L 6 KR 496/16

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
Thüringer LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Altenburg (FST)
Aktenzeichen
S 5 KR 761/14
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 6 KR 496/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die Ermächtigung an Krankenkassen und Pflegekassen zum Erlass eines gemeinsamen Beitragsbescheids (§ 46 Abs. 2 Satz 4 Elftes Buch Sozialgesetzbuch, SGB XI) umfasst auch die Entscheidung über den Erlass von Beitragsforderungen in einem gemeinsamen Bescheid (wie LSG Nordrhein-Westfalen, B. v. 7. Februar 2018 - L 1 KR 910/16).
2. Ein Versicherter genügt seiner Anzeigepflicht nach § 256a Abs.1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) auch dann, wenn er die Anzeige erst auf Nachfrage durch die Krankenkasse auf dem ihm zugesandten Formular vornimmt (a. A. LSG Hessen, U. v. 10. August 2017 - L 1 KR 546/16).
3. Der Erlass von Beitragsschulden nach § 256a Abs. 2 SGB V setzt nicht in jedem Fall voraus, dass das Mitglied während des Nacherhebungszeitraums keinerlei Leistungen in Anspruch genommen hat (wie Senatsurteil vom 18. Oktober 2018 - L 6 KR 264/15).
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Altenburg vom 15. Februar 2016 geändert. Die Beklagten werden unter Abänderung des Bescheids vom 3. Juni 2013, abgeändert durch Bescheid vom 25. November 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Februar 2014 verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Erlass von Beiträgen, Säumniszuschlägen und sonstigen Kosten, die auf dem Versicherungszeitraum vom 1. November 2008 bis 30. Juni 2009 beruhen, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Die Beklagten tragen &8531; der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist im Berufungsverfahren noch streitig, ob die Beklagten über den Antrag des Klägers auf Erlass von Beitragsschulden, Säumniszuschlägen und sonstigen Kosten zur gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und zur sozialen Pflegeversicherung (sPV) für die Zeit vom 1. November 2008 bis 30. Juni 2009 neu zu entscheiden haben.

Der 1959 geborene Kläger war als freiberuflich tätiger Rechtsanwalt privat krankenversichert. Dieses Versicherungsverhältnis endete aufgrund des privaten Insolvenzeröffnungsverfahrens zum 1. November 2007. Bis zum 28. Februar 2008 war er nicht kranken- und pflegeversichert. Ab dem 15. März bis 31. Oktober 2008 war er als versicherungspflichtiger Beschäftigter in der GKV und in der sPV bei der , einer Rechtsvorgängerin der Beklagten zu 1. (im Folgenden einheitlich: Beklagte zu 1.) pflichtversichert. Danach ging er keiner Beschäftigung nach und zahlte keine Beiträge zur GKV und sPV. Er erkundigte sich im Dezember 2008 bei der Beklagten zu 1. nach der Möglichkeit einer freiwilligen Krankenversicherung und erhielt die Unterlagen zur Anmeldung, die er nicht zurücksandte.

Mit Schreiben vom 10. Juni 2009 teilte die Beklagte zu 1. ihm mit, dass er nach dem Ende der Versicherung am 31. Oktober 2008 noch Leistungen in Anspruch genommen habe. Bisher habe sie keine Informationen über den weiteren Versicherungsschutz erhalten. Sie nehme daher an, dass er über keinen Versicherungsschutz verfüge. Sie beabsichtige, ab dem 1. November 2008 die Versicherung für nicht anderweitig versicherte Personen durchzuführen. Er möge die beiliegende Anzeige zur Pflichtversicherung für nicht anderweitig abgesicherte Personen nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) und § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 12 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) vollständig ausfüllen und zurücksenden. Mit weiterem Schreiben vom 25. Juni 2009 "Anhörung gemäß § 24 SGB X" teilte sie ihm mit, sie beabsichtige, zum Versicherungszeitraum vom 1. November 2008 bis laufend einen Beitragsbescheid zu erlassen. Eine Erklärung über seine Einkünfte in Form der entsprechenden Unterlagen liege bis dato nicht vor. Daher sei der Betrag nach den Gesetzen zur Kranken- und Pflegeversicherung sowie der Satzung festzulegen. Dieser belaufe sich ab November 2008 auf 303,23 EUR, ab Januar 2009 auf 628,53 EUR. Die vom Kläger unterzeichnete Anzeige nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V und § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 12 SGB XI ging am 1. Juli 2009 bei der Beklagten zu 1. ein.

