L 1 KR 43/02

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 KR 43/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 30. Oktober 2002 geändert und festgestellt, dass die Kläger während ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland gegen die Beklagte einen Anspruch auf die nach dem Sozialgesetzbuch Fünftes Buch zustehenden Krankenversicherungsleistungen auch als Sachleistungen auf Krankenversicherungskarte unter der Voraussetzung haben, dass sie nicht gleichzeitig bei dem belgischen Sozialversicherungsträger eingetragen sind. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Kläger zu erstatten.
3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Berechtigung zur Inanspruchnahme von Krankenversicherungsleistungen der Beklagten in der Bundesrepublik Deutschland auf Versicherungskarte bei Wohnsitz der Kläger in Belgien streitig.

Der am XX.XXXXX 1931 geborene Kläger ist, nachdem er sein Berufsleben lang in der Bundesrepublik Deutschland tätig war, seit 1996 als Rentner bei der Beklagten pflichtversichert. Die am 1929 geborene Klägerin ist als seine Ehefrau familienversichert. Beide leben in Belgien (Zuzug des Klägers 1975). In den Bescheiden vom 30. August 2001 führte die Beklagte aus, wegen des Wohnsitzes in Belgien hätten die Kläger keinen direkten Leistungsanspruch gegen sie. Dieser ruhe. Es könnten entsprechend dem europäischen Recht Sachleistungen nur vom Träger der Sozialversicherung am Wohnort gewährt werden. Hierzu müsse bei diesem eine Eintragung vorgenommen werden. Daraufhin ließen sich die Kläger beim belgischen Krankenversicherungsträger eintragen. Den gegen diese beiden Bescheide gerichteten Widerspruch wies die Beklagte mit den Widerspruchsbescheiden vom 17. April 2002 zurück.

Das Sozialgericht hat der Klage mit Gerichtsbescheid vom 30. Oktober 2002 unter Bezugnahme auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16. Juni 1999 (B 1 KR 5/98 R, BSGE 84, 98) stattgegeben.

Hiergegen hat die Beklagte Berufung eingelegt. Die in ihren Bescheiden geäußerte Rechtsauffassung sei zutreffend. Zu Unrecht habe das Sozialgericht der Klage stattgegeben. Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 3. Juli 2003 (C-156/01-van der Duin/van Wegberg- van Brederorde, SozR 4-6050 Art 22) bestätige, dass Leistungen nur vom Krankenversicherungsträger des Wohnortes beansprucht werden könnten.

Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 30. Oktober 2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen ausweislich ihrer Schriftsätze sinngemäß,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie sind der Auffassung, die erstinstanzliche Entscheidung sei zutreffend. Es sei für sie unzumutbar, vor einem Arztbesuch jedes Quartal erst in Belgien (E.) eine Bescheinigung (F 112 Plus) einzuholen und damit zur Beklagten nach A. (Deutschland) zu fahren, damit diese eine Genehmigung erteile. Dadurch seien sie einen ganzen Tag unterwegs, obwohl sie lediglich 500 Meter hinter der Grenze wohnten. Wegen bestehender Sprachschwierigkeiten und des Leistungsumfangs im belgischen Krankenversicherungssystem seien sie an einer Inanspruchnahme von Leistungen in Belgien nicht interessiert. Auch hätten sie schon immer nur Ärzte in Deutschland konsultiert, zu denen ein Vertrauensverhältnis bestünde. Aus Alters- und Gesundheitsgründen werde die z. Zt. praktizierte Handhabung für sie immer unerträglicher.

Wegen des Sachverhalts im Einzelnen wird auf die in der Sitzungsniederschrift vom 21. Januar 2004 aufgeführten Akten und Unterlagen verwiesen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung des Senats gewesen.

Entscheidungsgründe:

Trotz des Nichterscheinens der Kläger zum Verhandlungstermin konnte der Senat den Rechtsstreit entscheiden, weil diese ausweislich des Zustellnachweises ordnungsgemäß vom Termin benachrichtigt und darauf hingewiesen worden sind, dass auch im Falle ihres Ausbleibens entschieden werden könne (§ 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Beklagten (vgl. §§ 143, 144, 151 SGG) ist zum Teil begründet. Die Kläger haben trotz ihres Wohnsitzes in Belgien grundsätzlich als Versicherte der Beklagten einen Anspruch auf Gewährung von Krankenversicherungsleistungen in der Bundesrepublik Deutschland auch als Sachleistung auf Versicherungskarte. Zu einer Eintragung beim belgischen Krankenversicherungsträger sind sie zwar nicht verpflichtet, aber solange sie bei diesemeingetragen sind, können sie Leistungen im Bundesgebiet nur nach Genehmigung dieses Leistungsträgers und im Umfang beschränkt auf die nach belgischem Recht zustehenden Leistungen in Anspruch nehmen.

