L 2 U 56/99

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 4 U 44/96
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 56/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 23.02.1999 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, welche von ihnen verpflichtet war, dem verstorbenen A ... H ... St ... eine Verletztenrente zu gewähren. Die vorleistende Klägerin begehrt gegenüber der Beklagten die Feststellung, dass die Beklagte zur Leistung der Verletztenrente zuständig gewesen sei.

Der am ...1927 geborene und am ...2000 verstorbene A ... H ... St ... (im Folgenden: der Leistungsempfänger) erlitt am 6.9.1938 einen Unfall. Hierbei verlor er den 2. und 3. Finger der linken Hand, es kam zur Versteifung des linken Daumens mit Narbenbildung im Zwischengelenk. Die ursprünglich bestehende Bewegungsbehinderung im 4. Finger der linken Hand besserte sich dagegen binnen zwei Jahren nach dem Unfall wesentlich. Zunächst wurde ihm mit Bescheid der damaligen Sächsischen landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft vom 18.1.1939 eine vorläufige Rente und sodann mit Bescheid vom 13.8.1940 eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 33 1/3 v.H. gewährt. Letztmalig erhielt er am 14.7.1945 einen Rentenanpassungsbescheid der damaligen Sächsischen landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft.

Mit Schreiben vom 8.12.1991 wandte sich der Leistungsempfänger an die Beklagte und erklärte, er habe zuletzt im August 1945 eine Rentenleistung erhalten. Danach sei die Rente ausgesetzt worden. Als Grund sei genannt worden, dass der Unfall im nationalsozialistischen System eingetreten und das neue System dafür rechtlich nicht verantwortlich zu machen sei. Er habe während der Existenz der DDR wegen seines Unfalls keine Leistung erhalten. Die Klägerin wandte sich daraufhin an die Beklagte, die sie aufgrund des Geburtsdatums des Leistungsempfängers für die Leistungserbringung als zuständig ansah. Mit Schreiben vom 25.11.1992 lehnte dies die Beklagte ab und bat die Klägerin als erstangegangener Versicherungsträger im Interesse des Leistungsempfängers vorläufige Leistungen zu gewähren, da ein Rentenanspruch ab dem 1.1.1992 unzweifelhaft bestehe. Allerdings habe nach dem Recht der DDR kein Arbeitsunfall vorgelegen. Daraufhin meldete die Klägerin zunächst vorsorglich einen Erstattungsanspruch nach § 105 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) bei der Beklagten an und bat sodann den Chirurgen Dr. Hopp um eine Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nach Aktenlage. Dr. Hopp schätzte die MdE auf 30 v.H. Am 15.3.1994 erteilte die Klägerin dem Leistungsempfänger einen Bescheid über die Wiedergewährung einer Rente bei vorläufiger Leistungsgewährung nach § 1735 Reichsversicherungsordnung (RVO). Die Rente wurde ab 1.1.1992 nach einer MdE um 30 v.H. unter Zugrundelegung eines - in der Folgezeit dynamisierten - Jahresarbeitsverdienstes von 18.096,- DM bis zum Tode des Leistungsempfängers gewährt. Aus einem Schriftwechsel zwischen der Klägerin, dem Bundesverband der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften, der Beklagten und dem Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften geht hervor, dass die beiden Verbände auf Bundesebene die Zuständigkeit der Beklagten nach § 1159 RVO als gegeben ansehen.

