L 2 U 20/17

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 40 U 89/10
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 2 U 20/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger an einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 1302 (Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe – BK 1302), Nr. 1310 (Erkrankungen durch halogenierte Alkyl-, Aryl- oder Alkylaryloxide – BK 1310) und/oder Nr. 1317 (Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische – BK 1317) der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) leidet.

Der 1945 geborene Kläger war von 1959 bis 1984 bei dem Unternehmen B. (im Folgenden: Fa. B.) beschäftigt, zunächst für 3 Jahre als Auszubildender an den Standorten I. und M., danach als Betriebsschlosser in I. (ab April 1962), H. (ab August 1963), wieder I. (ab November 1963), wieder H. (ab Januar 1964) und wieder I. (ab Mai 1964), unterbrochen durch den Wehrdienst (1965 bis 1967), dann durchgehend am Standort H. in verschiedenen Betriebsteilen zunächst als Chemiefacharbeiter (ab Juni 1968), später als Chemiemeister (ab September 1980) und als Schlossermeister (ab Oktober 1983). Anschließend war der Kläger am B.-Standort H. für das mit der Demontage von Produktionsanlagen und Materialzerlegung beauftragte Tochterunternehmen D. GmbH (im Folgenden: Fa. D.) als Werkstattmeister tätig (Januar 1985 bis zur Schließung des Werks H.- M2 im März 1997). Während seiner Tätigkeiten war er in nicht genau quantifizierbarem Ausmaß gegenüber verschiedenen Chemikalien exponiert, die den von den BK-Tatbeständen nach den Nrn. 1302, 1310 bzw. 1317 erfassten Stoffgruppen angehören, u.a. Dioxinen wie 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin (TCDD), dem Pestizid Hexachlorcyclohexan (HCH, "Lindan") und organischen Lösungsmitteln. Ab 1985 wurden Arbeiten nur mit persönlich vorgeschriebener Schutzausrüstung (Sicherheitsschuhe, Einweg-Overall, Schutzhandschuhe mit Unterhandschuhen, gebläseunterstützte Atemschutzmaske, Schutzhelm) nach Sicherheitsbelehrung über den Umgang mit gefährlichen Stoffen und im Rahmen eines mit dem Amt für Arbeitsschutz der Freien und Hansestadt H. abgestimmten sowie von einer unabhängigen Expertenkommission überprüften Arbeitsschutzkonzepts durchgeführt.

Nach der Werksschließung 1997 war der Kläger selbstständig mit einem angemeldeten Gewerbe für Verwaltung, aber auch handwerklich tätig (bis 2008).

Im November 2006 beantragte der Kläger bei einer der Rechtsvorgängerinnen der Beklagten, der B1 (im Folgenden: Beklagte), die Gewährung einer Verletztenrente. Er sei von 1959 bis 1997 Beschäftigter der Firmen B. und D. gewesen und fühle sich rückblickend seit Anfang der 1980er Jahre angeschlagen, werde zunehmend vergesslich und es träten Phasen unkontrollierter Aggressivität und eingeschränkter Sexualität auf. Dies sei ihm in letzter Zeit dadurch bewusst geworden, dass Dritte ihn hierauf aufmerksam gemacht hätten. Wegen der geklagten Beschwerden sei er jedoch zu keinem Zeitpunkt in ärztlicher Behandlung gewesen.

Die Beklagte leitete daraufhin Ermittlungen zur Feststellung des Vorliegens von Berufskrankheiten ein und zog unter anderem die Unterlagen des Werkärztlichen Dienstes der Fa. B. bei, in denen die Einstellungsuntersuchung im Jahr 1959 und die ab 1971 bis 1996 mindestens einmal jährlich erfolgten betriebsärztlichen Untersuchungen dokumentiert sind. Die Laborwerte nach Blutuntersuchungen auf die Konzentration von Schadstoffen, denen der Kläger ausgesetzt war, liegen aus den Jahren 1991, 1992, 1995 und 1996 vor. Darüber hinaus enthält die Akte neurologische Berichte nach Kontrolluntersuchungen vom 19. Juni 1985 und 11. November 1986 (Dr. W., B2 Unfallkrankenhaus H.) sowie vom 30. Juni 1988 und 28. Juni 1990 (Dr. E.). Auffällige Befunde oder Beschwerdeangaben in neurologischer Hinsicht finden sich hierin nicht. Lediglich Dr. W. erwähnte in seinem Bericht vom 11. November 1986 eine etwas erhöhte vasomotorische Übererregbarkeit. Der Kläger wurde stets als voll verwendungsfähig beurteilt.

Beigezogen wurden ebenfalls Unterlagen des Instituts für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der J.-Universität M. mit einem Bericht über eine umfangreiche TCDD-Nachuntersuchung vom 27. Februar 1985, wonach der Kläger auch dort angab, sich derzeit völlig gesund und leistungsfähig zu fühlen, und keine Beschwerden äußerte. Als einzige Auffälligkeit fand sich im Rahmen der psychologischen Untersuchung ein weit unterdurchschnittliches Ergebnis im Aufmerksamkeits-Belastungstest "d2" (Standardwert (SW-Wert) 81, Prozentrang (PR-Wert) 03). Ein weiterer Untersuchungsbericht stammt aus dem Dezember 1992.

Die Beklagte holte einen Befundbericht des den Kläger seit 2000 behandelnden Facharztes für Allgemeinmedizin und Hausarztes Dr. S. vom 8. Dezember 2006 ein, der den Kläger vor allem wegen Infekten und orthopädischer Probleme behandelt hatte und angab, von jenem nie Beschwerden gehört oder selbst Befunde erhoben zu haben, die einen Zusammenhang zur beruflichen Schadstoffbelastung nahegelegt hätten. Die Tochter des Klägers sei allerdings schon vor geraumer Zeit vorstellig geworden, weil ihr Vater so aggressiv sei und gleichzeitig vergesslich. Dies sei ihm selbst aber auch danach im Kontakt nicht aufgefallen. Vor etwa zwei Wochen sei die Tochter erneut auf ihn zugekommen und habe berichtet, dass der Kläger mittlerweile erhebliche Schwierigkeiten im Alltag habe (Orientierung, neue Situationen, Erinnern seiner eigenen Pläne). In einem späteren Befundbericht vom 2. Februar 2009 ergänzte Dr. S., dass die Tochter des Klägers ihm erstmals 2006 von ihren Sorgen berichtet habe, dass der Kläger sich in seinem Wesen ändere und sie fürchte, dass dies im Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit und der Exposition gegenüber neurotoxischen Substanzen stehe. Ihm selbst sei rückblickend im Jahr 2005 eine Aggressivität des Klägers aufgefallen, die er aber auf die Frustration über das damalige Krankheitsbild, einen Achillessehnenabriss, geschoben habe. Ab dem Jahr 2006 vermerkte Dr. S. latent aggressives Verhalten und eine Neigung zur Dissimulation der Beschwerden durch den Kläger.