Mit der kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage begehren die Kläger ausweislich ihrer Schriftsätze sinngemäß festzustellen, dass sie – entgegen der in den Bescheiden der Beklagten geäußerten Rechtsansicht – nicht auf Leistungen des belgischen Krankenversicherungsträgers verwiesen werden können, sondern weiter berechtigt sind, in der Bundesrepublik Deutschland Krankenversicherungsleistungen der Beklagten auch als Sachleistung auf Versicherungskarte in Anspruch zu nehmen. Diese Klage ist insgesamt zulässig. Gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG kann mit der Klage die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden. Zwar ist hier nicht das Krankenversicherungsverhältnis als solches im Streit. Gegenstand der Klage kann aber auch die Feststellung einzelner Rechte und Pflichten sein, die auf dem Rechtsverhältnis basieren und vom Inhalt dieses Rechtsverhältnisses abhängen. Zur Klärung nur abstrakter Rechtsfragen dürfen die Gerichte nicht angerufen werden (vgl. Meyer-Ladewig, SGG-Kommentar, Rdnr. 3ff zu § 55). Vorliegend geht es um das konkrete Recht, Sachleistungen wie ein in der Bundesrepublik Deutschland wohnender Versicherter in Anspruch nehmen zu können. Die Kläger haben ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung, denn die Ausführungen in den Bescheiden der Beklagten zeigen, dass diese ein Recht, Leistungen wie bisher in Anspruch zu nehmen, bestreitet. Da die Kläger unter Umständen dringend auf Krankenversicherungsleistungen bei einer eintretenden akuten Erkrankung angewiesen sein können, besteht auch ein berechtigtes Interesse an der Klärung unabhängig von einem Krankheitsfall. Die zur Zeit bestehende Eintragung beim belgischen Krankenversicherungsträger hindert – obwohl sie aktuell der begehrten Leistungsgewährung wie gegenüber einem im Bundesgebiet lebenden Versicherten entgegensteht (dazu unten) – nicht die Geltendmachung des Feststellungsbegehrens. Es besteht nämlich dennoch ein berechtigtes Interesse an der o. g. Feststellung. Die Kläger haben die Eintragung erst vorgenommen, nachdem die Beklagte ihnen mitgeteilt hatte, nur so könnten sie Krankenversicherungsleistungen überhaupt in Anspruch nehmen. Sie haben in ihren Schreiben deutlich gemacht, dass sie keine Sachleistungen in Belgien beanspruchen wollen. Die Eintragung liege deswegen nicht in ihrem Interesse, sondern sei nur "notgedrungen" vorgenommen worden. Es kann von ihnen nicht verlangt werden, vor einer rechtskräftigen Entscheidung über ihr Feststellungsbegehren die Eintragung rückgängig zu machen, weil sie sonst im Falle ihres Unterliegens in diesem Rechtsstreit das Risiko eingingen, Krankenversicherungsleistungen letztendlich aus eigenen Mitteln tragen zu müssen. Da die Kläger die Eintragung beim belgischen Sozialleistungsträger ungehindert jederzeit rückgängig machen können (dazu unten) und dies auch anstreben, handelt es sich bei der Feststellung, welche Rechte ihnen gegenüber der Beklagten in diesem Fall zustehen, nicht um eine bloß abstrakte Rechtsfrage, deren Klärung im Rahmen einer Klage nicht zulässig angestrebt werden kann, sondern um eine konkrete Frage, die für zukünftige Krankheitsfälle relevant ist.

Gemäß Art. 28 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Nr. 1408/71 (VO 1408/71) erhält ein Rentner, der nach den Rechtsvorschriften u.a. eines Mitgliedstaats zum Bezug einer Rente berechtigt ist und keinen Anspruch auf Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats hat, in dessen Gebiet er wohnt, dennoch diese Leistung für sich und seine Familienangehörigen, sofern u.a. nach den Rechtsvorschriften des Staates, auf Grund derer die Rente geschuldet wird, Anspruch auf Leistungen bestünde, wenn er im Gebiet des betreffenden Staates wohnte. Sachleistungen werden dabei nach den Rechtsvorschriften des Wohnstaates gewährt (vgl. Art. 28 Abs. 1 Satz 2a VO 1408/71). Die Kosten hierfür übernimmt der zuständige Träger des Staates, aufgrund dessen Rechtsvorschriften der Rentner Anspruch auf Sachleistungen hat (vgl. Art. 28 Abs. 2 Satz 2a VO 1408/71). Gemäß Art. 29 der Verordnung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Nr. 574/72 (VO 574/72) zur Durchführung der VO 1408/71 hat ein Rentner für den Bezug von Sachleistungen u.a. nach Art. 28 Abs. 1 der VO 1408/71 im Gebiet des Mitgliedstaats, in dem er wohnt, sich und seine im selben Mitgliedstaat wohnenden Familienangehörigen beim Träger des Wohnorts eintragen zu lassen und dabei eine Bescheinigung darüber vorzulegen, dass er auf Grund der Rechtsvorschriften, nach denen eine Rente geschuldet wird, für sich und seine Familienangehörigen Anspruch auf Sachleistungen hat.

