L 3 AS 472/18

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 21 AS 1091/12
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 3 AS 472/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Für § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG ist allein die objektive Aussichtslosigkeit oder die objektivierte Einsichtsfähigkeit maßgebend und nicht die individuelle Einsichtsfähigkeit des Beteiligten.
I. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist betreffend den Gerichtsbescheid des Sozialgerichtes Leipzig vom 25. Mai 2015 wird abgelehnt.

II. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Wiederein-setzungsverfahren sind nicht zu erstatten. Der Klägerin werden Verschuldenskosten in Höhe von 225,00 EUR auferlegt.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Verurteilung des Beklagten, ihrem Bevollmächtigten die Auskünfte zu geben, die auch der Klägerin zustehen.

Die 1956 geborene, alleinstehende Klägerin bezog von Mai 2008 bis Juni 2011 vom Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II). Zuletzt bewilligte er ihr mit Bescheid vom 17. Januar 2011 Leistungen für die Zeit vom 28. Dezember 2010 bis zum 30. Juni 2011. Etwas mehr als fünf Jahre später bewilligte er ihr mit Bescheid vom 4. März 2016 Leistungen für die Zeit vom 1. Dezember 2010 bis zum 27. Dezember 2010.

Der Rentenversicherungsträger bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 12. Mai 2011 rückwirkend ab dem 1. März 2010 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Die Klägerin hat eine größere Anzahl von Verfahren gegen den Beklagten betrieben. Derzeit sind noch etliche Verfahren beim Sozialgericht Leipzig und beim Sächsischen Landessozialgericht anhängig.

Nachdem der Beklagte den Bevollmächtigten der Klägerin im Verwaltungsverfahren, B ..., als Bevollmächtigten zurückgewiesen hatte, erklärte der Beklagte im Verfahren Az. S 6 AS 3638/11 ER mit Schriftsatz vom 16. Dezember 2011, dass "bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens [ ...] der Antragsgegner eventuell ergehende Verwaltungsakte – gem. § 38 SGB X – dem Bevollmächtigten der Antragstellerin eine Durchschrift übersenden und gem. § 13 Abs. 1 Satz 2 SGB X den Bevollmächtigten benachrichtigen" werde.

Mit Schreiben vom 5. Januar 2012 teilte die damalige Geschäftsführerin des Beklagten dem Klägerbevollmächtigten mit, dass ihm Auskünfte zu gegebenenfalls noch offenen Verfahren der Klägerin, in denen er nicht bevollmächtigt sei, aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht gegeben werden könnten. Bis zum Abschluss des Berufungsverfahrens Az. L 3 AS 529/11 würden schriftliche und telefonische Anfragen von ihm von Mitarbeitern des Beklagten nicht mehr beantwortet.

Die Klägerin persönlich hat mit Schreiben vom 29. März 2012, beim Sozialgericht Leipzig eingegangen am 2. April 2012, Klage erhoben mit dem Begehren, den Beklagten zu verurteilen, ihrem Bevollmächtigten die Auskünfte zu geben, die ihr zustehen. In der Klageschrift ist X ... als Zustellungsbeauftragter benannt. Mit Schreiben vom 26. Mai 2015 hat B ... mitgeteilt, dass X ... nicht mehr als Zustellungsbeauftragter zur Verfügung stehe. Mit Schreiben vom 21. Juli 2015 hat er dann eine von der Klägerin am 14. Juli 2015 auf ihn ausgestellte Generalvollmacht zur Akte gereicht.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 27. Mai 2016 abgewiesen. Eine Abschrift des Gerichtsbescheides ist entsprechend einer Verfügung der Kammervorsitzenden nicht nur der Klägerin und X ... zugestellt worden, sondern auch an Klägerbevollmächtigten. Die Zustellung an ihn ist ausweislich der Zustellungsurkunde am 2. Juni 2016 durch persönliche Übergabe erfolgt.

B ..., nach eigenem Bekunden der Verlobte der Klägerin, hat am 6. Juni 2016 Berufung (Az. L 3 AS 665/16) eingelegt. In der mündlichen Verhandlung vom 1. Dezember 2016 hat er die Klage zurückgenommen.

Mit Schreiben vom 11. Juni 2017 hat B ... die Rücknahme der Klagerücknahme (Az. L 3 AS 634/17) erklärt. Mit Urteil vom 13. Dezember 2018 ist der Antrag von B ... auf Fortsetzung des Berufungsverfahrens, das unter dem Az. L 3 AS 665/16 geführt worden ist, verworfen worden, weil er als vollmachtloser Vertreter aufgetreten sei. Seine hiergegen gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde hat das Bundessozialgericht mit Beschluss vom 25. April 2019 (Az. B 14 AS 163/19 B) als unzulässig verworfen.