Die Klägerin hat mit ihrer am 26.3.1996 beim Sozialgericht Leipzig eingegangenen Klage die Feststellung begehrt, dass die Beklagte der für die Entschädigung des Unfalls des Leistungsempfängers zuständige Unfallversicherungsträger sei. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt, sie habe, nachdem die Beklagte zu Unrecht ihre Zuständigkeit verneint habe, als erstangegangener Unfallversicherungsträger die Rentenzahlung nach § 1735 RVO aufgenommen. § 1159 RVO sehe die Übernahme aller Arbeitsunfälle in den Verteilungsschlüssel vor, die sich bis 31.12.1990 im Beitrittsgebiet ereignet hätten. Eine zeitliche Begrenzung der Anwendbarkeit des Verteilungsschlüssels auf den Beginn der staatlichen Existenz der DDR sei dagegen nicht vorgenommen worden. Dies werde durch § 1150 Abs. 2 RVO bestätigt. Aus der Gesetzesbegründung zu § 1150 Abs. 2 RVO gehe hervor, dass auch Versicherungsfälle, die bei einem Träger der reichsgesetzlichen Unfallversicherung eingetreten seien, von der Vorschrift erfasst würden. Für die Zuständigkeit des zur Leistung verpflichteten Unfallversicherungsträger komme es nicht darauf an, ob der Unfall von der Sozialversicherung der DDR als Arbeitsunfall anerkannt und tatsächlich eine Entschädigungsleistung erbracht worden sei, sondern darauf, ob nach den materiell-rechtlichen Vorschriften der Sozialversicherung eine Anerkennung und Entschädigung hätte erfolgen können. Dies sei im Falle des Leistungsempfängers zu bejahen.

Dagegen hat die Beklagte vorgetragen, der Leistungsempfänger habe im Zeitpunkt des Unfalles nicht in einem Arbeitsverhältnis gestanden. Vermutlich sei er nach einer der Regelung des § 539 Abs. 2 RVO vergleichbaren Vorschrift versichert gewesen. Dagegen habe das Unfallversicherungsrecht der DDR keine Vorschrift gekannt, die den Unfallversicherungsschutz auf Kinder ausgedehnt habe, die wie Arbeitnehmer tätig geworden seien. Auch aus § 1156 Abs. 3 RVO gehe hervor, dass nur solche auf dem Gebiet der DDR eingetretenen Arbeitsunfälle weiterhin zu entschädigen seien, die nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht als Arbeitsunfälle anzusehen seien. Denn erfülle ein Unfall die Voraussetzung, auch nach dem Recht der DDR ein Arbeitsunfall zu sein, bei einer Person nicht, die den Unfall in der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet erlitten habe und sei diese Person vor dem 19.5.1990 in das Beitrittsgebiet verzogen, sei der dafür ursprünglich zuständige Unfallversicherungsträger ab dem 1.1.1992 wieder zuständig.

Mit Urteil vom 23.2.1999 hat das Sozialgericht Leipzig die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, § 1150 Abs. 2 RVO erfasse nur Arbeitsunfälle, die sich zu Zeiten der DDR ereignet hätten. Die entgegenstehenden Gesetzesmaterialien seien unbeachtlich, da dieser Wille des Gesetzgebers nicht in der Vorschrift zum Ausdruck gebracht worden sei. § 1156 Abs. 3 RVO finde keine analoge Anwendung, da es dort um einen völlig anderen Sachverhalt gehe. Daher sei die Klägerin für die Gewährung von Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zuständig.

Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Feststellungsbegehren weiter. Das SG habe die Vorschrift des § 1150 Abs. 2 RVO nicht korrekt ausgelegt. Im Übrigen habe der Anspruch des Leistungsempfängers zu den Passiva der neu gegründeten Sozialversicherungsanstalt gezählt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 23.2.1999 aufzuheben und festzustellen, dass die Beklagte für die Entschädigung des Unfalls von Herrn Alfred Hellmut Steyer vom 6.9.1938 der zuständige Unfallversicherungsträger ist.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält an ihrem bisherigen Vorbringen fest. Aus den Gesetzesmaterialien zu § 1150 Abs. 2 RVO folge keineswegs, dass Unfälle, die nach dem Recht der DDR keine Arbeitsunfälle gewesen seien, von dem nach § 1159 RVO zuständigen Unfallversicherungsträger zu übernehmen gewesen seien. § 1150 Abs. 2 RVO betreffe nur Ansprüche aus Versicherungsfällen, die nach dem Recht der DDR als Arbeitsunfälle anzuerkennen gewesen oder tatsächlich anerkannt worden seien.

