L 2 U 170/00

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 5 U 88/99
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 170/00
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 12.10.2000 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die die Feststellung eines Wirbelsäulenleidens als Berufskrankheit nach der Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV).

Der am ...geborene Kläger absolvierte ab 01.04.1966 eine Lehre zum Schriftsetzer und war nach Abschluss der Lehre bis zum 30.09.1975 überwiegend als Schriftsetzer und ab 01.10.1975 überwiegend als Fotosetzer, Offsetmontierer und Reprobearbeiter bis Dezember 1992 tätig, wobei die Beschäftigung zwischen August 1989 und Juni 1991 halbtags und im Übrigen ganztags erfolgte. Ab 1993 arbeitete der Kläger nicht mehr in seinem Beruf tätig. Aufgrund von nicht die Wirbelsäule betreffenden Erkrankungen war er vom 28.06.1995 bis 01.02.1996 arbeitsunfähig erkrankt und bezog danach eine Erwerbsunfähigkeitsrente.

Am 13.11.1997 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Anerkennung einer Berufskrankheit wegen seiner Rückenbeschwerden. Die Beschwerden hätten sich schon nach seiner Lehrzeit ab Mitte 1969 eingestellt und seitdem immer weiter verstärkt. Nach seiner Auffassung leide er unter dem typischen Setzerrücken. Auf Anfrage der Beklagten teilte der Kläger weiter mit, dass er in seiner von April 1966 bis September 1975 ausgeübten Tätigkeit täglich 10-mal 15 bis 20 kg, 5-mal 20 bis 25 kg und 5-mal 40 kg über eine Strecke von ca. 5 m gehoben und getragen habe. Ein Hebe- und Tragevorgang habe 15 bis 60 s gedauert. Er habe nicht in Bereichen gearbeitet, in denen die Arbeitshöhe weniger als 100 cm betragen habe. Der damalige Arbeitgeber des Kläger gab an, der Kläger habe während seiner Tätigkeit bei ihm keine schweren Lasten gehoben und getragen. Auch seien keine Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung längerfristig ausgeübt worden.

Bezüglich der Zeit von Oktober 1975 bis Mai 1977 gab der Kläger an, er habe 3-mal täglich bis zu 10 kg und 3-mal täglich 10 bis 15 kg über eine Entfernung von 20 m getragen. Der einzelne Vorgang habe 60 s betragen. Er habe auch in dieser Zeit nicht in Bereichen gearbeitet, in denen die Arbeitshöhe weniger als 100 cm betragen habe. Der Arbeitgeber des Kläger gab für diesen Zeitraum an, dieser habe eine hauptsächlich sitzende Tätigkeit verrichtet. Lasten seien nicht gehoben und getragen worden. In der Zeit von Juli 1977 bis Mai 1978 hob der Kläger nach seinen Angaben 5-mal täglich bis zu 10 kg und 3-mal täglich 50 kg. Gegenstände seien über 15 m in 180 s getragen worden. Auch für diesen Zeitraum gab der damalige Arbeitgeber des Kläger an, es seien keine schweren Lasten gehoben und getragen worden. Zeitweise habe der Kläger bei Montagetätigkeiten längerfristig in extremer Rumpfbeugehaltung gearbeitet.