Mit Schreiben vom 8. Mai 2018, eingegangen am 9. Mai 2018, hat der Klägerbevollmächtigte zu sechs Klageverfahren, unter anderem auch dem hier vorangegangenen, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Bezug auf die Berufungsfrist beantragt und Berufung eingelegt (Az. L 3 AS 472/18). Die Schreiben seien ihm erst vor drei Tage ausgehändigt worden. Es sei ein falscher Prozessbevollmächtigter benannt. X ... sei seit Jahren nicht mehr Zustellungsbevollmächtigter gewesen. Im März 2019 ist die Bevollmächtigung der Klägerbevollmächtigten für dieses Verfahren nachgewiesen worden.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

I. ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Bezug auf die Berufungsfrist gewähren und und nach der Wiedereinsetzung II. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichtes Leipzig vom 27. Mai 2016 aufzuheben sowie den Beklagten zu verurteilen, ihrem Prozessbevollmächtigten die Auskünfte zu geben, die auch ihr zustehen.

Der Beklagte beantragt,

den Antrag auf Wiedereinsetzung in die Berufungsfrist abzulehnen.

Der Klägerbevollmächtigte hat mit Schreiben vom 26. August 2019 Akteneinsicht beantragt, die gewährt worden ist. Das Amtsgericht C ... hat mit Schreiben vom 12. September 2019 die Akten als unerledigt zurückgesandt; der Klägerbevollmächtigte habe mitgeteilt, dass er erkrankt sei.

Mit Vorsitzendenschreiben vom 29. August 2019 ist der Klägerbevollmächtigte darauf hingewiesen worden, dass der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand keinen Erfolg haben könne, weil bereits keine Fristversäumnis vorliege. Denn er habe gegen den ihm zugestellten Gerichtsbescheid vom 27. Mai 2016 bereits fristgerecht Berufung (Az. L 3 AS 665/16) eingelegt. Die Aussichtslosigkeit des Wiedereinsetzungsantrages hätte ihm bei einer ordnungsgemäßen Aktenführung bekannt sein müssen. Die Fortführung des Verfahrens sei rechtsmissbräuchlich und der Senat werde prüfen, ob Verschuldenskosten festgesetzt würden.

Der Terminaufhebungsantrag des Klägerbevollmächtigten im Schreiben vom 3. September 2019, eingegangen am 6. September 2019, ist mit Schreiben des Vorsitzenden vom 9. September 2019 abgelehnt worden.

Das Ablehnungsgesuch des Klägerbevollmächtigten im Schreiben vom 16. September 2019 gegen den Senatsvorsitzenden ist in der mündlichen Verhandlung am 19. September 2019 durch Beschluss als unzulässig verworfen worden.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten zu den Verfahren Az. S 21 AS 1091/12, L 3 AS 665/16, L 3 AS 634/17 und L 3 AS 472/18 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

I. Der Klägerbevollmächtigte ist auf Grund der im März 2019 nachgewiesenen, auch das vorliegende Verfahren betreffenden Prozessvollmacht befugt, die Klägerin im vorliegenden Verfahren zu vertreten. Die späteren Ausführungen des Klägerbevollmächtigten zu diesem Thema sind deshalb nicht entscheidungserheblich.

II. Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Klägerin und ihres Prozessbevollmächtigten verhandeln und entscheiden, weil die Klägerseite hierauf in der Ladung hingewiesen worden ist (vgl. § 153 Abs. 1 i. V. m. § 110 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]).

III. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist unbegründet, weil die Klägerin die Berufungsfrist nicht versäumt hat.

Wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten, ist ihm gemäß § 67 Abs. 1 SGG auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Antrag ist binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen (vgl. § 67 Abs. 2 Satz 1 SGG). Die Tatsachen zur Begründung des Antrags sollen glaubhaft gemacht werden (vgl. § 67 Abs. 2 Satz 2 SGG). Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen (vgl. § 67 Abs. 2 Satz 3 SGG). Wenn dies geschehen ist, kann die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden (vgl. § 67 Abs. 2 Satz 4 SGG).

Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sind im vorliegenden Verfahren nicht gegeben. Denn eine Abschrift des Gerichtsbescheides des Sozialgerichtes Leipzig vom 27. Mai 2016 (Az. 5 21 AS 1091/12) ist dem Klägerbevollmächtigten ausweislich der Zustellungsurkunde am 2. Juni 2016 persönlich übergeben worden. Mit Schreiben vom 3. Juni 2016 hat er daraufhin Berufung eingelegt, die unter dem Az. L 3 AS 665/16 geführt worden und inzwischen abgeschlossen ist. Damit hat die Klägerin für ihre Berufung gegen den Gerichtsbescheid vom 27. Mai 2016 die einmonatige Berufungsfrist (vgl. § 151 SGG) gewahrt. Dies bedeutet zwangsläufig, dass sie nicht verhindert gewesen ist, die Berufungsfrist einzuhalten.

