L 2 U 47/96

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 14 U 240/96
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 47/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 04.11.1996 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob beim Kläger eine Berufskrankheit nach DDR-Recht (Staubbronchitis) vorliegt und ob er deswegen Anspruch auf eine Verletztenrente hat.

Der am ... geborene Kläger war als Kind wegen doppelseitiger Bronchiallymphknotentuberkulose mit Streuung in das rechte Lungenunterfeld in einer Heilstätte behandelt worden. Als Jugendlicher absolvierte er vom 1.9.1966 bis 31.8.1969 eine Lehre als Handformer in einer Gießerei. Vom 1.9.1969 bis 4.4.1970 arbeitete er als Handformer. Danach war er bis Februar 1984 als Kernmacher (im Bereich der Kleinkernmacherei, der Sandaufbereitung und der CO2- Kernmacherei) tätig. Von März 1984 bis April 1985 war er als Ofenarbeiter eingesetzt. Von Mai 1985 bis November 1989 arbeitete er in unterschiedlichen, staub- und sonstigen gießereitypisch schadstoffbelasteten Bereichen als so genannter Springer. Im November 1988 erkrankte der Kläger an einer Lungenentzündung. Danach war er in seiner Leistungsfähigkeit erheblich eingeschränkt. Im Dezember 1989 kam es aus gesundheitlichen Gründen zu einer endgültigen innerbetrieblichen Umsetzung auf einen schadstoffarmen Arbeitsplatz. Seither arbeitet er als Disponent. Den einen Teil der Arbeitszeit verbringt er im Freien (Lagerplatz), den anderen in einer großen Halle. Hier arbeitet er an einer Säge mit Kühlschmierstoff.

Der den Kläger behandelnde Facharzt für Allgemeinmedizin G ..., zugleich früherer Arzt des Betriebes in dem der Kläger arbeitete und noch immer arbeitet, übersandte am 30.5.1991 an die Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft B ... die Abschrift eines an das Institut für Arbeitshygiene, Abteilung Pneumokoniosen, in Z ... gerichteten Schreibens vom 30.1.1991. In dem dortigen Schreiben bat er diese Einrichtung um Mitteilung des Sachstandes bezüglich der vom ihm im Juni 1989 erstatteten Verdachtsmeldung einer Berufskrankheit, zumal im September 1989 eine Messung am Arbeitsplatz erfolgt sei. Auf Anfrage der Berufsgenossenschaft teilte der Leiter der Arbeitshygieneinspektion C ... am 23.7.1991 mit, ein entsprechender Vorgang sei ihm nicht bekannt. Die Berufsgenossenschaft übersandte im April 1992 dem Dipl.-Med. G ... einen Vordruck "Ärztliche Anzeige über eine Berufskrankheit", den er am 4.5.1992 dahingehend ausfüllte, dass der Kläger seit etwa 1987 unter einer chronisch- obstruktiven Bronchitis mit Partialinsuffizienz leide. Diese sei durch eine 20-jährige Tätigkeit als Kernmacher, Schmelzer und Ofenarbeiter in der Gießerei des Getriebewerkes P ... entstanden (Blatt 7 der Beklagtenakte). Beigefügt war der Anzeige ein Arztbrief der Fachärztin für Innere Medizin F ... vom 23.3.1989, die beim Kläger die oben genannte Diagnose gestellt hatte (Blatt 8 der Beklagtenakte). Am 9.9.1992 erstattete auch die F ... GmbH eine "Anzeige des Unternehmers über eine Berufskrankheit" (Blatt 16 der Beklagtenakte).

Mit Bescheid des Amtes für Familie und Soziales C ... - Versorgungsamt - vom 1.7.1992 - wurde dem Kläger wegen beidseitiger Schwerhörigkeit und Lungenfunktionsbeeinträchtigung ein Grad der Behinderung (GdB) von 60 zuerkannt. Verwaltungsintern wurde die Lungenfunktionsbeeinträchtigung mit einem GdB von 20 bewertet.