Gegenstand der mündlichen Verhandlung sind die Verfahrensakten beider Rechtszüge und die Verwaltungsakte der Klägerin gewesen. In der mündlichen Verhandlung hat der Senat die Beigeladenen über die näheren Umstände des Unfalls des Leistungsempfängers befragt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Die Feststellungsklage der Klägerin ist zulässig (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz ; siehe ferner BSGE 15, 52, 54 f.; BSG SozR 1500 § 55 Nr. 4), aber unbegründet.

Im Ergebnis hat das SG die Klage zu Recht abgewiesen. Die Beklagte ist zwar nach § 1159 Satz 2 RVO (bis zum 31.12.1996) und nach Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet I Abschnitt III Nr. 1 Buchstabe c Abs. 8 Nr. 2 Buchstabe aa und ff des Einigungsvertrages in Verbindung mit dem Einigungsvertragsgesetz (im Folgenden: EinigVrt) grundsätzlich im Rahmen ihrer sich aus dem Verteilerschlüssel ergebenden Zuständigkeit auch für die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen solcher Arbeitsunfälle zuständig, die sich noch unter der Geltung des Reichsunfallversicherungsrechts ereignet haben (I). Die Feststellungsklage ist gleichwohl unbegründet weil die Leistungszuständigkeit der Beklagten voraussetzt, dass der Leistungsempfänger einen Unfall erlitten hat, der nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht ein Arbeitsunfall ist (§ 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO; ab 1.1.1997: § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO i.V.m. § 215 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch ). Der Unfall des Leistungsempfängers ist im vorliegenden Fall jedoch nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht kein Arbeitsunfall (II).

Die Zuständigkeit der Beklagten entsprechend dem im EinigVrt vorgesehenen Verteilerschlüssel auch für Unfälle, die nach dem Reichsunfallversicherungsrecht Arbeitsunfälle waren, ist weder im EinigVrt noch in der RVO ausdrücklich geregelt. Sie ergibt sich jedoch aus einer Gesamtschau der in Betracht kommenden Vorschriften unter Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien.

Auf Versicherte, die nach dem militärischen Zusammenbruch des Deutschen Reiches im Jahre 1945 bis zum 18.5.1990 keinen Zugang zum Geltungsbereich des bundesdeutschen Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung erlangen konnten (zu diesem Stichtag vgl. Art. 23 Abs. 4 i.V.m. Art. 20 Abs. 7 des Vertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18.5.1990, BGBl. II S. 537 i.V.m. dem Gesetz zu diesem Vertrag vom 25.6.1999, BGBl. II S. 518 ) und am 18.5.1990 ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Beitrittsgebiet hatten, können danach allein die materiell-rechtlichen Vorschriften des Beitrittsgebiets in der Fassung der Regelungen der §§ 1148 ff. RVO Anwendung finden. Nach Art. 23 Abs. 4 i.V.m. Art. 20 Abs. 7 Staatsvertrag erhält der Versicherte von dem bisher zuständigen Unfallversicherungsträger seine nach den für den bisherigen Unfallversicherungsträger geltenden Rechtsvorschriften berechnete Rente, wenn er seinen gewöhnlichen Aufenthalt in das Gebiet der anderen Vertragspartei verlegt, also vom Beitrittsgebiet in das Altbundesgebiet oder in die umgekehrte Richtung wandert. Dies gilt aber erst recht, wenn der Versicherte seinen gewöhnlichen Aufenthalt beibehält und auch dann, wenn überhaupt noch keine Rente gewährt worden ist. Denn die Regelung des Staatsvertrages, die durch den EinigVrt nicht bloß nicht abgeschafft, sondern durch das in seinen Anlagen I und II enthaltene, beitrittsgebietsbezogene Sonderrecht sogar noch für einen nicht unerheblichen Zeitraum perpetuiert wurde, geht von dem Gedanken aus, dass jeder entsprechend seinem gewöhnlichen Aufenthalt sein bisheriges Renten- und Unfallversicherungsrecht - vorbehaltlich anderer gesetzlicher Regelungen - je nach Sachgebiet unterschiedlich lange und intensiv weiterhin mit sich "herumträgt", soweit es sich um in der Vergangenheit liegende Sachverhalte handelt. Wer am 18.5.1990 seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Beitrittsgebiet hatte, sollte nach dem Willen des Gesetzgebers allein nach den Regelungen der §§ 1148 ff. RVO Zugang zur gesetzlichen Unfallversicherung haben, wenn er einen Arbeitsunfall am 18.5.1990 oder davor erlitten hatte, unabhängig davon, wann und wo sich der Unfall ereignet hatte.