Mit Bescheiden vom 2. und 16. Juli 2009 setzte die Beklagte zu 1., auch im Namen der Beklagten zu 2., die Beiträge zur GKV und zur sPV fest. Der Gesamtbeitrag betrage ab dem 1. November 2008 monatlich 250,20 EUR, ab dem 1. Januar 2009 monatlich 340,22 EUR und ab dem 1. Juli 2009 monatlich 303,19 EUR. Für die Zeit vom 1. November 2008 bis 31. Mai 2009 ergebe sich eine Nachzahlung in Höhe von 2.071,50 EUR. Der Kläger zahlte die Beiträge nicht. Danach erfolgten diverse Mahnungen durch die Beklagte zu 1. und die Feststellung des Ruhens der Leistungsansprüche. Die Beklagte zu 1. kündigte Vollstreckungsmaßnahmen an. Im September 2009 teilte der Kläger mit, dass er nach dem Ende seines Versicherungsverhältnisses zum 31. Oktober 2008 keine Leistungen in Anspruch genommen habe. Seit dem 1. November 2008 habe er keine Einnahmen; seit dem 1. November 2007 sei er in Insolvenz. Die Beklagte zu 1. informierte ihn, dass er am 7. und 28. November 2008 Arzneimittelleistungen in Anspruch genommen habe. Gegen die Durchführung der Pflichtversicherung und die Berechnung von Beiträgen ab dem 1. November 2008 erhob der Kläger am 29. Januar 2010 Widerspruch, den die Beklagte zu 1., auch im Namen der Beklagten zu 2., mit Widerspruchsbescheid vom 21. April 2010 zurückwies. Die hiergegen erhobene Klage beim Sozialgericht (SG) Altenburg (Az.: S 4 KR 1865/10) nahm der Kläger am 6. September 2012 zurück.

Unter dem 4. März 2013 schilderte er der Beklagten zu 1. seine wirtschaftliche Situation. Er befinde sich seit dem 11. Februar 2013 in einem Arbeitsverhältnis mit einem Bruttolohn von 460,- EUR monatlich. Auf längere Sicht sei keine wesentliche Verbesserung seiner Einkommensverhältnisse zu erwarten. Es sei daher für ihn nicht möglich, die Gesamtforderung zu zahlen. Er beantrage den Erlass der Säumniszuschläge aus Billigkeitsgründen und bitte um Prüfung einer vergleichsweisen Regelung. Im April 2013 übersandte er eine Erklärung über seine per-sönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Mit Bescheid vom 3. Juni 2013 lehnte die Beklagte zu 1. die Anträge ab. Nach § 76 Abs. 2 Nr. 3 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IV) könne die Einzugsstelle Ansprüche erlassen, wenn die Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Nach Prüfung der Unterlagen sei er in der Lage, aufgrund seiner Ausbildung als Jurist ein ausreichend hohes Einkommen zu erzielen, das ihn in die Lage versetze, die offenen Forderungen vollständig zu begleichen. Des Weiteren liege kein Nachweis vor, dass Hilfebedürftigkeit nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) bzw. nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) bestehe. Folglich liege demnach keine unbillige Härte vor. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch.

Mit Bescheid vom 25. November 2013 erließ die Beklagte für den Zeitraum Juni 2009 bis Juni 2013 Säumniszuschläge in Höhe von 6.871,50 EUR. Der weitergehende Erlassantrag werde zurückgewiesen. Im Rahmen der Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V schulde er Beiträge zur GKV und sPV einschließlich Säumniszuschlägen sowie Kosten und Gebühren für den Zeitraum (anteilig) August 2008 bis 14. November 2009 in Höhe von 12.431,92 EUR. Das Gesetz zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung ermögliche es, Versicherten nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V die noch nicht gezahlten Beiträge einschließlich Forderungen für die Zeit vom Beginn der Versicherung bis zum Ende des Monats vor Anzeige der Versicherung bzw. der Feststellung der Versicherungspflicht zu erlassen. Voraussetzung sei, dass die Versicherten schriftlich erklärten, keine Leistungen in diesem Zeitraum in Anspruch genommen zu haben oder für den Fall der Inanspruchnahme von Leistungen auf eine Kostenübernahme bzw. -erstattung durch die Krankenkasse zu verzichten. Der Zeitraum zwischen dem Beginn der Versicherung und dem Ende des Monats vor Anzeige der Versicherung bzw. Feststellung der Versicherungspflicht umfasse die Zeit 1. November 2008 bis 30. Juni 2009. In dieser Zeit habe er Leistungen in Anspruch genommen. Der Erlass der Beiträge sei somit nicht möglich. Er schulde ihr für die Zeit bis 31. Oktober 2013 Säumniszuschläge in Höhe von 8.072,50 EUR. Unter Berücksichtigung des regulären, seit dem 1. August 2013 geltenden Säumniszuschlages ergäben sich nunmehr für diesen Zeitraum Säumniszuschläge von insgesamt 1.901,00 EUR. Die Gesamtforderung für den Zeitraum (anteilig) August 2008 bis 14. November 2009 belaufe sich nunmehr auf 5.560,42 EUR. Hiergegen erhob der Kläger erneut Widerspruch.