Auf Anfrage der Berufsgenossenschaft teilte der Kläger am 12.11.1992 mit, dass Atembeschwerden erstmals bei der Arbeit in der Gießerei aufgetreten seien. Dies sei ab Sommer 1988 verstärkt der Fall gewesen. Er habe unter Atemnot gelitten und sei öfters krank gewesen.

Mit Schreiben vom 2.6.1993 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie nunmehr zuständig sei (Blatt 30 der Beklagtenakte). Im Wege der Amtshilfe erstellte der Technische Aufsichtsdienst der Süddeutschen Metall-Berufsgenossenschaft eine Expositionsanalyse. Sie kam zum Ergebnis, dass der Kläger langjährig in hohem Maße Quarzfeinstaub und zumindest kurzzeitig hohen Belastungen an gießereitypischen Schadstoffen ausgesetzt war. Konkrete Werte konnten nicht ermittelt werden. Wegen der Einzelheiten wird auf Blatt 38 bis 41 der Beklagtenakte verwiesen.

Der von der Beklagten mit der Erstellung eines lungenfachärztlichen Gutachtens beauftragte Sachverständige Dr. F ... kam am 15.4.1994 zu dem Ergebnis, dass der Kläger unter einer schweren Obstruktion der kleinen Atemwege leide. Der Atemwegswiderstand sei mittelgradig erhöht. Jedoch sei der Kläger bereits seit seiner Lehrzeit gehäuft wegen akuter Atemwegserkrankungen arbeitsunfähig gewesen. Die bronchiale Obstruktion und das generalisierte Lungenemphysem hätten sich auf infektbedingter Grundlage entwickelt. Hierfür spreche neben der Erkrankungshäufung seit 20 Jahren, dass die Obstruktion trotz Arbeitsplatzwechsels im Jahre 1989 zugenommen habe. Dies indiziere einen berufsunabhängigen Verlauf der Erkrankung. Die obstruktive Emphysembronchitis des Klägers sei nicht mit Wahrscheinlichkeit auf seine berufliche Tätigkeit zurückzuführen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf Blatt 52 bis 63 der Beklagtenakte verwiesen. In seiner gewerbeärztlichen Stellungnahme empfahl Dr. J ..., den Schlussfolgerungen des Gutachtens von Dr. F ... zu folgen.

Mit Bescheid vom 18.7.1994 lehnte die Beklagte die "Anerkennung von Berufskrankheiten und Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung" ab. Der Widerspruch des Klägers wurde durch Widerspruchsbescheid vom 11.7.1996 zurückgewiesen.

Das Sozialgericht Chemnitz (SG) hat die vom Kläger erhobene Klage ohne weitere eigene Ermittlungen durch Urteil vom 04.11.1996 abgewiesen. Es ist hierbei dem Sachverständigen Dr. F ... gefolgt. Die einzelnen Erkältungen seien jedoch, soweit sie beruflich verursacht worden seien, Arbeitsunfälle.

Mit seiner dagegen eingelegten Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Zur Begründung hat er ausgeführt, nach Einschätzung von Dipl.-Med. G ... sei die Zahl der Erkrankungstage bis 1988 durchschnittlich gewesen und legt hierzu ein Schreiben von Dipl.-Med. G ... vom 31.1.1997 vor (Blatt 38 f. der LSG-Akte).

Der Senat hat beim Landratsamt M ... archivierte Krankenunterlagen und die Behandlungsunterlagen von Dipl.-Med. G ... beigezogen sowie Dr. F ... mit Schreiben vom 15.12.1997 um eine ergänzende gutachtliche Stellungnahme gebeten. Dr. F ... hat dabei die Möglichkeit der Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 81 der Ersten Durchführungsbestimmung zur Verordnung über die Verhütung, Meldung und Begutachtung von Berufskrankheiten - Liste der Berufskrankheiten - vom 21.4.1981, GBl. I. Nr. 12 S. 139 (im Folgenden: BK-Nr. 81 BKVO-DDR) und die Möglichkeit der Anerkennung einer Staubbronchitis im Sonderentscheidverfahren diskutiert. Eine Berufskrankheit nach BK-Nr. 81 BKVO-DDR hat er schon wegen nicht hinreichender Exposition verneint. Unklar sei im Falle der Staubbronchitis, ob die Voraussetzungen für eine ausreichende Schadstoffbelastung vorlägen. Jedoch müsse aus den schon im Verwaltungsgutachten genannten Gründen davon ausgegangen werden, dass die Bronchitis nicht berufsbedingt entstanden sei. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf Blatt 73 bis 79 der LSG-Akte verwiesen. Auf Bitte des Senats hat Dr. F ... die von ihm zitierte DDR-Literatur übersandt (Blatt 86 bis 109 der LSG-Akte).