Für Juni 1979 bis Dezember 1992 gab der Kläger an, 5-mal täglich bis 10 kg und 3-mal täglich 50 kg an verschiedenen Arbeitsstellen bis zu 20 m in einer Zeit von bis zu 180 s getragen zu haben. Er habe in diesen wie auch in den vorigen Beschäftigungen an allen Arbeitstagen pro Jahr gehoben und getragen. Der Arbeitgeber, bei dem der Kläger von August 1989 bis Juni 1991 beschäftigt war, gab an, es seien keine schweren Lasten zu heben und zu tragen gewesen. Bei der Montage seien Tätigkeiten in nicht extremer Rumpfbeugehaltung zu verrichten gewesen. Montage sei überwiegend in gebeugter Haltung vorzunehmen, falls Montagetische nicht ergonomisch angepasst (verstellbar) seien. Rumpfbeuge sei teilweise in erheblichem Maße bei der Montagearbeit vorhanden. Es gebe auch in seinem Betrieb hierfür Montagetische, die in der Höhe und in der Schrägstellung verstellbar seien und somit der Montagearbeit des Schriftsetzers angepasst werden könnten. Bei ihm seien derartige Arbeiten durchschnittlich 1 bis 2 Std. täglich ausgeführt worden. Der Arbeitgeber, bei dem der Kläger von Februar 1992 bis Dezember 1992 beschäftigt war, gab an, dass schwere Lasten nicht gehoben und getragen worden seien. Beim Montieren sei in gebeugter Haltung gearbeitet worden. Das Arbeitsverhältnis sei in beiderseitigem Einvernehmen gelöst worden.

Die Beklagte beauftragte ihren Technischen Aufsichtsdienst (TAD) mit der Durchführung weiterer Ermittlungen. In einem Schreiben vom 08.07.1998 führte der TAD aus, dass in der Zeit von 1966 bis 1975 Normalschriftkästen mit einem Gewicht von 12 kg etwa 6-mal am Tag gehoben und getragen worden seien. Brotschriftkästen mit einem Gewicht von ca. 20 bis 25 kg hätten pro Tag 1 bis 2-mal bewegt werden müssen. Im Rahmen der Tätigkeit als Tiegeldrucker in diesem Betrieb sei eine Druckform mit einem Gewicht von 5 kg ohne und etwa 8 bis 10 kg mit Satz im Schnitt am Tag 5 bis 10-mal eingelegt und wieder herausgehoben worden. Ferner hätten pro Woche etwa 4- bis 6-mal Papierriesen mit einem Gewicht von 20 bis 25 kg getragen werden müssen. 1975 bis 1977 habe der Kläger überwiegend in sitzender Tätigkeit, selten in der Bogenmontage gearbeitet. Relativ selten hätten Kunststoffkanister für Entwickler und Fixierer getragen werden müssen. 1977 bis 1979 habe der Kläger überwiegend in stehender, nach vorne gebeugter Haltung gearbeitet. Etwa 2-mal am Tag seien Behälter für die Entwicklerflüssigkeit mit einem Gewicht von ca. 30 kg getragen worden. Von August 1989 bis Dezember 1989 habe der Kläger etwa 4 bis 5-mal pro Tag 10 kg und 1-mal prot Tag einen Kanister mit 30 kg pro Tag gehoben. 10-mal pro Woche habe ein Gewicht von 25 bis 30 kg gehoben und getragen werden müssen. Während seiner Halbtagstätigkeit von August 1989 bis Juni 1991 habe der Kläger maximal 3 Std./Tag in einem Rumpfbeugewinkel von 30 bis 60° und 1 Std./Tag mit einem Rumpfbeugewinkel von über 60°, aber kleiner als 90° gearbeitet.

Ferner zog die Beklagte medizinische Unterlagen bei. Im Befundbericht vom 25.01.1997 des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. B ..., bei dem der Kläger ab 23.10.1995 in Behandlung war, wird beschrieben, dass der Kläger an Bewegungs- und Belastungsschmerzen der Lendenwirbelsäule mit Ausstrahlung in die Beine leide und unter Myalgien der Rückenstrecker bei Vorhalte, ferner zeitweise unter Parästhesien des lateralen Fußrandes rechts. Er habe eine Bewegungseinschränkung bei Seitbewegung und Rotation der Lendenwirbelsäule erhoben und einen Druckschmerz und Myogelosen im Lendenwirbelsäulenbereich festgestellt. Der Finger-Boden-Abstand habe 30 cm betragen, die Sensibilität der unteren Extremitäten sei unauffällig gewesen. Der Kläger habe angegeben, seit der Lehre als Schriftsetzer unter rezidivierenden Rückenschmerzen zu leiden, die immer wieder Behandlungen erforderlich gemacht hätten. Dr. B ... diagnostizierte ein rezidivierendes lokales Lendenwirbelsäulen- und rezidivierendes Cervicobrachial-Syndrom.