Die Ehefrau des Klägers bestätigte in einem Telefonat mit der Beklagten am 18. Dezember 2006, dass ihr Mann sich zu keiner Zeit wegen der geklagten Störungen in Behandlung begeben habe. Die Symptome in Form von Aggressivität, Depression und Vergesslichkeit (er verlege Sachen, die dann nie wieder gefunden würden) hätten in den letzten zwei Jahren massiv zugenommen. Vergesslich sei er schon seit den 1980er Jahren, es sei jedoch bis vor zwei Jahren nie so schlimm gewesen, dass man von einer massiven Beeinträchtigung hätte sprechen können.

Die Krankenkasse, deren Mitglied der Kläger seit 1974 ist, die F1, übermittelte unter dem 22. Dezember 2006 ein Verzeichnis über dessen Arbeitsunfähigkeitszeiten und gab hierbei lediglich eine solche von vier Wochen im September/Oktober 1997 wegen eines Zustands nach Operation von Hämorrhoiden Grad III an.

Schließlich trat die Beklagte auf Anraten ihres Beratungsarztes und Arztes für Arbeitsmedizin Dr. P. in die Zusammenhangsbegutachtung ein. Zunächst kam der Neurologe Prof. Dr. Z. unter dem 27. Juli 2007 mit ergänzender Stellungnahme vom 26. September 2007 zu der Einschätzung, dass der Kläger über zwei Jahrzehnte teilweise erheblich belastet worden sei. Bei seiner Untersuchung habe er Störungen von Kognition, Attenz, Gedächtnis, Antrieb und Affekt feststellen können. Diese seien einer toxischen Enzephalopathie zuzuordnen. Warum die relevanten Beschwerden erst 20 Jahre nach der exponierten Tätigkeit vom Kläger so deutlich wahrgenommen worden seien, dass sie schließlich zu einer Meldung geführt hätten, sei nicht schlüssig zu beantworten. Eine Erklärung könnte sein, dass die Tendenz zur Dissimulation bei dem Kläger primär gegeben sein könnte und andererseits Besorgnisse über eine fehlende Einsatzmöglichkeit im beruflichen und im Alltagsleben hierbei zu einer langfristigen Dissimulation des sehr chronischen Krankheitsprozesses geführt haben könnten. Im Übrigen gebe es eine Vielzahl von Veröffentlichungen über psychopathologische Spätschäden nach gewerblicher Einwirkung von TCDD. Der Gutachter empfahl die Anerkennung der Gesundheitsstörungen als BK 1303 (gemeint: 1302) und BK 1310 mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v.H. seit etwa vier Jahren.

Prof. Dr. Z1 gab in einem neuroradiologischen Zusatzgutachten vom 7. August 2007 an, dass bildmorphologisch eine Schädigung des Gehirns durch den Kontakt mit Lösungsmitteln nicht zu beweisen sei. Letztlich sei der hier vorliegende, regelrechte Befund nicht als beweisend für oder gegen das Vorliegen einer toxischen Enzephalopathie anzusehen.

Der Beratungsarzt der Beklagten, Dr. P., gab in mehreren Stellungnahmen zu bedenken, dass es sich nach den mittlerweile beigezogenen Unterlagen, insbesondere den nervenärztlichen Befundberichten der Dres. W. und E. aus den Jahren 1986, 1988, 1990 und 1993 anders darstelle als ursprünglich angenommen. Es spreche jetzt doch sehr viel dafür, dass die Erkrankung des Klägers sich erst ab Mitte der 1990er Jahre entwickelt habe. Auch die von Prof. Dr. Z. beschriebenen auffälligen elektrophysiologischen Befunde sowie der ebenfalls auffällige EEG-Befund sprächen mehr für eine Systemerkrankung des Gehirns als für eine toxische Enzephalopathie. Es müsse auch die psychiatrische Diagnose einer Depression in Betracht gezogen werden. Da es an einem eindeutigen Zeitbezug zwischen der Exposition und der Erkrankung fehle, könne die Anerkennung einer BK nicht empfohlen werden. Die von Prof. Dr. Z. zitierte Literatur beziehe sich auf Fallbeschreibungen von Patienten mit einer Organophosphat-Vergiftung. Eine Übertragung auf TCDD sei wissenschaftlich nicht zu begründen. Die vorliegenden Biomonitoring-Daten zur Dioxin- und HCH-Exposition – mit während der 1990er Jahre im Rahmen der zu erwartenden Halbwertzeiten fallender Tendenz – belegten, dass während der Beschäftigung bei der Fa. D. keine nennenswerte Exposition gegenüber diesen Stoffen (mehr) aufgetreten sei (TCCD (ppt) Blutfett: 1991: 45,0, 1992: 41,7, 1995: 21,8, 1996: 19,4; Beta-HCH (µg/l) Vollblut: 1995: 14,5, 1996: 4,6). Daher könne zur Beurteilung der TCDD-Exposition als Expositionsende der 31. Dezember 1984 (Ende der Tätigkeit im B.-Werk H.- M2) herangezogen werden. Bei einer Rückrechnung der Laborwerte unter Berücksichtigung der Halbwertzeiten sei festzuhalten, dass der Kläger im innerbetrieblichen Vergleich zu den relativ gering TCDD-und HCH-belasteten Personen gehört habe.

Unter dem 1. Dezember 2008, ergänzt durch eine Stellungnahme vom 6. Februar 2009, diagnostizierte der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Suchtmedizin PD Dr. R. unter Einbeziehung eines neuropsychologischen Zusatzgutachtens der Dipl.-Psych. H1 und des PD Dr. M3 vom 26. August 2008 eine Demenz bei andernorts klassifizierten Krankheitsbildern (hier Enzephalopathie nach TCDD-und HCH-Exposition) mit anderen Symptomen, vorwiegend depressiv. Ein eindeutig beweisender kausaler Zusammenhang zwischen der TCDD- und HCH-Exposition und der Diagnose könne nicht gezogen werden, da die Symptome zu unspezifisch seien. Auf der anderen Seite fehlten andere die Erkrankung erklärenden Gründe wie zum Beispiel eine erbliche Belastung, Hinweise für eine Alzheimer-Demenz oder eine vaskuläre Demenz oder chronischer Alkoholgebrauch. Es lägen Störungen insbesondere auf den Gebieten des Lernens/Gedächtnisses, der Informationsverarbeitung, Aktivitäten des täglichen Lebens sowie der Effektivität mit deutlicher Depression und Affektstarre und weiteren vegetativen Symptomen vor. Erstmalige Hinweise auf die Erkrankungen würden sich im zeitlichen Zusammenhang zu der Exposition von 1963 bis 1984 im Jahre 1985 finden, in der die Konzentrationsleistungen nach dem d2-Testergebnis im Bereich unterdurchschnittlich – weit unterdurchschnittlich bei gleichzeitig normalem Intelligenzniveau – festgestellt worden seien. Es sei also von einem chronisch-progredienten demenziellen Prozess auszugehen, was im Einklang mit den Beschreibungen aus der einschlägigen Literatur stehe.