In Reaktion hierauf hat der Kläger geltend gemacht, er habe ab 1984 fünf Jahre direkt am Ofen gearbeitet. Lediglich dort sei er als Springer eingesetzt worden. Die von Dr. F ... auf das Jahr 1983 datierte erste Verdachtsmeldung stammende jedoch aus dem Jahre 1988. Die Bronchitis habe sich also nicht schon nach 13-jähriger Tätigkeit gezeigt, wie Dr. F ... geäußert habe, sondern erst nach einer Expositionsdauer von 22 Jahren (1966 bis 1988). Der Kläger sei auch immer in den Gießereiprozess mit einbezogen gewesen, weil es in der Halle, in der er gearbeitet habe, keine Trennwände gegeben habe.

Hierauf hat Dr. F ... in einer weiteren ergänzenden Stellungnahme zwar eingeräumt, dass die Verdachtsmeldung vom 02.06.1989 stamme und sich auf einen Facharztbefund vom 10.11.1988 beziehe. Es könne daher eine chronische Atemwegserkrankung vor 1988 nicht belegt werden. Im Übrigen hat der Sachverständige an seinen Schlussfolgerungen festgehalten (Blatt 139 f. der LSG-Akte).

Die von ihm verrichteten Tätigkeiten hat der Kläger in seinem Schriftsatz vom 27.04.1999 ausführlich erläutert (Blatt 174 bis 181 der LSG-Akte) und die Kopie eines handschriftlichen Vermerks des Betriebs für die Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft B ... vom 10.12.1992 über Staubkonzentrationswerte (Blatt 182 f. der Gerichtsakte) sowie Kopien der Reihenuntersuchungsberichte aus den Jahren 1973 bis 1981 und 1984 (Blatt 188 bis 193 der LSG-Akte) vorgelegt. Ferner hat der TAD der Süddeutschen Metall- Berufsgenossenschaft eine ergänzende Stellungnahme vorgelegt (Blatt 213 f. der LSG-Akte), die wiederum zum Ergebnis hat, dass der Kläger langjährig hohen Konzentrationen von Quarzfeinstaub ausgesetzt gewesen sei. Das Staatliche Gewerbeaufsichtsamt C ... hat dem TAD am 8.7.1999 mitgeteilt, der Betrieb des Kläges habe die zulässigen Staubwerte überschritten, der deshalb einen Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung gestellt habe. Die Gießerhalle habe nach den vorliegenden Kennzahlen eine hohe Staubexposition aufgewiesen. Im Betrieb des Kläges seien von 1978 bis 1988 26 Berufskrankheiten-Fälle anerkannt worden, welche teilweise auf die hohe Staubbelastung zurückzuführen seien.