Der praktische Arzt Dr. R ... gab im Befundbericht vom 05.02.1998 an, er habe den Kläger erstmals im Juni 1992 wegen Wirbelsäulenbeschwerden behandelt und eine eingeschränkte Anteflexion bei Druckschmerz des 5. LWK festgestellt. Arbeitsunfähigkeit wegen der Wirbelsäulenbeschwerden habe nicht bestanden.

In einem Gutachten, das auf Veranlassung der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) nach einer Untersuchung am 10.07.1996 erstellt wurde, wird beschrieben, dass die Wirbelsäule ohne gravierende Bewegungseinschränkung, Klopf- oder Druckschmerz sei. Der Finger-Boden-Abstand habe 10 cm betragen, das Ott sche Zeichen 30/33 cm, das Schobersche Zeichen 10/17 cm. Der Kläger habe über ein Lumbalsyndrom bei uneingeschränkter vertebragener Beweglichkeit und bei Fehlen von Radikulärzeichen geklagt.

Ein am 15.04.1997 vom Facharzt für Orthopädie K ... erhobener Befund ergab folgendes Ergebnis:

"FBA 0 cm, Wirbelsäule ap gerade, erhebl. thorak. dorsal Überhang, Kyphosescheitel, leicht fall. Schultern, Sensibilität seitengleich ob. extr., Reflexe seitengleich schwach. HWS-Beweglichkeit: KJA: 0/17 cm, Seitneige: 30/0/30, Gesamtrotation re./li.: 60/0/60, Federungsschmerz in fix. Hyphosescheitel, Federungsschmerz LWS, stärker in BWS, Valleix sche Punkte negativ, Sensibilität seitengleich, PSR bds. (+), ASR (+), Motorik Janda 5 bds. Hüftgelenkbeweglichkeit: AR/ER. re./li.: 40/0/5 50/0/5."

Röntgenbilder vom 19.05.1997 wurden wie folgt interpretiert:

"19.05.1997: Rö: LWS in 2 Ebenen im Stehen: Ap: Beckengeradstand. ISG li. unvollständig abgebildet. Dezent dorsolumbal linkskonvexe Seitabweichung, Linksrotation, erhebl. Dornfortsatzkontaktspuren L3-5, in Interartikularportion sklerosiert. Seitl.: Sacrum arcuatum, ventral geneigt. Ventral positioniert, glatt begrenzt L5 gegen S1. Leichte Höhenminderung, unscharfe Grund- und Deckplattenbegrenzung L4/5. Kranialwärts durchgehend bikonkave WK-Ausbildung. L1-Lot dorsal verlagert. Facettengelenke unscharf, Interartikularportion L5 offenbar bds. unterbrochen.

19.05.1997: Rö: BWS in 2 Ebenen im Stehen: Ap: Lotrecht, Neutralrotation. Ausgeprägt wellig-sklerotische Grund- und Deckplattenbegrenzungen, leichte Kantenausziehungen, Asymmetrie. Seitl.: Hyperkyphose, Scheitel untere BWS. Erhebl. trapezoide WK-Ausprägungen, Elongation, vz. SCHMORL sche Impressionen, Thoraxrotation. Dorsalüberhang."

In einer Stellungnahme des Sächsischen Landesinstitutes für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin vom 13.08.1998 führte der Facharzt für Arbeitsmedizin Dr. N ... aus, dass weder die arbeitstechnischen noch die medizinischen Voraussetzungen für das Vorliegen einer BK Nr. 2108 gegeben seien. Mit Bescheid vom 12.10.1998 lehnte daraufhin die Beklagte die Anerkennung einer BK Nr. 2108 ab.