Dr. P. vermochte sich in dem in seinen beratungsärztlichen Stellungnahmen vom 8. Januar und 12. März 2009 nicht anzuschließen, auch wenn die Diagnose einer Demenz zutreffend sei. Es handle sich um eine organische Hirnschädigung im Sinne einer Enzephalopathie, wobei der Begriff Demenz lediglich den Schweregrad dieser Störung ausdrücke. Derartig ausgeprägte Hirnstörungen seien sowohl bei der beruflichen Lösemittelexposition, als auch bei beruflicher TCDD-Exposition nur in Ausnahmefällen beobachtet worden und träten nur in extremen Belastungsintensitäten auf. Daher sei dem Gutachter in seiner Einschätzung zu folgen, dass ein Kausalzusammenhang mit der beruflichen TCDD- und HCH-Exposition anhand der Diagnose alleine nicht beweisbar sei. Die Symptomatik sei unspezifisch, und allein aus dem Fehlen außerberuflicher Ursachen könne nicht auf eine berufliche Ursache geschlossen werden. Für die Beurteilung der Zusammenhangsfrage sei der expositionsassoziierte Krankheitsverlauf heranzuziehen. Bei der Expositionsbewertung könne festgestellt werden, dass der Kläger im innerbetrieblichen Vergleich zu den eher gering belasteten Personen gehört habe. Keineswegs habe er zur Gruppe der besonders hoch belasteten Personen gehört. In Bezug auf die Erkrankung sei festzustellen, dass bis 2006 keinerlei ärztliche Befunde vorlägen, die auf eine Enzephalopathie hinwiesen. Der Kläger sei während seiner Tätigkeit bei der Fa. B. und später bei der Fa. D. regelmäßig betriebsärztlich untersucht worden. Die Befunde aus diesen Untersuchungen beinhalteten keinerlei Hinweise für eine psychische und/oder neurologische Beeinträchtigung. Dies gelte insbesondere für den Zeitraum nach 1980. Der seit 2000 behandelnde Hausarzt habe solche Befunde ebenfalls nicht bestätigen können. Auch die von PD Dr. R. herausgestellte Tendenz zur Dissimulation könne insoweit nicht als Erklärung dienen. Die mentalen Beeinträchtigungen hätten sich im Lebensalltag erkennbar auswirken und insbesondere hätten die beruflichen Anforderungen zu Auffälligkeiten führen müssen, was sich im vorliegenden Fall nicht feststellen lasse. Es gebe keinen Hinweis darauf, dass der Kläger zu irgendeinem Zeitpunkt seinen beruflichen Anforderungen als Chemiemeister, Werkstattmeister bzw. ab 1985 und danach als Werkstattleiter aufgrund neurologisch-psychiatrischer Erkrankung nicht mehr gewachsen gewesen sei. Auch der 1985 erhobene d2-Test-Befund sei kein Nachweis für eine Enzephalopathie. Testpsychologische Befunde seien nur im Kontext mit weiteren klinischen Beobachtungen aussagekräftig. Vorliegend stehe der d2-Befund, welcher für sich betrachtet als Ausdruck einer ausgeprägten Beeinträchtigung der konzentrativen Belastbarkeit zu interpretieren wäre, völlig isoliert da und korrespondiere nicht mit weiteren Symptomen, die zu einer derartigen kognitiven Störung passen würden. Beim Kläger bestehe eine zeitliche Differenz zwischen Expositionsende 1984 und dem nachgewiesenen Erkrankungsbeginn etwa 2004 von etwa 20 Jahren. In dieser Situation komme es auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu der Frage an, ob bei beruflich exponierten Personen gegenüber TCDD und/oder HCH gehäuft schwere Enzephalopathien mit erheblicher Latenz zur Expositionszeit beobachtet werden können. Dieses sei nach den vorliegenden, im Einzelnen aufgeführten wissenschaftlichen Studien nicht der Fall. In der von PD Dr. R. zitierten Literaturquelle werde lediglich ausgeführt, dass derartige Symptome noch 38 Jahre nach einer sehr hohen TCDD-Exposition vorhanden sein könnten. Von einem erstmaligen Auftreten derartiger Störungen nach einem derartig langen Latenzzeitraum sei jedoch nicht die Rede.

Nachdem die Fa. B. mitgeteilt hatte, dass aus dem Abschlusszeugnis des Klägers vom 31. März 1997 hervorgehe, dass seine Leistungen in jeder Hinsicht deren vollste Anerkennung gefunden hätten und in der Personalakte keinerlei Hinweise auf psychische Erkrankungen und eventuell daraus resultierende personelle Maßnahmen ersichtlich seien, nahm die staatliche Gewerbeärztin unter dem 14. Mai 2009 dahingehend Stellung, dass die Anerkennung einer BK nicht empfohlen werde. Aufgrund des zeitlichen Verlaufs sei das Vorliegen einer BK nicht wahrscheinlich zu machen.

Daraufhin stellte die Beklagte mit Bescheid vom 9. Juni 2009 fest, dass beim Kläger keine BK 1302, BK 1310 sowie BK 1317 vorläge.

Mit dem hiergegen am 7. Juli 2009 eingelegten Widerspruch verwies der Kläger auf die vorliegenden Gutachten, die ergäben, dass seine nachgewiesene hohe berufliche Exposition die Erkrankungen verursacht habe. Hierzu überreichte er einen unter anderem vom Gutachter Prof. Dr. Z. verfassten Artikel zu zentralnervösen Spätfolgen nach langjähriger Schadstoffexposition am Beispiel von TCDD und HCH (Zbl Arbeitsmed 59 (2009) 176), wonach auch bei mehrjährigen Latenzzeiten im Falle des Fehlens anderer Erklärungsfaktoren durch chronische Erkrankungen bei Patienten mit einer TCDD- und/oder HCH-Exposition eine chronische toxische Enzephalopathie in die differenzialdiagnostischen Erwägungen einbezogen werden müsse, wobei es gelte, andere Krankheitsursachen wie Mikroangiopathien, Alzheimer oder andere toxische Schädigungen (zum Beispiel Alkohol) abzugrenzen. Im Übrigen – so der Kläger – greife die Beweiserleichterung des § 9 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII). Es seien keine Anhaltspunkte für eine anderweitige Verursachung seiner Erkrankungen ersichtlich, sodass ein Kausalzusammenhang gesetzlich vermutet werde.