Mit Widerspruchsbescheid vom 5. Februar 2014 wies die Beklagte zu 1. den Widerspruch des Klägers (vom 3. Juli 2013) zurück. Nach § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV dürfe der Versicherungsträger Ansprüche nur erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre, unter den gleichen Voraussetzungen könnten bereits entrichtete Beiträge erstattet werden. Der Spitzenverband Bund habe auf der Grundlage des § 217f Abs. 2 SGB V am 17. Februar 2010 die Einheitlichen Grundsätze zur Erhebung von Beiträgen, zur Stundung, zur Niederschlagung und zum Erlass sowie zum Vergleich von Ansprüchen (Beitragserhebungsgrundsätze (BErHGs)) erlassen. Mit dem Erlass werde gegenüber dem Schuldner auf bestehende Ansprüche ganz oder teilweise verzichtet. Der Anspruch erlösche; seine spätere Geltendmachung sei ausgeschlossen. Der Erlass begünstige endgültig Einzelne zu Lasten der Versichertengemeinschaft und der Beitragspflichtigen. Dies erfordere enge Maßstäbe und gebe dem Versicherungsträger nur einen begrenzten Ermessensspielraum. Eine Unbilligkeit begründende Situation rechtfertige ein Erlassen nur dann, wenn sie durch Einziehung des Anspruchs verursacht worden sei oder die mögliche Behebung einer Notlage verhindere. Der Erlass müsse jedenfalls geeignet sein, die Situation des Zahlungspflichtigen entscheidend zu ändern. Über den Erlassantrag und jedes Vergleichsangebot sei nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Nach den vorliegenden Unterlagen beziehe der Kläger kein Arbeitslosengeld II zur Aufstockung des geringen Einkommens bzw. Sozialhilfe, so dass davon auszugehen sei, dass keine Hilfebedürftigkeit vorliege. Die Prüfung habe auch keine anderen Anzeichen ergeben, weshalb auf einen Teil der Gesamtforderung verzichtet werden sollte. Auf der Grundlage des zum 1. August 2013 in Kraft getretenen Gesetzes zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden seien die Säumniszuschläge in dem durch Bescheid vom 25. November 2013 genannten Umfang zu erlassen gewesen. Der Widerspruchsbescheid ergehe auch im Namen der Beklagten zu 2.

Im Klageverfahren hat der Kläger vorgetragen, er habe im November 2013 eine Verzichtserklärung bezüglich der in Anspruch genommenen Leistungen abgegeben. Nach der Klagerücknahme im Verfahren vor dem SG Altenburg (S 4 KR 1865/10) am 6. September 2012 sei letztlich seine Versicherungspflicht bei den Beklagten festgestellt worden und somit zeitlich gesehen vor dem 31. Juli 2013. Damit sei der vorliegende Fall ein Unterfall des § 256a Abs. 2 Satz 2 SGB V, so dass er sich darauf berufen könne, dass neben den Säumniszuschlägen auch die rückständigen Beiträge zu erlassen seien. Jedenfalls seit Inkrafttreten des § 256a SGB V am 1. August 2013 habe die Beklagte gegen ihn keine Ansprüche mehr wegen rückständiger Beiträge. Diese Vorschrift gehe § 76 Abs. 2 und Abs. 4 SGB IV vor. § 256a SGB V betreffe ausschließlich die nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V versicherungspflichtigen Personen. Nach dem Regelungszweck seien die auf die maßgeblichen Beiträge entfallenden Säumniszuschläge nach § 24 SGB IV vollständig zu erlassen. Weiter habe er einen begründeten Anspruch auf Reduzierung der Beitragsrückstände sowie auf einen Nichtanfall von Verzugszinsen. Dem ist die Beklagte zu 1. entgegengetreten.

Mit Urteil vom 15. Februar 2016, zugestellt am 29. März 2016, hat das SG die Klage abgewiesen. Ein Anspruch auf Erlass der Beitragsforderungen und Säumniszuschläge ergebe sich nicht aus § 256a SGB V. Ein Erlass setze nach § 2 Abs. 1 Satz 4 der Einheitlichen Grundsätze zur Beseitigung finanzieller Überforderung bei Beitragsschulden vom 4. September 2013 voraus, dass das Mitglied schriftlich erkläre, während des Nacherhebungszeitraums Leistungen für sich nicht in Anspruch genommen zu haben oder im Falle in Anspruch genommener Leistungen auf eine Kostenübernahme oder Kostenerstattung zu verzichten. Eine solche Erklärung des Klägers liege nicht vor und könne auch nicht mehr abgegeben werden, weil er im November 2008 Leistungen in Anspruch genommen habe. Da die Leistungen erbracht und durch die Beklagte zu 1. reguliert wurden, scheide auch ein Verzicht auf Kostenübernahme aus. Unbeachtlich sei in diesem Zusammenhang, dass es sich im Vergleich zu den Beitragsrückständen um vergleichsweise geringe Beträge (32,40 EUR und 277,36 EUR) gehandelt habe. Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf Erlass der Beitragsforderungen nach § 76 SGB IV i.V.m. § 217f SGB V und § 9 Abs. 1 Satz 1 der Beitragserhebungsgrundsätze. Die Ablehnung des Erlasses unter Hinweis auf die Ausbildung und die fehlende Hilfebedürftigkeit lasse keine Ermessensfehler erkennen.