Der Senat hat einen Befundbericht bei Dipl.-Med. G ... eingeholt, dem diverse Behandlungsunterlagen beigefügt waren. Durch Beweisanordnung vom 29.11.2000 hat der Senat Prof. Dr. N ... zum Sachverständigen ernannt und bei ihm ein lungenfachärztliches Gutachten nach Aktenlage eingeholt, das der Sachverständige am 14.12.2000 erstellt hat. Er ist zu dem Ergebnis gekommen, dass unter Zugrundelegung der Grobstaubmenge der Kläger nicht die Expositionsvoraussetzungen für eine Staubbronchitis nach BK-Nr. 81 BKVO-DDR Sonderentscheid erfülle. Lege man hingegen die Feinstaubmenge zugrunde und setze ihre Grenzwertüberschreitungen in das von den Begutachtungsrichtlinien vorgesehene Verhältnis von ausreichender Schadstoffbelastung und Grenzwertüberschreitungen bei der Grobstaubmenge, sei der Kläger einer ausreichenden Belastung ausgesetzt gewesen. Der lungengängige Feinstaub sei auch die eigentliche Gefahr für die Entstehung von Bronchialerkrankungen. Der Kläger leide seit den siebziger Jahren an einer sich allmählich entwickelnden Bronchitis. Diese sei auch mit Wahrscheinlichkeit auf den eingeatmeten Feinstaub zurückzuführen. Der Grad des Körperschadens werde entsprechend den mitgeteilten Vorgaben auf 50 % geschätzt. Wegen der Einzelheiten wird auf Blatt 276 bis 294 der LSG-Akte verwiesen. Der Senat hat ferner eine ergänzende Stellungnahme beim Staatlichen Gewerbeaufsichtsamt C ... eingeholt (Blatt 317 bis 330 der LSG-Akte).

Der Kläger vertritt die Auffassung, dass der Feinstaub maßgeblich sei. Die Begutachtungs-Empfehlungen, die in dem im Zentralinstitut für Arbeitsmedizin der DDR entstandenen Aufsatz (Blatt 96 bis 109 der LSG-Akte) ausgesprochen seien, seien nicht verbindlich.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 4.11.1996 sowie den Bescheid der Beklagten vom 18.7.1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.7.1996 aufzuheben, festzustellen, dass beim Kläger eine Berufskrankheit nach BK- Nr. 81 BKVO-DDR Sonderentscheid (Staubbronchitis), hilfsweise eine Berufskrankheit nach BK-Nr. 81 BKVO-DDR vorliegt, und die Beklagte zur Gewährung einer Verletztenrente zu verurteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie vertritt die Auffassung, die Bewertung des ursächlichen Zusammenhangs ausschließlich auf der Grundlage des Feinstaubes sei nicht gesichert. Sie regt eine Anfrage beim Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften an und verweist auf die von ihr eingeholte gewerbeärztliche Stellungnahme vom 8.2.2001 (Blatt 306 f. der LSG-Akte). Im Übrigen hält sie weiterhin das Gutachen von Dr. F ... für zutreffend.

Dem Senat liegen die Verfahrensakten beider Rechtszüge, die Verwaltungsakte der Beklagten und der Süddeutschen Metall- Berufsgenossenschaft, die Schwerbehindertenakte die Behandlungsunterlagen des Krankenhauses P ... und die des Dipl.-Med. G ... ler vor. Ferner hat der Senat Akten der Arbeitshygieneinspektion über den Betrieb des Kläges beigezogen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Das SG hat im Ergebnis zu Recht die Bescheide der Beklagten bestätigt. Sie verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten.

Beim Kläger liegt weder eine Berufskrankheit nach BK-Nr. 81 BKVO-DDR Sonderentscheid (Staubbronchitis) noch eine Berufskrankheit nach BK-Nr. 81 BKVO-DDR vor. In beiden Varianten steht nicht zur vollen Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger unter Zugrundelegung der nach DDR-Recht geforderten Expositionswerte in ausreichendem Umfang Schadstoffen ausgesetzt war.

Auf den vorliegenden Fall findet noch das Recht der BKVO-DDR Anwendung, weil der eventuelle Versicherungsfall mit Aufgabe der schädigenden Tätigkeit zum 31.11.1989 eingetreten ist und das bundesdeutsche Recht dessen Fortgeltung für diesen Fall anordnet (§ 1150 Abs. 2 Satz 1 Reichsversicherungsordnung i.V.m.§ 215 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch ).

Als Anspruchsgrundlage kommt daher auch BK-Nr. 81 BKVO-DDR Sonderentscheid (Staubbronchitis) in Betracht, für die es eine Entsprechung in der Anlage zur bundesdeutschen Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) nicht gibt. Nr. 4111 der Anlage zur BKV betrifft einen hier nicht relevanten Sonderfall (chronische obstruktive Bronchitis oder Emphysem von Bergleuten unter Tage im Steinkohlebergbau bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von in der Regel 100 Feinstaubjahren [(mg/m3) x Jahre]).