Mit dieser abschließenden Regelung des Leistungsrechts korrespondiert die Aufteilung der Zuständigkeit für so genannte Altfälle, also insbesondere für Unfälle, die sich vor dem 19.5.1990 ereignet haben und nach Maßgabe der §§ 1148 ff. RVO sowie des Staatsvertrages dem Recht des Beitrittsgebiets zugeordnet werden. Bei dieser Zuständigkeitsregelung handelt es sich ebenfalls um eine abschließende Sonderregelung. Dem steht nicht entgegen, dass Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet I Abschnitt III Nr. 1 Buchstabe c Abs. 8 Nr. 2 Buchstabe aa und ff des EinigVrt für die Sonderzuständigkeit auf Versicherungsfälle bis zum 31.12.1990 abstellen und erhebliche Teile des Leistungsrechts der gesetzlichen Unfallversicherung der DDR sogar für Versicherungsfälle bis zum 31.12.1991 gelten. Insoweit trifft die sich nach der RVO ergebende "allgemeine" Zuständigkeit der Unfallversicherungsträger auf das noch - durch die §§ 1148 ff. RVO modifiziert - anzuwendende DDR-Leistungsrecht für die Versicherungsfälle, die sich im Jahre 1991 ereignet haben. Hieraus folgt jedoch nicht, dass der Gesetzgeber, ohne dies ausdrücklich geregelt zu haben, auch die besondere Zuständigkeitsregelung für Versicherungsfälle vor dem 1.1.1991 durchbrechen wollte, auf die das DDR-Unfallversicherungsrecht einschließlich seiner Modifikationen durch den Bundesgesetzgeber Anwendung findet. Der Gesetzgeber hat ferner in Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet I Abschnitt III Nr. 1 Buchstabe c Abs. 8 Nr. 2 Buchstabe ff des EinigVrt eine Gegenausnahme vorgesehen. Dort wird mittelbar der Fall geregelt, dass ein dem Unfallversicherungsrecht des Beitrittsgebiets unterworfener Versicherungsfall erst nach dem 31.12.1994 angezeigt wird. In diesem Fall richtet sich die Zuständigkeit der Unfallversicherungsträger nach den allgemeinen Regeln. Der Versicherungsfall wird so behandelt, als habe er sich unter Geltung der Zuständigkeitsvorschriften der RVO bzw. (ab dem 1.1.1997) des SGB VII ereignet, obwohl sich weiterhin der materiell-rechtliche Zugang zur Unfallversicherung aus § 1150 RVO ergibt. Abgerundet werden schließlich diese Ausnahmeregelungen zur Sonderzuständigkeit der Unfallversicherungsträger aus Anlass der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands durch § 1156 Abs. 3 RVO. Dieses in sich regelungstechnisch schlüssige und abschließende Gesamtkonzept des Gesetzgebers zur Regelung der Zuständigkeit der Unfallversicherungsträger bietet keinen Raum für die Frage nach einer verdeckten Regelungslücke, die durch die analoge Anwendung einer Zuständigkeitsvorschrift für Sachverhalte bewältigt werden müsste, die sich noch unter Geltung des Reichsunfallversicherungsrechts ereignet haben.

Gestützt wird die systematische Auslegung durch den in den Gesetzesmaterialien dokumentierten Willen des maßgeblich an der Ausformulierung des § 1150 RVO beteiligten Gesetzgebungsorgans "Bundesregierung", die sich wie folgt geäußert hat (BR-Drucks 197/91 S. 154):

"Übernommen werden nach Absatz 2 auch solche Versicherungsfälle, die bei einem Träger der reichsgesetzlichen Unfallversicherung eingetreten sind; auch diese Versicherungsfälle sind nach dem Verteilungsschlüssel des Einigungsvertrages auf die Unfallversicherungsträger übertragen worden."