Im Berufungsverfahren hält der Kläger an seiner Ansicht fest. Ein Anspruch auf Beitragserlass nach § 256a SGB V sei nicht per se ausgeschlossen, wenn er nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V im Nacherhebungszeitraum Leistungen der GKV im Wege der Sachleistung in Anspruch genommen habe. Er habe die Anzeige zur Pflichtversicherung vor dem 31. Juli 2013 getätigt. Die Nichterklärung des Verzichts könne bei Sachleistung keine negativen Folgen für den Erstattungsanspruch haben. Er habe den Vertragsarzt am 7. November 2008 aufgesucht, also zu einer Zeit, als er noch Ansprüche auf nachwirkenden Versicherungsschutz nach § 19 Abs. 2 SGB V hatte. Der Auffangtatbestand nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V verdränge nicht immer aus dem nachwirkenden Versicherungsschutz zu gewährende Leistungsansprüche. Mit Schriftsatz vom 12. April 2019 beschränkte er seinen Antrag auf den Zeitraum vom 1. November 2008 bis 30. Juni 2009. Er erklärt, dass der Antrag auf Abschluss eines Vergleichs nach § 76 Abs. 4 SGB IV nicht mehr Gegenstand des Verfahrens ist.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Altenburg vom 15. Februar 2016 sowie den Bescheid der Beklagten vom 3. Juni 2013, abgeändert durch Bescheid vom 25. November 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Februar 2014 abzuändern und die Beklagte zu verpflichten, über seinen Antrag auf Erlass der Beiträge für die Zeit vom 1. November 2008 bis 30. Juni 2009 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils.

Die Berichterstatterin hat mit den Beteiligten am 9. März 2018 einen Erörterungstermin durchgeführt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist, nachdem er seinen Antrag mit Schriftsatz vom 12. April 2019 auf die Zeit bis 30. Juni 2009 beschränkt hat, begründet.

Der Kläger begehrt im Berufungsverfahren (nur noch) eine Verpflichtung der Beklagten, über seinen Erlassantrag erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden. Diese macht er zulässigerweise mit einer Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (Bescheidungsklage - § 54 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i.V.m. § 131 Abs. 3 SGG) geltend.

Der Bescheid der Beklagten zu 1. vom 3. Juni 2013, abgeändert durch Bescheid vom 25. November 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Februar 2014 ist insoweit rechtswidrig, als die Beklagten für den Zeitraum vom 1. November 2008 bis 30. Juni 2009 den Erlassantrag des Klägers abgelehnt haben. Der Kläger hat insoweit Anspruch auf eine Neubescheidung seines Antrags.

Rechtsgrundlage für die vom Kläger begehrte Neubescheidung seines Erlassantrags ist zunächst § 256a Abs. 2 SGB V.

Nach § 256a Abs. 1 SGB V in der durch Artikel 1 Nr. 2d des Gesetzes zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung vom 15. Juli 2013 (gültig ab 1. August 2013, BGBl I 2013, 2423) soll die Krankenkasse die für die Zeit seit dem Eintritt der Versicherungspflicht nachzuzahlenden Beiträge angemessen ermäßigen, zeigt ein Versicherter das Vorliegen der Voraussetzungen der Versicherungspflicht nach § 5 Absatz 1 Nr. 13 SGB V erst nach einem der in § 186 Abs. 11 Satz 1 und 2 SGB V genannten Zeitpunkte an; darauf entfallende Säumniszuschläge nach § 24 des Vierten Buches sind vollständig zu erlassen. Erfolgt die Anzeige nach Absatz 1 bis zum 31. Dezember 2013, soll die Krankenkasse den für die Zeit seit dem Eintritt der Versicherungspflicht nachzuzahlenden Beitrag und die darauf entfallenden Säumniszuschläge nach § 24 des Vierten Buches erlassen. Satz 1 gilt für bis zum 31. Juli 2013 erfolgte Anzeigen der Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V für noch ausstehende Beiträge und Säumniszuschläge entsprechend (Absatz 2). Die Krankenkasse hat für Mitglieder nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V sowie für freiwillige Mitglieder noch nicht gezahlte Säumniszuschläge in Höhe der Differenz zwischen dem nach § 24 Abs. 1a SGB IV in der bis zum 31. Juli 2013 geltenden Fassung erhobenen Säumniszuschlag und dem sich bei Anwendung des in § 24 Abs. 1 SGB IV ergebenden Säumniszuschlag zu erlassen (Absatz 3). Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen regelt das nähere zur Ermäßigung und zum Erlass von Beiträgen und Säumniszuschlägen nach den Absätzen 1 bis 3, insbesondere zu einem Verzicht auf die Inanspruchnahme von Leistungen als Voraussetzung für die Ermäßigung oder den Erlass (Absatz 4 Satz 1 und Satz 2).

Nach § 60 Satz 1 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) gilt § 256a SGB V bezüglich der Beiträge zur Pflegeversicherung entsprechend.

Die Beklagte zu 1. war nach Maßgabe des § 46 Abs. 2 Satz 4 bis 6 SGB XI sachlich befugt, in den angefochtenen Bescheiden über den Erlass der Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung mitzuentscheiden.