BK-Nr. 81 BKVO-DDR betrifft irritative chronische Krankheiten der oberen und tieferen Luftwege und Lungen durch chemische Stoffe. Voraussetzungen sind ferner die Aufgabe der schädigenden Tätigkeit oder des Umgangs mit dem schädigenden Stoff und der Nachweis der irritativen Wirkung des angeschuldigten Stoffes. Darüber hinausgehend hat die gesetzliche Unfallversicherung der DDR im Wege des Sonderentscheidverfahrens (vgl. § 2 Abs. 2 und § 6 Abs. 2 BKVO-DDR) auch die Exposition gegenüber anorganischen Stäuben ausreichen lassen. Der Aufsatz von Beck/Rebohle/W.D.Schneider/Konetzke/Pangert, Zeitschrift Erkrank.Atm.-Org. 160 (1983), 201 bis 207 (Blatt 96 bis 109 der LSG-Akte) gibt die Begutachtungspraxis und die anzuwendenden Standards wieder. Der Senat hat bereits in anderem Zusammenhang (Urt. v. 21.02.2001 - L 2 U 5/99 -) die Auffassung vertreten, dass Meinungsäußerungen von Personen, die in der DDR maßgeblich für die Umsetzung, des von ihnen dargestellten Rechts zuständig waren, ein ganz anderes Gewicht beizumessen ist, als dies auf das bundesdeutsche Recht zutrifft. Mangels eines rechtswissenschaftlichen Diskurses waren derartige Meinungsäußerungen im Ergebnis Festlegungen der Entscheidungsträger, die den Charakter von Richtlinien hatten. Im vorliegenden Fall des Sonderentscheidverfahrens erfolgte die Anerkennung von Berufskrankheiten auf Vorschlag der Obergutachtenkommission für Berufskrankheiten beim Zentralinstitut für Arbeitsmedizin der DDR. Der dem Senat vorliegende, aus dem Zentralinstitut für Arbeitsmedizin der DDR stammende Aufsatz stellt die Empfehlungen für die Meldung, Begutachtung und Anerkennung einer staubinduzierten chronischen Bronchitis als Berufskrankheit dar. Da die Empfehlungen vom Zentralinstitut für Arbeitsmedizin der DDR entwickelt worden sind und nichts dafür ersichtlich ist, dass diese Empfehlungen durch andere ersetzt worden sind, muss davon ausgegangen werden, dass diese Empfehlungen generell Beachtung gefunden haben, zumal aufgrund des Sonderentscheidverfahrens (§ 6 Abs. 2 BKVO-DDR) das Zentralinstitut für Arbeitsmedizin Herr des Begutachtungsvorgangs war.