Soweit das SG ausführt, diese Äußerung sei unbeachtlich, weil der Gesetzgeber seinen Willen, auch die Entscheidungen reichsgesetzlicher Unfallversicherungsträger in die Bestandsschutzregelung des § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO einzubeziehen, nicht zum Ausdruck gebracht habe, beachtet es zweierlei Umstände nicht hinreichend. In § 1150 Abs. 2 RVO ist überhaupt keine Regelung über die Zuständigkeit getroffen worden. Es handelt sich um eine materiell-rechtliche Vorschrift des Leistungsrechts. Die Äußerung der Bundesregierung über die Anwendbarkeit des Verteilerschlüssels ist nur anlässlich der materiell-rechtlichen Frage über die Entschädigungspflichtigkeit von Unfällen, die sich unter Geltung des Reichsunfallversicherungsrechts ereignet haben, gemacht worden. Sie hat jedoch keinen unmittelbaren Bezug zum Inhalt der Regelung des § 1150 Abs. 2 RVO. Auch ist die Auffassung des SG unzutreffend, dass sich § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO allein mit der Fortgeltung positiver Entscheidungen der Sozialversicherung der DDR im geeinten Deutschland ab dem 1.1.1992 beschäftige. § 1150 Abs. 2 RVO ordnet auch für die nicht von der Sozialversicherung der DDR entschiedenen Fälle aus Gründen des Vertrauensschutzes die Fortgeltung des DDR-Rechts an.

II.

Die Beklagte ist nicht leistungszuständig, weil der Leistungsempfänger einen Unfall erlitten hat, der nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht kein Arbeitsunfall war. § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO ist nicht gegeben.

Hierbei ist unbeachtlich, dass der bewilligende Bescheid des Reichsunfallversicherungsträges niemals formell aufgehoben wurde. Er entfaltete keine Bindungswirkung gegenüber DDR-Behörden. Mit dem Erlöschen des den Verwaltungsakt erlassenden Unfallversicherungsträgers verlor er seine verpflichtende Wirkung, wenn seine verpflichtende Wirkung nicht zugleich durch einen Verwaltungsakt einer sowjetzonalen Behörde oder einer Behörde der DDR oder durch einen sonstigen Rechtsakt auf die neuen staatlichen Institutionen "übergeleitet" wurde. Die fiskalische Vermögensnachfolge in die Aktiva und Passiva der aufgelösten Reichsunfallversicherungsträger hat keine Bedeutung für die Frage, ob und in welcher Weise frühere, durch Verwaltungsakte begründete Verbindlichkeiten weiterhin zu bedienen waren, weil zugleich das bisherige Leistungsrecht beseitigt und neues Leistungsrecht erlassen wurde. Maßgeblich ist insoweit die Auslegung des neuen Leistungsrechts, insbesondere ob es altes Recht fortgelten lässt. Insoweit - aber auch nur insoweit! - sind die Verhältnisse nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches und die nach der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands vergleichbar: Eine Rechtsordnung wird durch eine andere Rechtsordnung ersetzt; bisherige Rechtspositionen müssen übergeleitet werden, um fortbestehen zu können. Dies bedeutet hier, dass der Unfall des Leistungsempfängers zweimal übergeleitet werden musste. Zunächst vom Reichsunfallversicherungsrecht in das Recht des Beitrittsgebiets und von dort nach Maßgabe des § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO in das Recht der Bundesrepublik Deutschland.