Nach § 46 Abs. 2 Satz 4 SGB IX können Krankenkassen und Pflegekassen für Mitglieder, die ihre Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge selbst zu zahlen haben, die Höhe der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung in einem gemeinsamen Beitragsbescheid festsetzen. Das Mitglied ist darauf hinzuweisen, dass der Bescheid über den Beitrag zur Pflegeversicherung im Namen der Pflegekasse ergeht (§ 46 Abs. 2 Satz 5 SGB IX). In den Fällen des Satzes 4 kann auch ein gemeinsamer Widerspruchsbescheid erlassen werden; Satz 5 gilt entsprechend.

Diese Voraussetzungen für den Erlass eines gemeinsamen Beitragsbescheides (hier: Bescheid vom 2. Juli 2009) der Beklagten zu 1. und 2. lagen vor. Der Kläger ist Mitglied der Beklagten zu 1. und damit auch der Beklagten zu 2. und hatte in dem hier maßgeblichen Zeitraum als Versicherter nach § 5 Abs.1 Nr. 13 SGB V seine Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung selbst zu zahlen (§ 250 Abs. 3 SGB V, § 59 Abs. 1 SGB XI i.V.m. § 250 Abs. 3 SGB V). Bei einem Erlass von Beitragsforderungen geht es letztendlich auch um die Festsetzung der Höhe der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung i.S.d. § 46 Abs. 2 Satz 4 SGB IX. Der Erlass stellt die Kehrseite der Erhebung von Beiträgen dar und betrifft unmittelbar die Beitragshöhe (vgl. Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Februar 2018 - Az.: L 1 KR 910/16, Rn. 55, m.w.N., nach juris). Dem schließt sich der erkennende Senat an.

Die Voraussetzungen des § 256a Abs. 1 und 2 SGB V liegen bezüglich der Beiträge für den Zeitraum vom 1. November 2008 bis 30. Juni 2009 vor.

Der Kläger hat das Vorliegen der Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V, wenn auch nicht auf eigene Initiative, nachträglich - am 1. Juli 2013 - der Beklagten zu 1. angezeigt.

Seit dem 1. November 2008 bestand i.S.d. § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V, nach Beendigung der Pflichtversicherung aufgrund Beschäftigung, für den Kläger kein anderweitiger Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall und er war zuvor zuletzt gesetzlich krankenversichert. Nach § 5 Abs. 8a Satz 4 SGB V gilt der Anspruch auf Leistungen nach § 19 Abs. 2 nicht als Absicherung im Krankheitsfall i.S.d. § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V. Anhaltspunkte dafür, dass dies hier anders zu sehen wäre, liegen nicht vor (vgl. BSG, Urteil vom 4. März 2014 - Az.: B 1 KR 68/12 R, Rn. 24, nach juris). Die Versicherungs- und Beitragspflicht traten nach § 186 Abs. 11 SGB V danach ab dem 1. November 2008 ein. Entsprechendes gilt für die soziale Pflegeversicherung.

Nach dem Sinn und Zweck des § 256a SGB V sieht es der Senat als ausreichend an, dass der Kläger, auf die Ankündigung der Beklagten, die Beiträge festzusetzen, die Anzeige der Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V, § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 12 SGB XI am 1. Juli 2013 getätigt hat (a.A. Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 10. August 2017 - L 1 KR 546/16, nach juris). Dies begründet sich wie folgt:

Ausgangspunkt der Einfügung des § 256a SGB V ist das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz - GKV-WSG), das im Wesentlichen zum 1. April 2007 in Kraft getreten und für alle Einwohner ohne anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall, die dem System der GKV zuzuordnen sind, eine nachrangige Auffangversicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 eingeführt hat. Diese Versicherungspflicht entsteht kraft Gesetzes und damit unabhängig davon, ob sich die Betroffenen zur Feststellung und Durchführung der Mitgliedschaft an die zuständige Krankenkasse wenden; die Mitgliedschaft dieser Versicherungspflichtigen - und mit ihr auch die Beitragspflicht - beginnt nach § 186 Abs. 11 Satz 1 und 3 SGB V mit dem ersten Tag ohne anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall im Inland und damit gegebenenfalls rückwirkend. In der Folgezeit sind bei zahlreichen Personen, die sich nicht bzw. verspätet zwecks Durchführung der Versicherungspflicht bei der zuständigen Krankenkasse gemeldet haben bzw. melden, erhebliche Beitragsrückstände aufgelaufen, zu deren Begleichung viele Betroffene nicht in der Lage waren. Zur Begleichung dieser Rückstände sah die mit Einführung des § 256a SGB V ebenfalls aufgehobene Regelung des § 186 Abs. 11 Satz 4 SGB V eine Möglichkeit zur Ermäßigung, Stundung bzw. zum Erlass der aufgelaufenen Beitragsschulden vor, die jedoch wegen der engen Voraussetzung, dass der Versicherte diesen Zustand nicht vertreten durfte, eher selten zur Anwendung kam. Mit der Regelung des § 256a SGB V verfolgt der Gesetzgeber entsprechend dem Titel des Gesetzes das Ziel, bei zukünftig festgestellten Mitgliedschaften nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V eine Ermäßigung der rückwirkend nachzuzahlenden Beträge sowie eine Ermäßigung und einen Erlass der darauf entfallenden Säumniszuschläge deutlich zu vereinfachen und zu fördern. Für bereits festgestellte Mitgliedschaften sollen die Rückstände, die zwischen dem Eintritt der Versicherungspflicht und der Feststellung der Mitgliedschaft anfallen, erlassen werden (vgl. Hornig in, Krauskopf, Soziale Krankenversicherung Pflegeversicherung Kommentar, Stand Juni 2018, § 256a SGB V, Rn. 4 unter Verweis auf BT-Drs 17/13947, Seite 28). Über die Neuregelung des Absatzes 1 hinaus sieht § 256a Abs. 2 SGB V einen vollständigen Beitragserlass einschließlich der angefallenen Säumniszuschläge für zurückliegende Zeiträume für alle Personen vor, die sich zur Feststellung und Durchführung der Mitgliedschaft bis zum 31. Dezember 2013 an die jeweils zuständige Krankenkasse wenden. Diese Stichtagsregelung setzt für bisher nicht gemeldete Personen einen deutlichen Anreiz, zeitnah bei der Krankenkasse ihre Mitgliedschaft nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 feststellen zu lassen, indem denjenigen, die bis zum 31. Dezember 2013 ihre Mitgliedschaft bei einer Krankenkasse feststellen lassen, in der Regel ein vollständiger Schuldenerlass gewährt wird. Es ist davon auszugehen, dass die Stichtagsregelung viele Betroffene dazu bewegen wird, die Gelegenheit zu nutzen und sich bei ihrer Krankenkasse zu melden. Die Regelung dient damit der Umsetzung des schon mit dem GKV-WSG erfolgten gesamtgesellschaftlichen Ziels eines Versicherungsschutzes für alle Einwohner (vgl. BT-Drs 17/13947, Seite 28, 29).