Nach § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO wird den Versicherten im Beitrittsgebiet für eine Übergangszeit Bestandsschutz gewährt. Bestandsschutz bedeutet aber, dass der Versicherte in dem Umfang, aber auch nur insoweit, geschützt ist, wie das bisherige Recht Ansprüche zuerkennen wollte. Bestandsschutzvorschriften sind einer erweiternden Auslegung im Sinne einer Fortentwicklung des alten Rechtszustandes nicht zugänglich. Insbesondere ist es nicht möglich, einen fiktiven Maßstab anzulegen. Es kann weder zugunsten noch zu Lasten der Versicherten geprüft werden, wie die DDR-Entscheidungsträger heute über den Fall entscheiden würden, wenn sie noch vorhanden wären. Prüfungsmaßstab ist allein die Frage, ob die Versicherten, wenn das Feststellungsverfahren noch vor dem 1.1.1991 abgeschlossen worden wäre, mit der Zuerkennung eines Anspruchs hätten rechnen dürfen. Selbst wenn es dadurch unter Berücksichtigung neuerer medizinischer Erkenntnisse zu einer medizinisch unrichtigen Entscheidung käme, müsste dies grundsätzlich hingenommen werden. Dies ist zum einen schon deswegen unbedenklich, weil der Bestandsschutz auf Sachverhalte begrenzt ist, die den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung bis zum 31.12.1993 bekannt geworden sind. Zum anderen lässt der Senat offen, ob ein Bestandsschutz entgegen neueren medizinschen Erkenntnissen auch dann zu gewähren ist, wenn sich zwar der Anspruch des Versicherten formal nach der BKVO-DDR bestimmt, jedoch die Berufskrankheit nach DDR-Recht eine tatbestandliche Entsprechung im bundesdeutschen Recht hat, also der Versicherte auch bei alleiniger Anwendung des bundesdeutschen Rechts tatbestandlich nicht schlechter gestellt wäre. In derartigen Fällen, in denen sich nicht die materiellen tatbestandlichen Voraussetzungen der Berufskrankheitennorm ändern, sondern nur die medizinischen Erkenntnisse und damit der faktische Anwendungsbereich der nach DDR-Recht und bundesdeutschem Recht gleichermaßen anerkannten Berufskrankheit, neigt der Senat allerdings zu der Auffassung, dass der aktuelle medizinische Erkenntnisstand im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblich ist. Der Bestandsschutz betrifft Rechtsnormen, nicht Annahmen über die Wirklichkeit. Nur wenn letztere selbst in den Tatbestand der Norm mit aufgenommen worden sind, dürfte es einen Grund geben, sie an dem rechtlich begründeten Bestandsschutz partizipieren zu lassen, was sich im Einzelfall wie hier auch zum Nachteil des Versicherten auswirken kann.

Einer Weiterentwicklung der DDR-Voraussetzungen, unter denen eine Bronchitis nach Staubexposition als Berufskrankheit anerkannt werden könnte, steht hier zudem entgegen, dass die sich aus BK-Nr. 4111 BKV ergebende Sperre für andere staubassoziierte Bronchitiden, die nicht die Voraussetzungen dieser BK-Nr. erfüllen, unterlaufen würde. Die eigenständige Fortentwicklung der BK-Nr. 81 BKVO-DDR Sonderentscheid (Staubbronchitis) liefe auf eine rechtlich nicht zulässige, rückwirkende Einführung einer Quasi-Berufskrankheit im Sinne des § 9 Abs. 2 SGB VII für Versicherungsfälle im Beitrittsgebiet vor dem 1.1.1992 hinaus.

Im vorliegenden Fall der BK-Nr. 81 BKVO-DDR Sonderentscheid (Staubbronchitis) stellen die Empfehlungen eindeutig auf die Gesamtstaubmenge ab. Auf der Grundlage der vorliegenden Messergebnisse kann daraus eine von den Empfehlungen für erforderlich gehaltene Mindestexposition nicht abgeleitet werden. Dies bestätigt auch der Sachverständige Prof. Dr. N ... Ausgehend von dem oben erläuterten Prüfungsmaßstab ist eine Extrapolation der Grenzwerte und Expositionszeiten für Grobstaub auf Feinstaub rechtlich nicht zulässig. Hierdurch würde nicht bloß Bestandsschutz gewährt, sondern ohne rechtliche Grundlage das zu BK-Nr. 81 BKVO-DDR ergangene Sonderentscheidrecht fortentwickelt. Darüber hinaus würde sogar im Einzelfall der Bestandsschutz entzogen. Denn wenn man eine Fortentwicklung zuließe, könnte dies auch dazu führen, dass einem Versicherten ein Anspruch nicht mehr zuerkannt werden könnte, weil er jetzt die Voraussetzungen nicht mehr erfüllt, obwohl er nach bisherigem DDR-Recht sehr wohl anspruchsberechtigt gewesen wäre.

Da es sich bei der Frage des Maßstabs um eine Rechtsfrage handelt, kommt eine weitere Begutachtung oder die Einholung einer Stellungnahme beim Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften nicht in Betracht.