Auf eine Überleitung vom Reichsunfallversicherungsrecht in das sowjetzonale und spätere DDR-Recht käme es nur dann nicht an, wenn § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO dahingehend auszulegen wäre, dass Unfälle, die sich unter Geltung des Reichsunfallversicherungsrechts ereignet haben, unmittelbar in das Recht der Bundesrepublik Deutschland nach Maßgabe des § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO übergeleitet werden, wenn sie nicht Gegenstand eines förmlichen Verwaltungsverfahrens zu DDR-Zeiten geworden sind. Aus den Gesetzesmaterialien (a.a.O.) geht nur hervor, dass auch Versicherungsfälle vor der Gründung der DDR zu berücksichtigen sind. Sie müssen bei einem Träger der reichsgesetzlichen Unfallversicherung "eingetreten" sein. Dies bedeutet, ein bewilligender Verwaltungsakt durch einen Reichsunfallversicherungsträger ist nicht erforderlich. Es bedeutet aber auch, dass über den zeitlichen Aspekt hinaus den Gesetzesmaterialien nicht entnommen werden kann, dass die Anerkennung des Arbeitsunfalls nach Reichsrecht ausreicht, um § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO zu erfüllen. Dem Gesamtzusammenhang der Regelungen ist dagegen zu entnehmen, dass § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO das Unfallversicherungsrecht der DDR meint. Hierbei ist der Wortlaut allein allerdings nicht entscheidend. Denn formal betrachtet, galt das Reichsunfallversicherungsrecht auch nach dem 8.5.1945 im Beitrittsgebiet (als rein geographisch verstandene Bezeichnung) vorläufig für einen kurzen Zeitraum noch weiter.

Für die Auslegung des Sinngehalts einer Norm ist nicht von atypischen Fällen auszugehen, sondern von denen, die der Gesetzgeber vernünftigerweise zugrunde gelegt hat. Als normativer Regelfall ist im vorliegenden Zusammenhang zugrunde zu legen, dass Personen, die einen Unfall unter Geltung des Reichsunfallversicherungsrechts erlitten und dafür Leistungen erhalten haben, diese auch gegenüber den sowjetzonalen Behörden bzw. gegenüber den DDR-Behörden geltend gemacht haben und daraufhin entweder weiterhin Leistungen, nunmehr aus der neuen gesetzlichen Unfallversicherung, erhalten haben oder ihnen Leistungen wegen des neuen Leistungsrechts entsprechend dem geltenden Verfahrensrecht versagt wurden. Es ist kein Grund ersichtlich, Personen, die einen Weiterzahlungsanspruch geltend gemacht haben, jedoch keinen förmlichen Ablehnungsbescheid erhalten haben, anders zu behandeln, als diejenigen, denen Leistungen nach neuem Recht förmlich versagt wurden. Es kann daher dem § 1150 RVO auch nicht entnommen werden, unter "dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht" könne auch das Reichsunfallversicherungsrecht als isoliert fortgeltendes Recht verstanden werden. Demgemäß ist mit "dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht" das Recht der politischen Ordnung gemeint, die nach der Teilung Deutschlands im Beitrittsgebiet errichtet wurde. Nur diese Auslegung wird auch dem Zweck des § 1150 RVO gerecht. Der darin zum Ausdruck kommende Vertrauensschutz soll die Opfer von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten für eine vorübergehende Zeit so stellen, als existiere die DDR mit ihrem Unfallversicherungsrecht fort. § 1150 RVO will aber diesen Personenkreis nicht so stellen, als habe die DDR nie existiert. Dies wäre aber der Fall, wenn man auf der Grundlage des § 1150 RVO eine direkte Überleitung von Reichsunfallversicherungsrecht in das Unfallversicherungsrecht der Bundesrepublik Deutschland zulassen würde.

Nach Art. 2 (Zu § 44 Abs. 2 und Abs. 3) der 1. Durchführungsverordnung vom 9.4.1947 der Deutschen Verwaltung für Arbeit und Sozialfürsorge der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland (im Folgenden: 1. DVO) zum Befehl Nr. 28 des Obersten Chefs der Sowjetischen Militär-Verwaltung, Oberkommandierender der Gruppe der Sowjetischen Besatzungstruppen in Deutschland vom 28.1.1947 in Verbindung mit der Verordnung über die Sozialpflichtversicherung (im Folgenden: Befehl Nr. 28) wurde bestimmt, dass Teilrenten auch solchen Personen gewährt werden, die bereits vor In-Kraft-Treten dieser Verordnung infolge eines nachgewiesenen Unfalls im Sinne dieser Verordnung - d.h. im Sinne der 1. Durchführungsverordnung - oder einer Berufskrankheit einen Schaden erlitten haben. Teilrenten sollten vom 1.2.1947 an gewährt werden, wenn die Voraussetzungen nach dieser Verordnung am 1.2.1947 noch vorlagen.