Der EuGH hat in der oben genannten Entscheidung bestätigt, dass ein Rentner und seine Familienangehörigen, sobald sie die durch Art. 28 VO 1408/71 begründete Rechtsstellung erworben haben, indem sie sich, wie in Art. 29 VO 574/72 vorgesehen, beim Träger des Wohnorts haben eintragen lassen, nach dem Wortlaut des genannten Art. 28 Anspruch auf Gewährung von Sachleistungen haben, als ob der Rentner nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet er wohnt, zum Bezug einer Rente berechtigt wäre und Anspruch auf Sachleistungen für sich und seine Familienangehörigen hätte. Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, der zur Zahlung der Rente verpflichtet ist, sind nur zusätzliche Leistungen, auf die kein Anspruch aus der VO 1408/71 besteht. Die anders lautenden Regelungen fürArbeitnehmer oder Selbständige können auf Rentner nicht entsprechend angewendet werden. Dem widerspricht bereits die Kostentragungsverpflichtung des Leistungsträgers des Staats, der zur Zahlung der Rente verpflichtet ist, denn dieser müsste sonst die Leistungen doppelt zahlen. Beim Träger des Wohnorts eingetragene Rentner und ihre Familienangehörigen werden aufgrund juristischer Fiktion so behandelt, als ob sie nach den Rechtsvorschriften des Wohnstaats zum Bezug einer Rente berechtigt wären und daher Anspruch auf Sachleistungen hätten, so dass der hiernach zuständige Träger auch nach den Vorschriften des Staats, in dem sie wohnen, über die Gewährung der betreffenden Leistungen entscheidet. Das gilt auch dann, wenn sie in einen anderen Mitgliedstaat, inklusive dem zur Zahlung der Rente verpflichteten, reisen.

Der Senat folgt dieser Rechtsprechung. Für die Kläger bedeutet dies, dass sie, solange sie beim belgischen Krankenversicherungsträger eingetragen sind, Sachleistungen zwar in Belgien und mit Genehmigung des belgischen Sozialleistungsträgers auch in der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch nehmen, aber nach belgischen Rechtsvorschriften und damit nicht wie ein in Deutschland wohnender Versicherter direkt unter Vorlage der Versicherungskarte beanspruchen können.

Nach Auffassung des Senats sind die Kläger nicht verpflichtet, sich beim belgischen Krankenversicherungsträger eintragen zu lassen. Eine solche Pflicht lässt sich der VO 1408/71 oder der VO 574/72 nicht entnehmen. Die Verordnungen regeln nur die Verfahrensweise, wenn Sachleistungen im Wohnland trotz bestehendem Versicherungsverhältnis in einem anderen Land der Europäischen Gemeinschaft in Anspruch genommen werden sollen. Im Einzelfall – z. B. bei grenzfernem Wohnort - mag es im Interesse der jeweiligen Versicherten liegen, eine Rechtsstellung zu erwerben, die ihnen einen direkten Zugang zu Sachleistungen im Wohnstaat ermöglicht. Für eine Beschränkung des diesbezüglichen Wahlrechts des Versicherten ist jedoch nichts ersichtlich. Ohne eine Eintragung besteht ein Versicherungsverhältnis zur Beklagten, welches durch die europarechtlichen Regelungen nicht eingeschränkt wird, und die Kläger können Krankenversicherungsleistungen in der Bundesrepublik Deutschland wie ein dort wohnender Versicherter in Anspruch nehmen. Der Senat schließt sich den Ausführungen des BSG im oben genannten Urteil an und verweist zur Begründung auf diese - in dem sozialgerichtlichen Gerichtsbescheid auszugsweise wörtlich zitierte - Entscheidung.

Einem Rückgängigmachen der Eintragung stehen demgemäß europarechtliche Regelungen (zumindest bei bloßer Änderung mit Wirkung für die Zukunft) ebenfalls nicht entgegen. Insbesondere sind auch in Art. 29 der VO 574/72 nur die Möglichkeit der Eintragung und ihre Folgen dargelegt, aber keine besonderen Voraussetzungen für eine Austragung aufgestellt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache. Die Kläger sind mit ihrem Begehren weit überwiegend durchgedrungen.

Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtsfragen zugelassen (vgl. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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