Da der Wiedereinsetzungsantrag aus den genannten Gründen abzulehnen ist, sind weitere Fragen wie zum Beispiel die, wann bei mehreren verfügten Zustellungsvarianten die Zustellung als bewirkt gilt, wann bei mehreren Zustellungsaufträgen an einen Beteiligten eine Rechtsmittelfrist zu laufen beginnt, oder an wen vorliegend nach den widersprüchlichen Äußerungen des Klägerbevollmächtigten korrekterweise zugestellt werden musste, nicht entscheidungserheblich und damit nicht zu erörtern.

IV. Die Kostenentscheidung beruht auf den § 183, 193 SGG.

Die Auferlegung von Verschuldenskosten beruht auf § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 und 3 SGG i. V. m. § 184 Abs.2 SGG.

Gemäß § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht im Urteil oder, wenn das Verfahren anders beendet wird, durch Beschluss einem Beteiligten ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass der Beteiligte den Rechtsstreit fortführt, obwohl ihm vom Vorsitzenden die Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung oder -verteidigung dargelegt worden und er auf die Möglichkeit der Kostenauferlegung bei Fortführung des Rechtsstreites hingewiesen worden ist. Gemäß § 192 Abs. 1 Satz 2 SGG steht dem Beteiligten unter anderem sein Bevollmächtigter gleich. Als verursachter Kostenbetrag gilt dabei für das Verfahren vor den Landessozialgerichten mindestens der Betrag in Höhe von 225,00 EUR (vgl. § 192 Abs. 1 Satz 3 SGG i. V. m. § 184 Abs. 2 SGG).

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zur Missbrauchsregelung in § 34 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (Bundesverfassungsgerichtsgesetz - BVerfGG) liegt Missbrauch vor, wenn Rechtsverfolgung oder -verteidigung offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist und deshalb von jedem Einsichtigen als völlig aussichtslos angesehen werden muss (so zu § 34 Abs. 2 BVerfGG: BVerfG, Kammerbeschluss vom 3. Juli 1995 – 2 BvR 1379/95NJW 1996, 1273 = juris Rdnr. 10; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 7. Juni 2015 – 2 BvR 740/15NVwZ 2015, 1673 f. = juris Rdnr. 19; BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 28. Mai 2019 – 1 BvR 876/19 – juris Rdnr. 3). Diese Rechtsprechung kann zur Auslegung von § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG herangezogen werden (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Februar 2018 – L 6 SB 2931/17 – juris Rdnr. 13; Breitkreuz, in: Breitkreuz/Fichte, SGG [2. Aufl., 2014], § !92 Rdnr. 8).

Dass bereits der Antrag auf Wiedereinsetzung missbräuchlich sein könnte, konnte sich jedem Einsichtigen bei einer sorgfältigen Aufbewahrung und Durchsicht der Unterlagen, die das Klageverfahren Az. S 21 AS 109 1/12 betreffen und dem Klägerbevollmächtigten vorliegen – oder jedenfalls vorgelegen haben – erschließen. Missbräuchlich im Sinne von § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG war die Fortführung des Wiedereinsetzungsverfahrens aber seit dem Hinweisschreiben des Vorsitzenden vom 29. August 2019. Danach war für jeden Einsichtigen erkennbar, dass das weitere Betreiben dieses Verfahrens als völlig aussichtslos angesehen werden muss. Aus diesem Grund hält der Senat die Auferlegung von Missbrauchskosten für angezeigt.

Wenn das Bundesverfassungsgericht auf den "Einsichtigen" abstellt, ist dies mit dem "verständigen Beteiligten", auf den in verschiedenen Fällen des Sozialverwaltungsverfahrens und des sozialgerichtlichen Verfahrens abgestellt wird, vergleichbar. Bei diesem kommt es nur auf die objektive Beurteilung und nicht auf die subjektive Vorstellung an vgl. BSG, Urteil vom 12. Mai 1981 – 2 RU 3/80 – juris Rdnr. 18). Aus diesem Grund ist für § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG allein die objektive Aussichtslosigkeit (so vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. Februar 2018, a. a. O., m. w. N.) oder die objektivierte Einsichtsfähigkeit (vgl. LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27. Mai 2015 – L 19 AS 778/15 NZB – juris Rdnr. 23; Breitkreuz, a. a. O.; Stotz, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG [2017], § 192 Rdnr. 38, m. w. N.) maßgebend und nicht die individuelle Einsichtsfähigkeit des Beteiligten (so aber Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG [12. Aufl., 2017], § 192 Rdnr. 9a; in diesem Sinn wohl auch LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14. Juli 2016 – L 34 AS 2443/15 – juris 34). Aus diesem Grund merkt der Senat lediglich informatorisch an, dass es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Klägerbevollmächtigten, der – wie dem Senat aus zahlreichen Verfahren bekannt ist – häufig seine eigene Sicht auf die Rechtslage hat, auf Grund seiner Einsichtsfähigkeit nicht in der Lage wäre das zu erfassen, was jedem Einsichtigen einsichtig ist.

V. Grunde für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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