger unmittelbar in der Zeit nach dem Unfall über Schmerzen und Taubheitsgefühl sowie ein starkes Zittern der Arme und Beine geklagt habe (Bl. 278 Unfall-Akte). Diese Angaben sind auch deshalb glaubhaft, da der Kläger nachvollziehbar angegeben hat, sich das Zittern und seine innere Unruhe zunächst mit einem "Unfallschock" erklärt zu haben (Bl. 335 Unfall-Akte). Wären diese Symptome tatsächlich erstmals viele Wochen nach dem Trauma aufgetreten, hätte sie der Kläger nicht auf diese Weise gedeutet. Die von ihm geschilderten Störungen der Koordination und der Bewegungsabläufe (Ataxie) sind erste Anzeichen der MS (Gutachen Prof. Dr. W .../Dr. S ... vom 02.01.1998, S. 15 - Bl. 61 SG-Akte). Davon ausgehend räumt auch Prof. Dr. S ... in seiner beratungsfachärztlichen Stellungnahme vom 28.12.1999 einen zeitlichen Zusammenhang zwischen Trauma und der MS-Symptomatik ein (Bl. 37 LSG-Akte). Schließlich wurden bereits im Februar 1994 auf einem in der Universitätsklinik Göttingen erstellten MRT u. a. des "zervikalen Myelons" Hinweise auf eine MS gefunden (Bl. 194 Unf.-Akte), d. h. es wurde eine Erkrankung des Nervengewebes im Bereich der HWS nachgewiesen (Pschyrembel, Stichwort: "Kernspintomographie", S. 776). Dies bestätigt auch Dr. H ... in einem am 25.01.1998 für das Amt für Familie und Soziales ... erstellten Befundbericht (Bl. 32R Schwb.-Akte). (3) Es ist aber beim Kläger genau die Körperregion von dem Unfall betroffen worden (punktueller Aufprall des Nackens auf einen schmalen Träger, s. Gutachten .../ ..., Unfall-Akte Bl. 327, SG-Akte Bl. 65) und der festgestellte MS-Herd ist genau in dem Bereich des ZNS lokalisiert (Bericht vom 14.03.1994 Unf.-Akte Bl. 194: "zervikales Myelon"; Bericht Dr. H ... vom 25.01.1998: "typische Marklagerverkalkungen periventrikulär, im Kleinhirn und im Halsmark, SchwbG-Akten Bl. 32R), der in der Literatur als Beispiel einer traumatischen Verursachung genannt wird (s. Schmauch a.a.O., S. 265: "z. B. zervikaler Herd bei HWS-Trauma"; zu dieser Korrespondenz Ort der Einwirkung / MS-Befund-Lokalisation s. auch Poser, a.a.O., S. 360). An der hohen Wahrscheinlichkeit der (Mit-)Verursachung ist deshalb nicht zu zweifeln. (4) Die Erstmanifestation der multiplen Sklerose wurde nach alledem mit Wahrscheinlichkeit in rechtlich wesentlicher Weise durch den Unfall vom 05.01.1993 (mit) verursacht. Die Erkrankung des Klägers ist von Anfang an nicht schubförmig, sondern chronisch-progredient verlaufen. Wenn Dr. H ... in seinem Befundbericht vom 25.01.1998, anders als in seinen früheren Stellungnahmen, von einer schubförmig verlaufenden MS spricht, so stehen dem die Feststellungen sämtlicher befragter Sachverständiger entgegen, von denen keiner einen schubförmigen Verlauf beschreibt. Dementsprechend hat auch der Kläger in der mündlichen Verhandlung angegeben, die Erkrankung schreite bei ihm chronisch und ohne erkennbare Schübe oder (Teil-)Remissionen fort. Aus diesen Gründen geht der Senat vom Vorliegen einer chronisch-progredienten Erkrankungsform aus, weshalb eine zeitliche Einschränkung der Anerkennung von Unfallfolgen nicht vorzunehmen ist (und es auf die Frage, unter welchen Voraussetzungen andernfalls die Anerkennung ggf. auf die Dauer eines Schubes zu begrenzen wäre, nicht ankommt). Soweit deshalb in der medizinischen Literatur auf einzelne Schübe abgestellt bzw. der Ursachenzusammenhang auf einen solchen begrenzt wird (s. Schmauch a.a.O., S. 265, Poser a.a.O., S. 361) und auch im vorliegenden Fall von einem "Schub" die Rede ist (Gutachten Dr. B ... vom 21.06.1995 S. 6 Unf.-Akte Bl. 252; Dr. S .../W ... vom 02.01.1998 S. 14, SG-Akten Bl. 60) setzt dies jeweils das Auftreten derartiger "Schübe" voraus, also ein Krankheitsbild, das durch abgrenzbare Perioden stärkerer und schwächerer Intensität geprägt ist. Beim Kläger dagegen besteht eine derartige Verlaufsform nicht; es handelt sich dabei allenfalls um den ersten (und noch nicht beendeten) "Schub". Deshalb ist auch kein Zeitpunkt bestimmbar, von dem ab die beim Kläger bestehende Erkrankung - bei unverändertem objektivem Befund - nicht mehr durch die schädigende Wirkung der Unfallrestfolgen, sondern von einer nachgewiesenen unfallunabhängigen Ursache, insbesondere von endogenen Krankheitsprozessen, aufrechterhalten würde. Denn ein solcher Sachverhalt könnte erst angenommen werden, wenn greifbare Umstände erkennbar wären, die mit den Unfallfolgen nicht in Verbindung zu bringen wären, diesen vielmehr ihre Tragweite nähmen, und diese Umstände in der Konstitution des Klägers wurzelten sowie sich selbsttätig aus ihr entwickelt hätten (Urteil des BSG vom 12.02.1975 - 9 RV 392/74, SozR 3200, § 81 SVG Nr. 3 S. 18). Solche Umstände sind hier nicht ersichtlich.

Hinsichtlich der Beurteilung der Höhe der unfallbedingten MdE schließt sich der Senat der auf der Grundlage der Einschätzung sämtlicher befragter Sachverständiger nachvollziehbar vorgenommenen Beurteilung des SG an und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG).

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG; Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 SGG) liegen nicht vor. Der Senat hat auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung der Sozialgerichtsbarkeit über die Frage eines tatsächlichen Ursachenzusammenhanges im Einzelfall entschieden.
Rechtskraft
Aus
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