Unter dem 26. November und 10. Dezember 2009 nahm Dr. P. erneut ergänzend Stellung und wies darauf hin, dass im Fall des Klägers sowohl die Latenz zwischen der Exposition (Ende Dezember 1984) und den medizinisch dokumentierten Erkrankungssymptomen als auch der seit 2006 progrediente Krankheitsverlauf gegen einen beruflichen Zusammenhang sprächen. Schon die Erkrankung an einer toxischen Enzephalopathie sei nicht belegt. Die Studie von Prof. Dr. Z. sei nicht repräsentativ und stelle angesichts der angewandten Methodik keine neue wissenschaftlich begründete Erkenntnisquelle dar. Es könne durchaus bei Speichergiften Verschlechterungen nach dem Expositionsende geben. Entscheidend sei hier jedoch zum einen die zeitliche Assoziation mit der Exposition, zum anderen auch der Grad der Progredienz. Bezogen auf § 9 Abs. 3 SGB VII gab Dr. P. an, dass außerberufliche Risikofaktoren nach Aktenlage nicht erkennbar seien, dass jedoch der untypische Krankheitsverlauf gegen eine Anwendung der Beweiserleichterung spreche.

Mit am 25. Februar 2010 abgesandtem Widerspruchsbescheid vom 23.02.2010 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück. Ungeachtet der Frage eines ursächlichen Zusammenhangs sei festzustellen, dass eine toxische Enzephalopathie nicht mit in der gesetzlichen Unfallversicherung notwendiger Beweiskraft (Vollbeweis) habe belegt werden können. Die alleinige Diagnose einer Enzephalopathie reiche nicht aus. Merkmale einer toxischen Enzephalopathie seien zum einen der zeitliche Bezug zu dem neurotoxischen Stoff, zum anderen der Krankheitsverlauf nach dem Expositionsende. In der Angelegenheit des Klägers sprächen sowohl die Latenz zwischen dem Expositionsende und den erstmals im Jahr 2006 medizinisch dokumentierten Erkrankungssymptomen als auch der seit 2006 progrediente Krankheitsverlauf gegen eine toxische Enzephalopathie. Zu den Ausführungen des Klägers in Bezug auf die Vorschrift des § 9 Abs. 3 SGB VII führte die Beklagte aus, dass auch im Rahmen dieser Vorschrift zunächst die Grundsätze für den Vollbeweis der anspruchsbegründenden Tatsachen (zum Beispiel Exposition und Erkrankung) gölten. Auch sei eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für den ursächlichen Zusammenhang u.a. zwischen der Exposition und der Erkrankung erforderlich. Die Vorschrift des § 9 Abs. 3 SGB VII stelle diesen im Grundsatz nicht infrage. Es handele sich nicht um eine echte Beweisvermutung, die es erlauben würde, einen Ursachenzusammenhang zu fingieren. Die medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse über die generellen Zusammenhänge zwischen definierten arbeitsplatzbezogenen Einwirkungen und bestimmten Erkrankungen seien dafür maßgeblich, wann bzw. ob die in § 9 Abs. 3 SGB VII genannten Voraussetzungen für die Kausalitätsvermutung gegeben seien. Somit sei auch im Rahmen von § 9 Abs. 3 SGB VII zu prüfen, ob selbst bei Fehlen außerberuflicher Ursachen für die Erkrankung nach den geltenden Beweismaßstäben ein Zusammenhang zwischen Exposition und Erkrankung hinreichend wahrscheinlich gemacht werden könne, was vorliegend nicht der Fall sei.

Hiergegen hat der Kläger am 24. März 2010 Klage beim Sozialgericht (SG) Hamburg erhoben. Unter Wiederholung und Vertiefung seines vorgerichtlichen Vortrags hat der Kläger daran festgehalten, dass nach § 9 Abs. 3 SGB VII eine gesetzliche Vermutung im Sinne einer Beweiserleichterung zu seinen Gunsten bestehe, dass seine Erkrankungen (zunehmende Konzentrationsstörungen, Gedächtnisstörungen (insbesondere im Kurzzeitgedächtnis), Orientierungsstörungen, Störungen im Sexualleben sowie Stimmungsstörungen mit stark negativem Affekt und ausgeprägten Stimmungsschwankungen zwischen Depression und Aggressivität) durch die versicherten Tätigkeiten verursacht worden seien. Im Übrigen sei davon auszugehen, dass er auch während seiner Tätigkeit für die Fa. D. bis 1997 einer toxischen Exposition ausgesetzt gewesen sei, dies gelte auch vor dem Hintergrund der gemessenen Belastung der Raumluft der Werkswohnung. Als weiteren Hinweis darauf, dass seine sich schleichend verschlechternde Erkrankung bereits seit den 1980er Jahren vorhanden gewesen sei, hat der Kläger vorgetragen, dass Prof. Dr. M1 von der Beratungsstelle für ehemalige B.-Mitarbeiter ihn in den 1980er und 1990er Jahren bei mehrfachen Untersuchungen als herrisch und dissimulierend kennengelernt habe. Bereits am 24. August 2001 sei er bei jenem wegen Gesundheitsstörungen in ärztlicher Behandlung gewesen. Der Kläger hat eine Stellungnahme von Prof. Dr. M1 zur Akte gereicht, der unter anderem ausgeführt hat, in einem im August 2001 geführten Telefongespräch Beschwerden über peinliche Vergesslichkeit, innere Unruhe, Störungen von Schlaf und Antrieb vom Kläger gehört zu haben, die nach seinen Erfahrungen zur Symptomatik der bei den ehemaligen B.-Mitarbeitern aufgetretenen Krankheitserscheinungen gepasst habe. Er habe auch erfahren, dass es bereits bei der Fa. D. wegen auffälliger Vergesslichkeit zu gewissen Schwierigkeiten gekommen sein solle. Schließlich hat der Kläger Bezug genommen auf näher bezeichnete Studien und das Merkblatt zur BK 1317, wonach die klinische Diagnose der lösungsmittelbedingten Enzephalopathie auch mehrere Jahre nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit erstmals gestellt werden könne.