In der Begründung des Widerspruchs gegen den Bescheid führte der Kläger aus, dass sich aus den Untersuchungen und Röntgenaufnahmen bei Herrn Dipl.-Med. K ... am 19.05.1997 ergebe, dass sein Krankheitsbild dem der BK 2108 entspreche. Damit lägen die medizinischen Voraussetzungen vor. Die Arbeitsplatzanalysen seien nicht in Übereinstimmung mit den tatsächlichen Gegebenheiten erstellt worden. Hinsichtlich der gegen die Arbeitsplatzanalysen vorgebrachten Einwendungen im Widerspruchsschreiben wird auf Bl. 121 f. der Verwaltungsakte Bezug genommen. Insoweit verwies der Ast. ausdrücklich darauf, dass die nunmehr gemachten Angaben (mit höheren Belastungsziffern) der Wahrheit entsprächen und ihm bei der Stellung der von ihm gemachten Angaben am 23.12.1997 nicht mehr so geläufig gewesen seien, bzw. dass er ihre Wichtigkeit unterschätzt habe. Die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK Nr. 2108 lägen ebenfalls vor.

Mit Bescheid vom 24.02.1999 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Am 25.03.1999 ist Klage vor dem Sozialgericht Dresden (SG) erhoben worden.

Im Klageverfahren ist nochmals vorgetragen worden, dass die von der Beklagten durchgeführten Arbeitsplatzanalysen nicht immer korrekt gewesen seien und die belastende Tätigkeit des Kläger nur ungenügend widergespiegelt hätten. Insoweit wird auf Bl. 4 ff. und Bl. 39 der SG-Akte verwiesen. Auch die medizinischen Voraussetzungen lägen vor. Dies ergebe sich insbesondere aus den von Dr. K ... am 19.05.1997 gefertigten Röntgenbildern. Die 1992 gefertigten Röntgenaufnahmen könnten als Nachweis für bereits damals bestehende Beschwerden nicht vorgelegt werden, da die seinerzeit gefertigten Aufnahmen und Befunde nicht mehr existierten.

Mit Gerichtsbescheid vom 12.10.2000 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK Nr. 2108 der Anlage zur BKV auch dann nicht vorlägen, wenn die im Laufe des Klageverfahrens gemachten Angaben zur Hebe- und Tragehäufigkeit als richtig angenommen würden. Der Kläger habe nach eigenen Angaben lediglich 8 bis 10-mal täglich Gewichte von ca. 30 bis 40 kg gehoben. Damit werde die Frequenz von 40 Hebe- oder Tragevorgängen, wie sie vom Sachverständigenbeirat beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (Sektion Berufskrankheiten) herausgegebenen Merkblatt zur BK 2108 als beispielhaft für eine bandscheibengefährdende Tätigkeit aufgeführt seien, bei weitem nicht erreicht. Auch habe der Kläger keine Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung ausgeübt. Hierunter seien Arbeiten in Arbeitsräumen zu verstehen, die niedriger als 100 cm seien und damit eine ständig gebeugte Körperhaltung erzwängen. Außerdem müsse der Oberkörper aus der aufrechten Haltung um mehr als 90° gebeugt werden. Der Kläger habe jedoch allenfalls gelegentlich mit einem Rumpfbeugewinkel von 80° bis 90° gearbeitet. Rumpfbeugehaltungen von mehr als 90° ließen sich den vorgelegten Unterlagen nicht entnehmen. Des Weiteren lägen die medizinischen Voraussetzungen nicht vor. Dem Befund von Dr. R ... vom 05.02.1998 lasse sich mit genügender Deutlichkeit entnehmen, dass die Erkrankung der Lendenwirbelsäule 1992 nicht so stark ausgeprägt gewesen sei, dass sie zur Aufgabe der Tätigkeit als Schriftsetzer, Tiegeldrucker, Papierschneider und -verarbeiter gezwungen habe. Nach Angaben von Dr. R ... habe im Juni 1992 lediglich eine eingeschränkte Anteflexion mit Druckschmerz im Bereich des 5. Lendenwirbelkörpers, die keine Arbeitsunfähigkeit zur Folge gehabt habe, vorgelegen.