Auch bei dem Kläger sind Beitragsrückstände aufgelaufen, eine Absicherung im Krankheits-/Pflegefall bestand nicht, er hat die Anzeige schließlich - noch vor Inkrafttreten des Gesetzes am 1. August 2013 -, am 1. Juli 2013 gegenüber der Beklagten zu 1. getätigt. Das Bestehen der Auffangversicherung wurde erst rückwirkend - vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung - festgestellt. § 256a Abs. 1 und Abs. 2 SGB V ist nach seinem Wortlaut auch anwendbar, soweit Beiträge "seit dem Eintritt der Versicherungspflicht" nicht gezahlt wurden.

Anwendbar ist, wenn sich der Versicherte - wie hier - bis zum 31. Juli 2013 bei der Krankenkasse gemeldet hat oder dies bis spätestens 31. Dezember 2013 tut, § 256a Abs. 2 SGB V als Spezialregelung (vgl. Felix, in jurisPK-SGB V, a.a.O., Rn. 19). Danach sollen die Beiträge und die darauf entfallenden Säumniszuschläge nach § 24 SGB IV erlassen werden. Das "sollen" beinhaltet, dass der Leistungsträger in der Regel die Beiträge zu erlassen hat, jedoch in atypischen Fällen nach seinem Ermessen hiervon abweichen kann. Sollvorschriften ermangelt es an einer abstrakt-generellen - die Verwaltung bindenden - normativen Entscheidung. Zwar ist bei Vorliegen der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen die Rechtsfolge regelmäßig vorgezeichnet. Anders als bei einer Regelung, bei der die tatbestandlichen Voraussetzungen abschließend durch den Gesetzgeber ausformuliert sind, kann der Leistungsträger indes - gleichsam im Sinne einer normativen Offenheit - in atypischen Fällen nach seinem Ermessen hiervon abweichen. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass ein striktes Umsetzen von Normbefehlen Folgen haben kann, die vom Gesetzgeber nicht zwingend gewollt und mit Billigkeitsgesichtspunkten bzw. dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht ohne Weiteres in Einklang zu bringen wären. Die Frage, ob ein atypischer Fall vorliegt, ist nicht im Wege der Ermessensausübung zu klären, sondern als Rechtsvoraussetzung im Rechtsstreit von den Gerichten zu überprüfen und zu entscheiden. Ein Gericht muss, wenn der Leistungsträger einen Regelfall angenommen hat, selbst prüfen, ob ein solcher vorliegt; der angefochtene Bescheid darf wegen fehlender Ermessensausübung nur aufgehoben werden, wenn die Prüfung einen atypischen Fall ergibt (vgl. BSG, Urteil vom 30. Juni 2016 - Az.: B 5 RE 1/15 R, nach juris).