Die Beklagte ist dem unter Vorlage mehrerer beratungsärztlicher Stellungnahmen von Dr. P. entgegengetreten und hat ausgeführt, dass eine toxische Exposition während der Tätigkeit für die Fa. D. nicht zu belegen sei. Diese habe unter maximalen Sicherheitsvorkehrungen stattgefunden, weil die Risiken inzwischen bekannt gewesen seien. Zusätzlich seien die Arbeiter intensiv arbeitsmedizinisch überwacht worden. Die Blutwerte des Klägers belegten einen Abbau der Schadstoffe im Blut, wie er ohne weitere Exposition zu erwarten wäre. Selbst wenn der Vortrag des Klägers zu angeblichen Auffälligkeiten bei Untersuchungen durch Prof. Dr. M1 in den 1980er und 1990er Jahren richtig wäre, könnte hierin kein Beleg für eine neuropsychiatrische Erkrankung des Klägers in diesem Zeitraum erblickt werden. Wenn sich Hinweise auf eine Erkrankung gezeigt hätten, hätte Prof. Dr. M1 BK-Anzeigen gestellt, wie er es in einer Vielzahl von Fällen auch getan habe. Im Übrigen seien die unauffälligen neurologischen Befunde von Dr. W. und Dr. E. aus den 1990er Jahren aktenkundig. Das Merkblatt zur BK 1317 beziehe sich ausschließlich auf eine Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel, nicht jedoch durch TCDD, und sage zwar aus, dass durchaus toxische Enzephalopathien auch nach Tätigkeitsaufgabe auftreten und/oder sich verschlimmern könnten, dass Voraussetzung hierfür jedoch eine Zunahme von Beschwerden sei, die bereits zu Zeiten der Tätigkeit, also in einem zeitlichen Zusammenhang mit der stofflichen Exposition am Arbeitsplatz aufgetreten seien. Die vom Kläger zitierte Literatur sei seit Langem bekannt und für die hier zu beurteilende Problematik ohne Relevanz. Die umweltmedizinische Untersuchung habe schon wegen der kleinen Stichprobe und der eher geringen Belastung der Gruppe nur eine eingeschränkte Aussagekraft. Mit dem u.a. vom vorgerichtlich gehörten Gutachter Prof. Dr. Z. mitverfassten Artikel habe sich zu Recht ein von der Beklagten übersandter Leserbrief kritisch auseinandergesetzt. Der wiederholte Hinweis auf eine Neigung des Klägers zur Dissimulation sei allenfalls geeignet, eine Möglichkeit, eine Vermutung zu begründen. Dies reiche jedoch nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung nicht aus. Hiernach sei das Auftreten der Erkrankung im Vollbeweis zu sichern, der ursächliche Zusammenhang mit der beruflichen Belastung müsse wahrscheinlich sein.

Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens vom Facharzt für Arbeitsmedizin, Internisten/Lungen- und Bronchialheilkunde, Allergologie, Umweltmedizin und Direktor des Instituts und der Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität München Professor Dr. N., der nach Aktenlage unter dem 23. Juli 2015 ausgeführt hat, dass beim Kläger seit 2006 Folgen einer offenbar fortschreitenden hirnorganischen Erkrankung im Sinne einer Demenz vorlägen, deren Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit 2007 zu erheblichen Einschränkungen führten. Es handle sich hierbei um eine schwer einzustufende hirnorganische Störung, für die sich aus der arbeitsmedizinischen Literatur keine ausreichende Erklärung herleiten lasse, weder vom Verlauf des Leidens her noch von dessen Ausprägung. Die beim Kläger vorliegende schwere hirnorganische Erkrankung sei im Sinne einer Demenz festzustellen. Diese Gesundheitsstörung sei nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die Exposition gegenüber Schadstoffen bzw. anderen gefährdenden Tätigkeiten am Arbeitsplatz verursacht oder verschlimmert worden. Die Gesundheitsstörungen beim Kläger könnten grundsätzlich infolge der Gefährdungen durch Stoffe, wie sie unter die BK 1302, BK 1310 oder BK 1317 zu subsumieren wären, ausgelöst werden. Im Falle des Klägers sprächen aber die im Vergleich mit anderen Mitarbeitern der Fa. B. eher niedrige berufliche Schadstoffbelastung und die erst 20 Jahre nach Expositionsende (bei mehrfach unauffälligen Zwischenuntersuchungen) erstmals diagnostizierte und weiter ungewöhnlich progredient verlaufende Erkrankung mit ihren unspezifischen Störungen gegen einen beruflichen Zusammenhang. Ein spätes, erst Jahre bzw. Jahrzehnte nach Ende der Exposition neues Auftreten chronisch fortschreitender, ausgeprägter demenzieller Erkrankungen sei bisher weder von den von der Klägerseite genannten Autoren noch sonst in der neueren arbeitsmedizinischen Literatur überzeugend beschrieben worden, auch und insbesondere nicht nach beruflichen Belastungen gegenüber Dioxinen und dem Halogenkohlenwasserstoff HCH. Aus der Literatur ergäben sich zudem nach wie vor keine überzeugenden Hinweise für lösungsmittel- oder pestizidbedingte schwergradige hirnorganische Veränderungen im Sinne einer Demenz, wie auch eine jüngste Veröffentlichung 2015 zeige. Den gutachterlichen Ausführungen von Dr. P. werde zugestimmt. Abgewichen werde von den Beurteilungen der Vorgutachter Prof. Dr. Z. und PD Dr. R ... Anders als von PD Dr. R. angenommen, reiche der einmalige Nachweis einer Konzentrationsstörung (d2-Test) bei ansonsten über mehrere Jahre unauffälligen ärztlichen Untersuchungsergebnissen nicht aus, um von einer bereits 1985 bestehenden (sich subklinisch unbemerkt über 20 Jahre hinziehenden) und sich ab 2006 progressiv entwickelnden hirnorganischen Erkrankung ausgehen zu können. Selbst wenn neurokognitive Verfahren in den 20 Jahren bis 2006 ein relevantes Ergebnis gezeigt hätten, wäre dieses bei in dieser Zeit fehlendem klinischen Korrelat unter Berücksichtigung der vorliegenden Literatur nicht ausreichend gewesen, um ein seit 2006 progredient fortschreitendes organisches Leiden erklären zu können. Im Übrigen reiche es unfallversicherungsrechtlich nicht aus, wie Prof. Dr. Z. in seiner Stellungnahme argumentiere, bei Fehlen des Nachweises einer anderen (nicht beruflichen) Ursache, von dem wahrscheinlichen Vorliegen einer BK ausgehen zu können.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) fertigte der emeritierte Tropen- und Umweltmediziner Prof. Dr. F. nach Untersuchung des Klägers unter dem 19. Dezember 2016 ein medizinisches Gutachten unter Berücksichtigung des neuropsychologischen Zusatzgutachtens der Dipl.-Psych. H1 vom 4. Dezember 2016 und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass ein Zusammenhang der Erkrankungen beim Kläger mit seiner beruflichen Tätigkeit gegeben sei, sodass die BKen 1302, 1310 und 1317 mit einer MdE um 100 v.H. vorlägen. Er hat eine ausgeprägte demenzielle Störung festgestellt, die sich gegenüber 2008 extrem verschlechtert habe und durch eine toxische Enzephalopathie erklärbar sei. Alternative Erklärungsmöglichkeiten ergäben sich aus der umfangreichen Akte ebenso wenig wie aus den Schilderungen des Klägers oder dessen Angehöriger. Der Erkrankungsbeginn sei im Jahre 1985 anzusetzen, wobei die Kritik von Prof. Dr. N. an der Interpretation des d2-Tests gerechtfertigt sei. Dem Kläger sei, bestätigt durch die Ehefrau, besonders erinnerlich seine eigene zunehmende Beobachtung, dass er schon im Alter von 39 Jahren eine Diskrepanz zwischen erwiesenen intellektuellen Fähigkeiten einerseits und der Verfügbarkeit über die bis dahin vorhandenen Fähigkeiten andererseits empfunden habe, was zu einem zunehmenden Kontrollzwang geführt habe, weil sich Zweifel an der Ausführungsdurchführung und Routinearbeiten als für ihn selbst beunruhigend ergeben hätten. In diesem Kontext habe auch ein Zeuge benannt werden können, der telefonisch glaubhaft mitgeteilt habe, dass die Arbeiten des Klägers für die Fa. D. bis 1988 nur schleppend und halbherzig mit zeitaufwändigen Verzögerungen und Nachprüfungen bei längst erfolgten Arbeitsgängen erfolgt seien. Das Verhalten des Klägers sei unkollegial, aufbrausend und verletzend gewesen.