Gegen den mit Einschreiben vom 24.10.2000 zugestellten Gerichtsbescheid ist am 24.11.2000 Berufung eingelegt worden. Zur Begründung der Berufung hat der Kläger vorgetragen, dass das Ergebnis der durch den TAD durchgeführten Arbeitsplatzanalysen nicht seinen tatsächlichen beruflichen Gegebenheiten während der Tätigkeit von April 1966 bis September 1975 entsprochen habe. In dieser Zeit habe er tatsächlich pro Tag mindestens 20-mal Gewichte zwischen 15 und 40 kg heben müssen, wobei bei ca. einem Drittel der Hebevorgänge eine Rumpfbeugehaltung von mehr als 90° erforderlich gewesen sei; hauptsächlich beim Herausziehen und Emporheben der größeren Grade von Bleischriftkästen (ca. 40 kg), die wegen ihres hohen Gewichtes in den unteren Schubladen des Schriftenregales gelagert worden seien und auf eine Höhe von 110 cm gehoben und abgestellt worden seien. Dies sei ebenso beim Aufheben und Tragen von Papierriesen geschehen, die in der Regel zu mehreren bewegt worden seien. Die Tätigkeit von Juli 1977 bis Dezember 1992 habe fast ausschließlich in der Offsetmontage bestanden. Diese Tätigkeit sei stehend und mit einer Rumpfbeugehaltung bis 90° und darüber ausgeführt worden. In dieser Zeit habe er Filmchemikalien in Kanistern heben und tragen müssen wie auch Stapel von Bogenmontagen mit einem Gewicht von bis zu 50 kg. Insoweit halte er es für erforderlich, als Zeugen jemanden zu hören, der heute noch täglich die Arbeit des Schriftsetzers und Offsetmontierers ausführe. Auch die medizinischen Voraussetzungen seien erfüllt. Sie ergäben sich schon aus dem Bericht des Orthopäden K ... vom 27.05.1997, der sich mit dem Krankheitsbild der BK Nr. 2108 decke. Nicht als maßgeblich angesehen werden könne der Befund von Dr. R ... Da diesem bei einem Umzug sowohl seine Befunde als auch die Röntgenbilder von 1992 abhanden gekommen seien, sei der Befundbericht vom 05.02.1998 ohne konkrete Anhaltspunkte aus der Erinnerung von Dr. R ... entstanden. Er könne somit nicht als beweiskräftig angesehen werden.

Ferner übersandte der Kläger dem Berufungsgericht einen Befundbericht von Dr. M ..., Facharzt für Orthopädie, vom 05.12.2000. In diesem Befundbericht wird u. a. ausgeführt, dass bei einem Finger-Boden-Abstand von 20 cm die Rückwärtsbeugung und Seitneigung um die Hälfte eingeschränkt seien. Im cervicalen und lumbalen Bereich fänden sich keine Nervenwurzelkompressionserscheinungen. Das Röntgenbild von Halswirbelsäule, Brustwirbelsäule und Lendenwirbelsäule zeige in der Seitenansicht eine Hyperlordose, ferner eine unvollständige Blockwirbelbildung C5-C6 und einen Verschleiß der Wirbelbogengelenke im mittleren Drittel. Die Seitenansicht zeige eine langgezogene verstärkte Brustkyphose mit abgeflachten Wirbelkörpern Th 9 und Th 10, im Scheitelpunkt der Brustkyphose vereinzelt vordere Spondylophyten. Der Bandscheibenraum L4-L5 sei etwas verschmälert. Dr. M ... diagnostizierte spondylarthrotische Veränderungen der Halswirbelsäule bei Hyperlordose, eine Spondylose der Brustwirbelsäule und Lendenwirbelsäule, ferner eine kyphotische Fehlhaltung der Brustwirbelsäule, eine Zusammensinterung des Wirbelkörpers Th 10 und rezidivierende Lumbalgien bei zweifachem Bandscheibenschaden.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 12.10.2000 mit dem Bescheid der Beklagten vom 12.10.1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.02.1999 aufzuheben und das Vorliegen der Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage zur BKV festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten aus beiden Rechtszügen und die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Die Voraussetzungen des hier anzuwendenden § 551 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) i. V. m. der Nr. 2108 der Anlage zur BKV liegen nicht vor.