Hinzu kommt noch Folgendes: Selbst wenn man eine Extrapolation im oben dargestellten Sinne für zulässig hielte, ergäbe sich - hier irrt insoweit der Sachverständige Prof. Dr. N ... - ebenfalls keine ausreichende Exposition. Für die Jahre 1975 bis 1981 liegen nur konimetrische Werte vor. Nach den Empfehlungen in dem schon mehrfach erwähnten Aufsatz beträgt der Grenzwert (MAK-Wert) 800 Teilchen/ccm. In den vom Betrieb des Klägers vorgelegten Aufzeichnungen wird ein Grenzwert (MAK-Wert) von 500 Teilchen/ccm festgelegt. Selbst wenn man diesen niedrigeren Wert aufgrund betrieblicher Besonderheiten zugrunde legt, wird der Grenzwert nur in folgenden Jahren überschritten: 1978 um rund 22%; 1979 um rund 3 %, 1980 um rund 18 % und 1981 um rund 8 %. 1982 wurde wegen der Rekonstruktion der Gießerei nicht produziert. Für die Jahre 1984 bis 1988 ergibt sich aufgrund der gravimetrischen Messungen der mittleren Feinstaubmenge folgendes Bild, wenn man hier als Grenzwert 0,5 mg/m3 zugrunde legt (was im Hinblick auf TGL 32620/02 [vgl. Blatt 325 der LSG-Akte] ein möglicher individueller MAK-Wert sein kann): 1984 und 1985 wurde der Wert um rund 200 % überschritten, 1986 um rund 250 %, 1987 um 10 % und 1988 um weniger als 5 %. Nach der in Tabelle 1 der Empfehlungen (Blatt 104 der LSG-Akte) aufgeführten Wahrscheinlichkeitszusammenhänge muss der tatsächliche Wert den MAK-Wert mindestens 10 Jahre um mindestens 100 % übertreffen. Selbst wenn man die Jahre 1984, 1985 und 1986 doppelt rechnet, kommt der Kläger nur auf sechs Jahre. Hierbei sei dahingestellt, ob die Obergutachtenskommission einen derartigen Weg überhaupt eingeschlagen hätte. Die übrigen Werte sind fast grenzwertig. Daneben gibt es etliche Jahre ohne Messungen. Aufgrund der deutlich schwankenden Werte kann aber nicht unterstellt werden, dass zu anderen Zeiten die Grenzwerte ebenfalls deutlich überschritten worden sind. Im Übrigen kommt es hierauf letztlich aus Rechtsgründen schon nicht an, weil nach den Empfehlungen allein die Grobstaubmenge maßgeblich ist.

Eine Anerkennung der Bronchitis und ihrer Folgen als Berufskrankheit unmittelbar nach BK-Nr. 81 BKVO-DDR kommt nicht in Betracht, weil überhaupt keine Messwerte vorhanden sind. Insbesondere liegen keine Werte für das hier nach BK-Nr. 81 BKVO-DDR allein relevante Formaldehyd vor.

Der Senat hat sehr wohl gesehen, dass der Betrieb des Klägers die Gesundheit seiner Arbeitnehmer nach verschiedenen Belastungskategorien und in vielen Arbeitsbereichen aufgrund unzureichender Technik erheblich belastete und deswegen ein "Sorgenkind" der zuständigen Arbeitshygieneinspektionen war. Dies fand seinen Ausdruck in einer erstaunlich hohen Anerkennungsquote diverser Berufskrankheiten und war auch Anlass für den Senat, im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten, den Sachverhalt möglichst umfassend, wenn auch aus Sicht des Klägers leider vergeblich, aufzuklären. Es fehlt im Übrigen an einer signifikanten Anerkennungsquote, die gerade die Berufskrankheit nach BK-Nr. 81 BKVO-DDR Sonderentscheid (Staubbronchitis) oder nach BK-Nr. 81 BKVO-DDR zum Gegenstand hatte. Daher hat der Senat auch keine besonderen Beweislasterleichterungen erwogen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor. Es geht hier um "abgestorbenes" Recht, das nur noch bestandsschutzrechtlich bedeutsam ist. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass noch eine Vielzahl von Fällen zu entscheiden sind, die das Problem der Weiterentwicklung der Voraussetzungen eines "Sonderentscheides zum Gegenstand haben. Erst recht gilt dies für das Sonderentscheidverfahren Staubbronchitis" entsprechend BK-Nr. 81 BKVO-DDR.
Rechtskraft
Aus
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