Die Beklagte hat hierzu durch ihren Beratungsarzt Dr. P. ergänzend dahingehend Stellung genommen, dass das neuropsychologische Zusatzgutachten überzeugend belege, dass die neuropsychologischen Defizite im Zeitraum von 2008 bis 2016 gravierend zugenommen hätten. Insofern bestätige das Gutachten die Einschätzung, dass es sich hier um eine seit 2006 progredient verlaufende Demenz handle, deren Ursache unklar sei, wobei nach den vorliegenden Unterlagen neuroradiologische Untersuchungen (MRT) offensichtlich zuletzt 2007 durchgeführt worden seien. Die von Prof. Dr. F. als Beleg für den früheren Ausbruch der Enzephalopathie angeführten Zeugenaussagen ergäben keine Hinweise auf kognitive Defizite, wie sie seit 2006 im Vordergrund stünden. Man könne aus diesen Aussagen allenfalls Hinweise auf auffällige Persönlichkeitsmerkmale ableiten, die jedoch nicht zwingend als Symptome einer Enzephalopathie einzuordnen wären.

Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 5. Mai 2017 hat das SG die Klage mit Urteil vom selben Tag abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf die Feststellung seiner Gesundheitsstörungen als BK 1302, BK 1310 oder BK 1317. Er sei zwar während seiner versicherten Tätigkeit bei der Fa. B. gefährdenden Schadstoffen ausgesetzt gewesen, die grundsätzlich geeignet seien, die BKen 1302, 1310 und 1317 zu verursachen. Diese beruflichen Einwirkungen hätten die beim Kläger unstreitig vorliegenden Erkrankungen, insbesondere die Demenz als eine schwere Form einer Enzephalopathie, nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand aber nicht verursacht. Den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand hätten insbesondere Prof. Dr. N. und Dr. P. schlüssig und plausibel dargelegt, wonach es keine hinreichend wahrscheinlichen medizinischen Erfahrungssätze bzw. positiven Erkenntnisse dafür gebe, dass bei einer (eher geringeren bis maximal mittelgradigen) Expositionsbelastung, wie sie beim Kläger durch seine versicherte Tätigkeit vorgelegen habe, wahrscheinlich sei, dass eine plötzlich sehr progredient verlaufende Enzephalopathie (Demenz) bei einer zeitlichen Verzögerung von 20 Jahren auf diese berufliche Belastung zurückzuführen sei. Es fehle vorliegend an medizinischen "Brückensymptomen" und einer extrem hohen Belastung im Vollbeweis. Die bloße Möglichkeit einer Verursachung, wie dies beim Kläger der Fall sei, reiche nach den anzuwendenden unfallversicherungsrechtlichen Maßstäben nicht aus. Die Kammer folge ausdrücklich nicht den Ausführungen und Einschätzungen der Gutachter Prof. Dr. F., PD Dr. R. und Prof. Dr. Z ... Diese medizinischen Sachverständigen gingen davon aus, dass beim Kläger bereits 1985 eine toxische Enzephalopathie im Vollbeweis vorgelegen habe, weil der Kläger ein unterdurchschnittliches Ergebnis im so genannten d2-Test gehabt habe. Wie bzw. warum dieses Testergebnis zu Stande gekommen sei, sei nicht mehr feststellbar. Die Auswertungskriterien eines d2-Testes bezüglich dieses "unterdurchschnittlichen" Ergebnisses seien auch 1985 bekannt gewesen. Tatsache sei, dass dieses eher "schlechte" Ergebnis, auch 1985, zu keiner weiteren "Diagnostik" oder weiteren sonstigen medizinischen Abklärungen beim Kläger geführt habe. Aus den vorliegenden medizinischen Unterlagen ergebe sich vielmehr, dass der Kläger selbst bzw. seine Ärzte davon ausgegangen seien, der Kläger sei bei den festgestellten "Normalbefunden" gesund und so fühle er sich auch. Weiter spreche gegen das frühere Vorliegen einer entsprechenden Erkrankung, dass der Kläger nach dem Ende der schädigenden Exposition im Jahre 1984 in der "Abwicklung" des kontaminierten B.-Geländes für die Fa. D. gearbeitet habe. Hierbei habe er sogar noch einen beruflichen Aufstieg vollzogen und sei nach Beendigung der Tätigkeiten für diese Firma 1997 mit einem exzellenten Arbeitszeugnis entlassen worden. Danach habe er sich noch als Handwerksmeister selbstständig gemacht. Bei den sehr gründlich durchgeführten betriebsärztlichen Untersuchungen, die einmal, zum Teil zweimal jährlich durchgeführt worden seien, habe es keinerlei medizinische Auffälligkeiten über die Leistungsfähigkeit des Klägers gegeben. Hierbei sei ausdrücklich zu beachten, dass sämtliche Untersucher, wie auch die Mitarbeiter der Beratungsstelle der ehemaligen B.-Mitarbeiter, sehr sensibel die Krankheitsbilder durch die Kontamination mit Dioxinen und Furanen bei den Tätigkeiten in der Fa. B. gekannt hätten. Wäre irgendeine Auffälligkeit beim Kläger, beispielsweise hinsichtlich einer möglichen toxischen Enzephalopathie, beobachtet worden, wären sofortige medizinische Ermittlungen/Behandlungen eingeleitet worden. Entgegen der Auffassung des Klägers führe die Regelung des § 9 Abs. 3 SGB VII nicht dazu, dass bei jeder geeigneten ausreichenden Exposition zwingend eine BK festzustellen wäre, wenn irgendwann eine entsprechende Erkrankung des BK-Tatbestandes festgestellt werde. Nach § 9 Absatz 3 SGB VII werde bei einem Versicherten, der in Folge der besonderen Bedingungen seiner versicherten Tätigkeit in erhöhtem Maße der Gefahr der Erkrankung an einer in der BKV genannten BK ausgesetzt gewesen sei, dann vermutet, dass die Erkrankung kausal auf die versicherte Tätigkeit zurückzuführen sei, wenn Anhaltspunkte für eine Verursachung außerhalb der versicherten Tätigkeit nicht festgestellt werden könnten. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift sei eher eng begrenzt und habe relativ wenig praktische bzw. rechtliche Relevanz im BK-Recht. Die meisten Erkrankungen entstünden multifaktoriell, häufig ohne dass es nur eine einzelne Ursache gebe. Durch dieses multifaktorielle Entstehen von Krankheiten müsse jeweils im Einzelfall nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand festgestellt werden, wie das konkrete Schädigungspotenzial der Einwirkungen hinsichtlich der Art, Intensität und Dauer in Bezug auf die konkrete Erkrankung wissenschaftlich zu bewerten sei. Gerade bei Erkrankungen wie vorliegend der Demenzerkrankung des Klägers sei eine tatsächliche bzw. konkrete Verursachung durch bestimmte Stoffe derzeit wissenschaftlich nicht abschließend geklärt. Insoweit gebe es viele verschiedene Theorien/Möglichkeiten bzw. auch Studien, die teilweise ein erhöhtes Erkrankungsrisiko belegen könnten. Ein entsprechender Nachweis über eine konkrete Verursachung durch Schadstoffe sei derzeit nicht wissenschaftlich belegt. Eine Ausnahme bestehe insoweit durch die vorliegenden BK-Tatbestände. Ein Zusammenhang sei aber gerade für Lösungsmittel, Dioxine und Furane nur konkret belegt, wenn eine entsprechende – toxische – Enzephalopathie zeitnah, d.h. während oder kurz nach einer geeigneten Exposition auftrete.