Zur Prüfung des Vorliegens, ob der hier vorliegende Fall vom Regelfall in § 256a Abs. 2 SGB V - Erlass der Beiträge und Säumniszuschlägen - abweicht, sind zunächst die aufgrund des Auftrages in § 256a Abs. 4 SGB V ( "das Nähere zur Ermäßigung und zum Erlass von Beiträgen und Säumniszuschlägen nach den Absätzen 1 bis 3, insbesondere zum Verzicht auf die Inanspruchnahme von Leistungen als Voraussetzung für die Ermäßigung oder den Erlass") vom GKV-Spitzenverband am 4. September 2013 erlassenen "Einheitlichen Grundsätze zur Beseitigung finanzieller Überforderung bei Beitragsschulden" (im Folgenden: Einheitliche Grundsätze) heranzuziehen, denen das Bundesministerium für Gesundheit am 16. September 2013 zugestimmt hat. Dort ist der Erlass von Beiträgen und Säumniszuschlägen für den Fall der Anzeigen bis zum 31. Juli 2013 in § 3 wie folgt geregelt:

"(1) Hat ein Versicherter das Vorliegen der Voraussetzungen der Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V bis zum 31. Juli 2013 angezeigt, sind die für die Zeit seit dem Beginn der Versicherungspflicht bis zum Ende des Monats, der dem Tag der Anzeige vorhergeht (Nacherhebungszeitraum), noch nicht gezahlten Beiträge zu erlassen. Ein Erlass der Beiträge setzt voraus, dass das Mitglied schriftlich erklärt, während des Nacherhebungszeitraums Leistungen für sich nicht in Anspruch genommen zu haben oder im Falle in Anspruch genommener Leistungen auf eine Kostenübernahme oder Kostenerstattung zu verzichten (Satz 1). (2) Sofern im Falle des Erlasses von Beiträgen nach Absatz 1 auf die Forderung für den Nacherhebungszeitraum Säumniszuschläge nach § 24 SGB IV zu erheben waren, sind diese zu erlassen. Gleiches gilt für Vollstreckungskosten, Gebühren und Zinsen. Abs. 1 Satz 4 gilt entsprechend."

Hierbei dürfte es sich entsprechend der "Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler" um untergesetzliche Normen handeln, die u.a. - entsprechend den allgemeinen Grundsätzen zur Normenhierarchie - sich im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung halten müssen (vgl. aus-führlich: BSG, Urteil vom 19. Dezember 2012 - Az.: B 12 KR 20/11, nach juris).

Nach § 3 der Einheitlichen Grundsätze scheidet ein Erlass der Beitragsforderungen, Säumniszuschläge und sonstigen Kosten für den Zeitraum vom 1. November 2008 bis 30. Juni 2009 aus, weil der Kläger unstreitig Leistungen in Anspruch genommen hat. Er hat einen Vertragsarzt aufgesucht und sich aufgrund einer vertragsärztlichen Verordnung Arzneimittel beschafft, die durch die Leistungserbringer bei der Beklagten zu 1. im Umfang 32,40 EUR und 277,36 EUR abgerechnet wurden. Die weitere Variante nach § 2 Abs. 1 Satz 4 der Einheitlichen Grundsätze (Verzichtserklärung zur Kostenübernahme oder -erstattung) hilft hier nicht weiter, weil hier keine noch offenen Kostenansprüche in Rede stehen.

Der Gesetzgeber wollte den betroffenen Versicherten aber durch die Einführung des § 256a SGB V die Wahl eröffnen, von dem Beitragserlass Gebrauch zu machen oder nachträglichen Versicherungsschutz durch das Einreichen von Rechnungen in Anspruch zu nehmen (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. September 2014 - Az.: L 1 KR 331/14 B ER m.w.N., Rn. 19, SG Dresden, Urteil vom 7. Dezember 2016 - Az.: S 25 KR 143/14, nach ju-ris).

Nach der Rechtsauffassung des erkennenden Senats (vgl. rechtskräftiges Senatsurteil vom 18. Oktober 2018 - Az.: L 6 KR 264/15) führt die Inanspruchnahme von Leistungen nicht dazu, dass ein Erlass von vornherein ausscheidet, wovon die Beklagte ausgeht. Sie hat zu Gunsten des Klägers lediglich die Säumniszuschläge nach § 256a Abs. 3 SGB V ermäßigt. Ein derartiges Verständnis von § 3 Abs. 1 Satz 4 der Einheitlichen Grundsätze ist von der Ermächtigung in § 256a SGB V nicht gedeckt, der im Regelfall einen Erlass vorsieht und nur bei Vorliegen eines atypischen Falles eine Ermessensentscheidung anordnet. Dass jegliche tatsächliche Inanspruchnahme von Leistungen der GKV in der Vergangenheit einen Erlass ausschließt, lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen. Als negative Tatbestandsvoraussetzung ist dies im Gesetz nicht formuliert. In § 256 Abs. 1 und 2 SGB V wird allein auf die Anzeige abgestellt. Angesichts dieser eindeutigen gesetzlichen Systematik ist es fernliegend, die Ermächtigung zur Regelung des "Näheren zum Erlass" an den Spitzenverband Bund der Krankenkassen, "insbesondere zu einem Verzicht auf die Inanspruchnahme von Leistungen als Voraussetzung", in einer Weise auszulegen, die dazu führt, dass schon bei jeglicher Inanspruchnahme von GKV-Leistungen jeder Erlass ausgeschlossen sein soll. Eine derart weitreichende Entscheidung mit unter Umständen gravierenden finanziellen Konsequenzen für den Betroffenen muss schon im Hinblick auf den Wesentlichkeitsgrundsatz dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben. Dass der Gesetzgeber bei dem erst am 1. August 2013 in Kraft getretenen Gesetz in allen Fällen der Leistungsinanspruchnahme einen Erlass ausschließen wollte, erscheint auch unter Berücksichtigung der im Titel des Gesetzes zum Ausdruck kommenden Zielsetzung des Gesetzes fernliegend (vgl. LSG Berlin - Brandenburg, Beschluss vom 30. September 2014 - L 1 KR 331/14 B ER, Rn. 19, nach juris). Das findet Bestätigung in der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs. 17/13947, S. 39: "Zu Absatz 4: ( ) Der Spitzenverband Bund hat dabei insbesondere auch die Voraussetzungen dafür zu regeln, nach denen ein Leistungsverzicht bzw. ein Verzicht auf die Einreichung von Rechnungen für den entsprechenden Zeitraum Bedingung für einen Erlass bzw. die Ermäßigung von Beiträgen ist"). Angesichts dieser Formulierung ("die Voraussetzungen dafür zu regeln, nach denen ") spricht nichts dafür, dass der Gesetzgeber dem GKV-Spitzenverband mit der Ermächtigung in § 256a Satz 4 SGB V die Rechtsmacht geben wollte, tatbestandserweiternd einen Erlass bei jeder noch so geringen Inanspruchnahme von Leistungen ohne jegliche Einzelfallprüfung auszuschließen.