Anzuwenden sind die Bestimmungen der Reichsversicherungsordnung (RVO), da der Versicherungsfall nur nach dem 31.12.1991 und vor dem 01.01.1997, dem Tag des Inkrafttretens des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) eingetreten sein kann (§§ 212, 215 Abs. 1 SGB VII).

Gemäß § 1150 Abs. 1 RVO gelten die §§ 548 ff., die leistungsrechtlichen Vorschriften der RVO, im Beitrittsgebiet grundsätzlich nur für Arbeitsunfälle (einschließlich der Berufskrankheiten, § 551 Abs. 1 Satz 1 RVO), die nach dem 31.12.1991 eingetreten sind. Entscheidend für den Eintritt einer Berufskrankheit ist der Zeitpunkt des Versicherungsfalles (Ricke in: Kasseler Kommentar, § 1150 RVO Rdnr. 2). Darunter ist der Zeitpunkt zu verstehen, zu dem sich die Gefährdungen realisiert haben, vor denen die gesetzliche Unfallversicherung Schutz gewähren soll, somit der Zeitpunkt des Eintritts jedes Gesundheitsschadens, der die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale einer Berufskrankheit erfüllt (Mehrtens/Perlebach, Berufskrankheitenverordnung, Kommentar, E § 9 SGB VII Rdnr. 42 S. 97 m. w. N.).

Die Voraussetzungen für den Eintritt des Versicherungsfalles "Berufskrankheit" sind somit gegeben, sobald die schädigende Einwirkung einen regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand verursacht hat, der die Krankheitsmerkmale eines Berufskrankheitentatbestandes erfüllt, und wenn gegebenenfalls erforderliche besondere Merkmale, insbesondere die Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten erfüllt sind (Bereiter/Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Handkommentar, Loseblatt, § 9 SGB VII, Rdnr. 7; Koch in: Schulin, Handbuch des Versicherungsrechts, Bd. 2 § 35 Rn. 19, 1. Aufl. 1996 S. 678).

Da der Kläger bis zum 31.12.1992 in der als wirbelsäulenbelastend geltend gemachten Tätigkeit gearbeitet hat und diese Tätigkeit auch ausüben konnte, kommt als Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles jedenfalls kein vor dem 31.12.1992 bzw. nach dem 31.12.1996 liegender Zeitpunkt in Betracht. Damit ist § 551 RVO i. V. m. der BKV anzuwenden.

Die Feststellung einer BK Nr. 2108 - bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können - ist jedoch nicht möglich, da weder die medizinischen Voraussetzungen vorliegen (2) noch der so genannte Unterlassungszwang (3) gegeben ist. Ob das Vorliegen der sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen (1) bejaht werden kann, kann demzufolge dahinstehen.