Gegen dieses, seinen damaligen Prozessbevollmächtigten am 19. Mai 2017 zugestellte Urteil richtet sich die am 12. Juni 2017 eingelegte Berufung des Klägers, mit der er u.a. unter Bezugnahme auf eine von ihm vorgelegte ergänzende Stellungnahme des Prof. Dr. F. vom 22. Februar 2018 weiter davon ausgeht, dass er an einer durch die beruflich bedingte, anders als vom SG angenommen nicht nur geringe Schadstoffexposition verursachten toxischen Enzephalopathie leide und es sich hierbei um eine BK 1302, BK 1310 und/oder BK 1317 handele. Hinweise auf eine andere Ursache für das Krankheitsbild hätten sich nicht finden lassen. Die lange Latenzzeit spreche nicht gegen eine BK, sondern sei charakteristisch für eine solche, wie auch das Merkblatt zur BK 1317 zeige. Im Übrigen habe das SG frühere Auffälligkeiten wie insbesondere den d2-Test aus dem Jahr 1985 ungewürdigt gelassen und sei seiner Amtsermittlungspflicht nicht nachgekommen. Es hätte nicht einfach davon ausgehen dürfen, dass die Krankheit erst im Jahre 2006 aufgetreten sei. Der Kläger hält weiter an der Auffassung fest, dass ihm die gesetzliche Vermutungsregel des § 9 Abs. 3 SGB VII zur Seite trete. Die Beklagte habe bislang nicht darzulegen vermocht, warum Spätfolgen wie in seinem Fall vollständig ausgeschlossen sein sollten.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 5. Mai 2017 sowie den Bescheid der Beklagten vom 9. Juni 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Februar 2010 aufzuheben und festzustellen, dass er an einer Berufskrankheit nach Nr. 1302, Nr. 1310 und/oder Nr. 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung leidet.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung des SG für richtig und nimmt auf deren Gründe Bezug. Es sei unstrittig, dass beim Kläger eine schwere hirnorganische Erkrankung vorliege. Streitig sei allein, ob sich zwischen der bestehenden Erkrankung und der früheren beruflichen Tätigkeit für die Fa. B. ein ursächlicher Zusammenhang hinreichend wahrscheinlich machen lasse. Sie halte das Gutachten von Prof. Dr. N. nach wie vor für überzeugend. Dieser verfüge als ständiges Mitglied im Ärztlichen Sachverständigenbeirat beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales über besondere Erfahrungen bei der Beurteilung von BKen und lege bei seiner Ergebnis- und Urteilsfindung den gesicherten, d.h. herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu Grunde. So weise Prof. Dr. N. zutreffend darauf hin, dass der d2-Test aus dem Jahr 1985 isoliert betrachtet keinen Beleg für den Beginn oder das Vorhandensein einer hirnorganischen Erkrankung darstelle. Zudem müsse auch beachtet werden, dass zwischen den Jahren 1985 und 1993 zahlreiche aktenkundige ärztliche Untersuchungsbefunde keinerlei auffällige neurologische und/oder psychische Befunde ergeben hätten. Auch weise Prof. Dr. N. zutreffend darauf hin, dass nach allen vorhandenen Studien ein spätes, erst Jahre bzw. Jahrzehnte nach Ende der Exposition neues Auftreten chronisch fortschreitender, ausgeprägter demenzieller Erkrankungen auch und insbesondere nach beruflichen Belastungen gegenüber Dioxinen oder HCH nicht beschrieben sei. Auch sehe die Beklagte keinen Anwendungsfall von § 9 Abs. 3 SGB VII. Die Anwendung der Vorschrift setze u.a. voraus, dass keine Anhaltspunkte für eine Erkrankung außerhalb der versicherten Tätigkeit vorlägen. Allerdings sei der für eine beruflich bedingte Erkrankung völlig untypische Erkrankungsverlauf schon ein solcher Anhaltspunkt.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Sitzungsniederschrift vom 28. Februar 2017 und den weiteren Inhalt der Prozessakte sowie der ausweislich der Sitzungsniederschrift beigezogenen Akten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte (§ 151 SGG) Berufung ist unbegründet. Das SG hat die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 i.V.m. § 55 Abs. 1 Nr. 1 und § 56 SGG, st. Rspr. des BSG, vgl. nur Urteil vom 4. Dezember 2014 – B 2 U 10/13 R, BSGE 118, 1) mit im Wesentlichen zutreffender Begründung zu Recht abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig und verletzen den Kläger daher nicht in dessen Rechten. Der Kläger leidet an keiner BK 1302, 1310 und/oder 1317.