Da die Fallgestaltung der Inanspruchnahme von Leistungen keinem der Regelfälle - Versicherte, die keine Leistungen in Anspruch genommen haben oder für diese selbst bezahlt haben - entspricht, liegt ein atypischer Fall vor, so dass die Beklagten bei der Entscheidung über den Antrag des Klägers auf Erlass der Beiträge, Säumniszuschläge und sonstigen Kosten ihr Ermessen pflichtgemäß auszuüben haben, was sie bislang nicht getan haben.

Soweit die Beklagte zu 1., auch im Namen der Beklagten zu 2., den Erlass der Forderung nach § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV, der weiterhin neben § 256a SGB V anwendbar bleibt (vgl. Hornig, in Krauskopf a.a.O, Rn. 6) abgelehnt hat, ist der Bescheid vom 3. Juni 2013, abgeändert durch Bescheid vom 25. November 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Februar 2014 nicht zu beanstanden. Der Begründung des Bescheides lässt sich entnehmen, dass die Beklagte zu 1. von ihrem Ermessen Gebrauch gemacht hat. Ein Ermessensfehlgebrauch ist nicht ersichtlich und wird von dem Kläger auch nicht geltend gemacht.

Nach § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV darf der Versicherungsträger Ansprüche nur erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig werde. Wie sich aus der Verwendung des Begriffs "dürfen" ergibt, handelt es sich bei der Entscheidung über den Erlass um eine Ermessensentscheidung, die gekoppelt ist mit dem unbestimmten Rechtsbegriff der Unbilligkeit. Nach der Rechtsprechung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes aus dem Jahr 1971 (GmS-OGB 3/70) ist davon auszugehen, dass der Begriff der Unbilligkeit in den Bereich hineinreicht, und zugleich Inhalt und Grenzen der pflichtgemäßen Ermessensausübung bestimmt. Ist eine Unbilligkeit anzunehmen, wäre der Erlass zu gewähren, anderenfalls abzulehnen. Die gerichtliche Überprüfung beschränkt sich somit auf die Frage, ob der Leistungsträger überhaupt von dem ihm eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht hat, ob er sämtliche relevanten Umstände des Einzelfalles berücksichtigt hat und ob die von ihm erkennbar zu Grunde gelegten Erwägungen zur Frage der Notwendigkeit einer Entscheidung tragen (vgl. LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. Februar 2018 - Az.: L 1 KR 910/16 m.w.N., Rn. 63, nach juris).

Für das Vorliegen von Gründen, die zur Unbilligkeit führen können, kommt es auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, d.h. in der Regel den Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides an (vgl. BSG, Urteil vom 9. Februar 1995 - Az.: 7 RAr 78/93, Rn. 63, nach juris).

Darüber hinaus stehen nach Voraussetzungen und Wirkungen, Stundung (§ 76 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB IV) und Erlass in einer Stufenfolge. Ein Erlass kommt dann nicht in Betracht, wenn eine Stundung ausreicht, um der mit der Einziehung der Forderung verbundenen "Härte" Rechnung zu tragen. Hierzu hat der Spitzenverband Bund der Krankenkassen gestützt auf § 217f Abs. 3 Satz 1 SGB V "Einheitliche Grundsätze zur Erhebung von Beiträgen, zur Stundung, zur Niederschlagung und zum Erlass sowie zum Vergleich von Ansprüchen (Beitragserhebungsgrundsätze)" vom 17. Februar 2010 erlassen. Auf deren § 9 hat die Beklagte zu 1. im Widerspruchsbescheid vom 5. Februar 2014 Bezug genommen. Die Beklagte hat bei der Prüfung der Unmöglichkeit persönliche und sachliche Billigkeitsgründe berücksichtigt und sie gegen den Grundsatz, dass Beiträge vollständig zu erheben sind, abgewogen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt das überwiegende Unterliegen des Klägers im Hinblick auf den ursprünglichen Berufungsantrag.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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