Der Leistungsempfänger hat nach Art. 2 (Zu §§ 39-47 Abs. 2, 3 und 5 1. DVO) keinen Unfall bei einer der dort genannten Tätigkeiten erlitten. Jedenfalls hat die Befragung der Beigeladenen keinen Hinweis darauf ergeben. Das SG hat es unterlassen, den in der mündlichen Verhandlung vor dem SG anwesenden Leistungsempfänger näher zu den Umständen des Unfalls zu befragen. Dies wurde von dem Sitzungsvertreter der Beklagten, der damals ebenfalls anwesend war, in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bestätigt. Auch aus seinen Aufzeichnungen ergibt sich kein Hinweis auf eine Abklärung des Unfallgeschehens in der mündlichen Verhandlung vor dem SG. Der Bescheid der damaligen Sächsischen landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft teilt ebenfalls weder den Sachverhalt noch den zugrunde gelegten Leistungstatbestand mit. Die eher vagen Ausführungen der Beigeladenen lassen allenfalls vermuten, dass der Leistungsempfänger seinem Vater, dem Motorpflugführer Alfred Steyer, bei seiner Arbeit auf dem Rittergut geholfen hat und der Leistungsempfänger insoweit für den Inhaber des Rittergutes Sachsendorf-Wäldgen "wie ein Arbeitnehmer" tätig geworden ist. Auch schon vor der 1942 erfolgten ausdrücklichen Einbeziehung jener Personen, die wie Arbeitnehmer tätig werden (§ 537 Nr. 10 RVO in der Fassung des 6. Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 9.3.1942, RGBl. I S. 107 (6. UnfallVersÄndG); vgl. dazu BSGE 5, 168, 171), war anerkannt, dass auch Personen, die nur wie Arbeitnehmer für einen Betrieb tätig werden, unter den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung fallen (vgl. dazu das Urteil des Rekurssenates des Reichsversicherungsamtes vom 11.9.1936, EuM 40, 149; Hilfeleistung des tödlich verunglückten Großvaters bei Röntgenaufnahmen, die von seinem Enkel angefertigt werden sollten). Das Tätigwerden wie ein Arbeitnehmer ist jedoch in Art. 2 (Zu § 39-47 Abs. 2, 3 und 5) 1. DVO nicht als versicherte Tätigkeit aufgeführt.

Auch kann aus den Bescheiden der damaligen Sächsischen landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft nicht im Wege der Beweiserleichterung geschlossen werden, dass der Unfall des Leistungsempfängers auch noch 1947 versichert war. Auf den vorliegenden Fall können die im Urteil des Bundessozialgerichts vom 12.12.1995 - 9 RV 14/95 - (BSGE 77, 151) aufgestellten Grundsätze nicht angewandt werden. Denn hier ist gerade zweifelhaft, ob das neue Recht den Sachverhalt ebenso bewertet wie das alte. Es weicht anders als im Verhältnis von RVG zu BVG nicht unerheblich vom bisherigen Rechtszustand des Reichsunfallversicherungsrechts ab. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Nichtübernahme der Regelung des § 537 Nr. 10 RVO in der Fassung des 6. UnfallVersÄndG von 1942 auf einem bloßen Redaktionsversehen beruht. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob nicht bereits durch § 48 Abs. 1 Buchstabe b des Befehls Nr. 28 ein Unfallversicherungsschutz in jedem Fall für einen wie ein Arbeitnehmer mitarbeitenden elfjährigen Knaben ausgeschlossen war. Denn nach dieser Regelung sind Kinder bis zum 15. Lebensjahr "nicht arbeitsfähige Familienangehörige."