1. Hinsichtlich des Vorliegens der arbeitstechnischen Voraussetzungen ist zunächst festzuhalten, dass der Kläger keine Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung im Sinne der BK Nr. 2108 ausgeführt hat. Diese Voraussetzung ist zum Beispiel gegeben, wenn Tätigkeiten in Arbeitsräumen ausgeführt werden, die niedriger als die Körperhaltung sind und daher eine überwiegend gebeugte Haltung des Oberkörpers erzwingen. Hier kommen z. B. in Betracht Tätigkeiten unter Tage im Bergbau in Gängen, die eine Arbeitshöhe von ca. 1 m haben. Des Weiteren denkbar ist eine derartige Tätigkeit z. B. bei Kesselreinigern, die Kessel von innen reinigen und hierbei sich ebenfalls in überwiegend gebeugter Haltung befinden. Ferner werden Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung ausgeführt, wenn bei den jeweiligen Tätigkeiten der Oberkörper aus der aufrechten Haltung um mehr als 90° gebeugt wird, der Winkel zwischen Oberschenkel und Oberkörper somit kleiner als 90° ist (Mehrtens/Perlebach, Die Berufskrankheitenverordnung, Kommentar, M 2108, S. 20). Die vom Kläger ausgeübte Tätigkeit ist weder mit einer Tätigkeit wie der von unter Tage arbeitenden Bergarbeitern noch von Kesselreinigern vergleichbar. Bei den von ihm ausgeübten Tätigkeiten kann allenfalls im Extremfall ein Rumpfbeugewinkel von 90° erreicht worden sein. Es ist schlechterdings nicht vorstellbar, dass an Schreibtischen stehend mit einem Rumpfbeugewinkel von mehr als 90° gearbeitet wird, was bedeuten würde, dass sich das Gesäß in einem größeren Abstand zum Boden befindet als der Kopf. Das bestätigen auch die vom Kläger im Verfahren vorgelegten Fotografien. Aus dem Vorbringen des Kläger, er habe sich beim Anheben von Lasten in extremer Rumpfbeugehaltung befunden, ergibt sich nichts anderes. Derartige, naturgemäß kurzdauernde extreme Rumpfbeugehaltungen stellen keine Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung i. S. d. BK Nr. 2108 dar.

Des Weiteren hat der Senat ernsthafte Zweifel daran, dass der Kläger in ausreichendem Maße schwer gehoben und getragen hat. Insoweit können nur Lasten von einem Gewicht, dessen regelmäßiges Heben oder Tragen mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung bandscheibenbedingter Erkrankungen der Lendenwirbelsäule verbunden sind, berücksichtigt werden. Dies bedeutet, dass - sofern man den im "Merkblatt für die ärztliche Untersuchung" (Bek. des BMS, BArbBl 3/93, S.50, abgedr. in Mehrtens/Perlebach, aaO., S. 7; im Folgenden: Merkblatt) enthaltenen Angaben folgt, dass bei Männern im Alter zwischen 18 und 39 Jahren Lastgewichte ab einem Gewicht von 25 kg und bei Männern ab 40 Jahren Lastgewichte ab einem Gewicht von 20 kg berücksichtigt werden können.

Der Kläger hat, folgt man den zuletzt von ihm gemachten Angaben, während der gesamten Dauer seiner Tätigkeit vom 01.04.1966 bis zum 30.9.1975 arbeitstäglich "mindestens zwanzig Mal Gewichte zwischen 15 und 40 kg heben müssen". Geht man zugunsten des Kläger ("mindestens") davon aus, daß er belastungsrelevante Gewichte (ab 25 kg) zwanzigmal gehoben hat, und nimmt man die von ihm im Verwaltungsverfahren angegebene Höchstdauer vom 180 Sekunden (3 Minuten) je Vorgang an (tatsächlich hat er in der Mehrzahl die Bewegungsdauer mit nur 60 Sekunden eingeschätzt), dann erreicht man mit (20 x 3 =) 60 Minuten nur etwa den achten Teil der täglichen Gesamtarbeitszeit.

Auch dann, wenn neben der reinen zeitlichen Beanspruchung als solcher die Zahl der Hebevorgänge je Arbeitsschicht als ein weiteres (alternatives) Belastungskriterium heranzuziehen wäre (im Merkblatt a.a.O. - IV. Weitere Hinweise - werden beispielhaft Stahlbetonarbeiter genannt, die ca. 40 mal pro Schicht Gewichte von mehr als 20 kg zu heben oder zu tragen hatten), sind die Kriterien dafür nicht erfüllt. Denn soweit der Kläger für die Zeit von 1966 bis 1975 angegeben hat, er habe mindestens zwanzig Mal pro Tag Gewichte zwischen 15 und 40 kg heben müssen, ist ungeachtet dessen, dass bei Männern ab einem Alter von 18 Jahren erst Lastgewichte ab 25 kg als beachtlich anzusehen sind (s. o.), festzuhalten, dass der vom Kläger damit selbst angegebene Umfang der Hebe- und Tragetätigkeit unter dem Blickwinkel der Frequenz nicht ausreichen dürfte, die Ursächlichkeit dieser Tätigkeit für sein Wirbelsäulenleiden zu begründen. Eine arbeitstägliche Belastung von ca. Vorgängen ist so weit von dem entfernt, was als Erfahrungswert - 40 Hebe- und Trage-Bewegungseinheiten - sonst herangezogen wird, dass ein Kausalzusammenhang ausscheiden dürfte. Gleiches gilt für die später ausgeübten Tätigkeiten.

Ob der Kläger Lasten in einem für die Anerkennung einer BK Nr. 2108 ausreichenden Umfang gehoben und getragen hat, kann jedoch letztlich dahinstehen, da jedenfalls die medizinischen Voraussetzungen für die Anerkennung dieser Berufskrankheit nicht vorliegen.

2. Hinsichtlich des Vorliegens der medizinischen Voraussetzungen für die Feststellung einer BK Nr. 2108 ist zum einen erforderlich, dass bildtechnisch (Röntgenbild, CT, MRT) und klinisch nachweisbare segmentale Bandscheibenveränderungen mit das altersdurchschnittlich zu erwartende Ausmaß überschreitenden Folgen vorhanden sind. Zum anderen muss eine mit diesen bildtechnisch nachweisbaren Veränderungen korrelierende Funktionseinschränkung vorhanden sein. In Betracht kommen lediglich bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule. Angesichts dessen, dass bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule sich mit zunehmenden Alter nicht bessern, sondern eher verschlechtern, kann jedoch dann, wenn zu einem späteren Zeitpunkt keine derartige Erkrankung vorliegt, für den früheren Zeitpunkt geschlossen werden, dass eine solche Erkrankung ebenfalls nicht vorlag.

Aus den vom Kläger vorgelegten Befundberichten vom 27.05.1997 und 05.12.2000 bzw. dem Röntgenbefund vom 19.04.1997 ergibt sich entgegen der Ansicht des Kläger keine das Altersmaß überschreitende bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule. So ist im Röntgenbefund vom 19.05.1997 lediglich eine leichte Höhenminderung L5/S1 beschrieben. Im Befundbericht vom 05.12.2000 ist ein etwas schmalerer Bandscheibenraum L4/L5 beschrieben; der Bandscheibenraum L5/S1 wurde von Dr. M ... somit als normal hoch angesehen. Die in den Befundberichten beschriebenen knöchernen Veränderungen lassen keinerlei Hinweis auf eine dennoch vorliegende, das Altersmaß übersteigende bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule zu. In sämtlichen vorhandenen Unterlagen ist darüber hinaus eine normale Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule beschrieben (im Befundbericht vom 05.12.2000 ein Finger-Boden-Abstand von 20 cm, im auf Veranlassung der BfA erstellten Gutachten von Juli 1997 ist eine uneingeschränkte Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule bei Fehlen von Radikulärzeichen beschrieben und im Befundbericht vom 11.01.1998 ein Finger-Boden-Abstand von 9 cm). Soweit der Kläger auf knöcherne und bandscheibenbedingte Veränderungen im Bereich der Brustwirbelsäule hinweist, hat dies keinerlei Relevanz hinsichtlich der Feststellung einer BK Nr. 2108.

3. Angesichts dessen, dass das Vorliegen einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule (in einem das Altersmaß übersteigenden Umfang) nicht festzustellen ist, kann auch der so genannte Unterlassungszwang, der nur Folge einer solchen Erkrankung sein kann, nicht bejaht werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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