Unklar ist auch das Verhältnis zwischen § 3 Buchstabe b und § 48 Abs. 1 Buchstabe b des Befehls Nr. 28 sowie Art. 2 (Zu §§ 39-47) 1. DVO hinsichtlich der Unfallversicherung von mitarbeitenden Familienangehörigen in der Landwirtschaft (für Unfallversicherungsschutz, jedenfalls wenn es sich um ständig mitarbeitende Familienmitglieder handelt: Bayerisches LSG, Urt. v. 18.11.1999 L 17 U 379/97 HVBG-INFO 2000, 1180, 1182). Dies kann jedoch hier dahingestellt bleiben, weil es aufgrund der Angaben der Beigeladenen, die spontan den Ausdruck "Tagelöhner" verwendeten, keinen ausreichenden Anhaltspunkt dafür gibt, dass der Vater des Leistungsempfängers ein "selbstständig in der Landwirtschaft Arbeitender" war. Dies setzt aber § 3 Buchstabe b des Befehls Nr. 28 vom 28.1.1947 voraus.

Ferner kommt es hier nicht darauf an, ob die oben genannte Überleitungsvorschrift, die zunächst nur Bestandteil einer sowjetzonalen Regelung war, vor der Gründung der DDR schon im Sinne des § 1150 Abs. 2 Satz 1 RVO als "im Beitrittsgebiet geltendes Recht" anzusehen war. Denn das sich aus dem Befehl Nr. 28 ergebende Sozialversicherungsrecht wurde erst durch die Verordnung über die Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten SVO vom 21.12.1961 ersetzt (GBl. I S. 533). Darüber hinaus galt die 1. DVO vom 9.4.1947 hinsichtlich der Bestimmungen über Gewährung der Renten sogar noch weiter (§ 81 Abs. 3 SVO). Mithin sind hier die Vorschriften, die einer Überleitung der Ansprüche des Leistungsempfängers aus dem Reichsunfallversicherungsrecht in das Recht des Beitrittsgebiets entgegenstehen, jedenfalls mit der Gründung der DDR selbst zum Recht des Beitrittsgebiets geworden. Ist aber der Unfall des Leistungsempfängers kein Unfall im Sinne des im Beitrittsgebiets geltenden Rechts gewesen, ist auch eine Überleitung nach § 1150 RVO in das bundesdeutsche Unfallversicherungsrecht ausgeschlossen.

Im Übrigen ist auch nichts dafür ersichtlich, dass der Leistungsempfänger aufgrund von Vorschriften, die in Sachsen nach dem 8.5.1945, jedoch vor dem 28.1.1947 erlassen wurden, Anspruch auf eine Verletztenrente wegen seines Unfalls vom 6.9.1938 hatte, die dann Ausgangspunkt für eine Überleitung nach Art. 2 (zu § 44) der 1. DVO hätten sein können.

III.

Die Kostenentscheidung folgt hins ichtlich der Klägerin und der Beklagten aus § 193 Abs. 4 SGG, hinsichtlich der Beigeladenen aus § 193 Abs. 1 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.

Eine grundsätzliche Bedeutung kommt der Frage der Zuständigkeit der Unfallversicherungsträger für Unfälle unter der Geltung des Reichsunfallversicherungsrechts nicht zu, weil nicht ersichtlich ist, dass auch andere Berufsgenossenschaften die Rechtmäßigkeit der von ihren Verbänden - nicht verbindlich - getroffenen Festlegungen in Zweifel ziehen. Darüber hinaus haben die Klägerin und die Beklagte in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass zwischen ihnen nur noch ein weiterer Fall streitig sei und sie dessen Ausgang von der Entscheidung des erkennenden Senats im vorliegenden Fall abhängig machen würden.

Der Frage, ob ein Kind, das einen Unfall erlitten hat und nach Reichsunfallversicherungsrecht wie ein Arbeitnehmer in der gesetzlichen Unfallversicherung versichert war, nach Art. 2 (Zu § 44 Abs. 2 und Abs. 3) der 1. DVO nicht mehr versichert war, kommt ebenfalls keine grundsätzliche Bedeutung zu.
Rechtskraft
Aus
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