Rechtsgrundlage für die Anerkennung einer BK ist § 9 Abs. 1 SGB VII i.V.m. § 1 BKV und dem entsprechenden BK-Tatbestand der Anlage 1 zur BKV. Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind BKen nur diejenigen Krankheiten, die durch die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats als solche bezeichnet sind (sog. Listen-BK) und die der Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), der sich der erkennende Senat in ebenso ständiger Rechtsprechung anschließt, ist für die Feststellung einer Listen-BK (Versicherungsfall) erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) und diese Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" im Sinne des Vollbeweises – also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit. Der Beweisgrad der hinreichenden Wahrscheinlichkeit ist erfüllt, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden. Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf. den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-BK, wohl aber für eine Leistung (Leistungsfall) (s. nur BSG, Urteil vom 27. Juni 2017 – B 2 U 17/15 R, UV-Recht Aktuell 2017, 610, m.w.N.).

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe geht der Senat davon aus, dass der Kläger während und aufgrund seiner Tätigkeit für die Fa. B. von 1959 bis 1984 Schadstoffen im Sinne der BK-Tatbestände nach den Nrn. 1302, 1310 und 1317 ausgesetzt war, insbesondere TCDD und HCH, aber auch organischen Lösungsmitteln. Dies folgt aus den Angaben der Fa. B. selbst sowie den festgestellten Schadstoffkonzentrationen im Blut des Klägers. Eine genaue Quantifizierung der Exposition ist danach zwar nicht möglich, aber aufgrund u.a. der bekannten Halbwertzeiten sowie der schlüssigen Rückrechnung insbesondere durch den Beratungsarzt der Beklagten, Dr. P., ist eine gefährdende Exposition festzuhalten, die allerdings im Vergleich zu anderen B.-Mitarbeitern eher im niedrigen bis mittleren Bereich anzusiedeln ist. Eine besonders hohe Exposition ist jedenfalls nicht im erforderlichen Vollbeweis feststellbar. Ebenso wenig ist im erforderlichen Vollbeweis feststellbar, dass der Kläger während und aufgrund seiner Tätigkeit für die Fa. D. im Zeitraum von 1985 bis 1997 einer gefährdenden Schadstoffexposition ausgesetzt war. Dagegen spricht insbesondere, dass nach den unwidersprochenen Angaben der Fa. B. ab 1985 Arbeiten nur mit persönlich vorgeschriebener Schutzausrüstung nach Sicherheitsbelehrung über den Umgang mit gefährlichen Stoffen und im Rahmen eines mit dem Amt für Arbeitsschutz der Freien und Hansestadt H. abgestimmten sowie von einer unabhängigen Expertenkommission überprüften Arbeitsschutzkonzepts durchgeführt wurden und anhand der Ergebnisse der Blutuntersuchungen in den 1990er Jahren ein Rückgang der gemessenen Schadstoffkonzentration im Blut des Klägers nachgewiesen ist, der dem bei einer ausbleibenden Schadstoffbelastung zu erwartenden Rückgang entspricht. Hieran vermögen auch die im gerichtlichen Verfahren mitgeteilten Messungen der Schadstoffbelastung in Räumlichkeiten wie der Werkswohnung unabhängig davon etwas zu ändern, dass nicht feststeht, ob und gegebenenfalls inwieweit die belasteten Räumlichkeiten vom Kläger genutzt wurden. Nach 1997 ist der Kläger keiner unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehenden Tätigkeit mit Schadstoffbelastung mehr nachgegangen.

Es fehlt jedoch an der haftungsbegründenden Kausalität. Es lässt sich nicht feststellen, dass die bis 1984 auf den Kläger einwirkende Schadstoffbelastung eine Krankheit im Sinne der streitgegenständlichen BK-Tatbestände verursacht hat. Zwar leidet der Kläger unter einer Erkrankung, deren Symptome einer Enzephalopathie zugeordnet werden könnten, das Vorliegen einer durch die beruflich bedingte Schadstoffexposition verursachten toxischen Enzephalopathie ist zwar möglich, aber nicht im Sinne der Beweismaßstäbe des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung wahrscheinlich.

Wie insbesondere Prof. Dr. N. und Dr. P. in Übereinstimmung mit der staatlichen Gewerbeärztin überzeugend unter Auseinandersetzung mit näher bezeichneten Studien und Literaturangaben ausgeführt haben, besteht nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu neurotoxischen Krankheitsbildern bei einer Enzephalopathie grundsätzlich ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen der krankmachenden Exposition und dem Krankheitsbeginn, d.h. die Krankheit entwickelt sich während oder kurz nach der beruflichen Exposition. Ein längeres Intervall von Jahren zwischen letzter Exposition und Krankheitsbeginn ist toxikologisch ebenso wenig plausibel wie eine starke Progredienz längere Zeit nach Expositionsende (ebenso: Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, Abschnitt 5.10.2, S. 265; Mehrtens/Brandenburg, BKV, Stand: 11/17, M 1317 Anm. III (Merkblatt) und 4.2 (Aus der wissenschaftlichen Begründung)). Soweit die Klägerin den Hinweis aus dem Merkblatt aufgreift, dass mehrere Studien auch Jahre nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit eine Zunahme der subjektiven Beschwerden sowie eine Verschlechterung der Ergebnisse psychologischer Testverfahren und der neurologischen Untersuchungsergebnisse zeigten, sodass die klinische Diagnose der lösungsmittelbedingten Enzephalopathie auch mehrere Jahre nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit erstmals gestellt werden könne, übersieht sie zum einen, dass auch nach dem – im Übrigen in der medizinischen Wissenschaft unterschiedlich bewerteten (vgl. hierzu Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., m.N.) – Merkblatt selbst hiermit lediglich Möglichkeiten, jedoch nicht wahrscheinliche Verläufe bezeichnet werden, dass durch diesen Hinweis nicht infrage gestellt wird, das toxische Enzephalopathien regelhaft noch während des Expositionszeitraumes auftreten, und zum anderen, dass auch die schriftsätzlich von den Beteiligten erörterten Studien/Literaturangaben wie zum Beispiel der u.a. von Prof. Dr. Z. verfasste Artikel zu zentralnervösen Spätfolgen nach langjähriger Schadstoffexposition am Beispiel von TCDD und HCH, die auch viele Jahre nach Expositionsende eine Verschlimmerung des Krankheitsbildes beschreiben, damit nicht in Abrede stellen, dass das erstmalige Auftreten der Erkrankung während der Exposition oder zeitnah danach zu erwarten ist, und nicht ohne weiteres eine stärkere Verschlimmerung der Symptomatik lange nach Expositionsende mit Wahrscheinlichkeit der Exposition zuordnen, sondern lediglich anregen, eine solche Möglichkeit in die differenzialdiagnostischen Erwägungen einzubeziehen. Letztlich bestätigen auch die während des Verfahrens die Anerkennung einer BK empfehlenden Sachverständigen Prof. Dr. Z., PD Dr. R. und Prof. Dr. F., dass eine lange Latenzzeit zwischen Schadstoffexposition und erstmaligem Auftreten der Erkrankung gegen das Vorliegen einer toxischen Enzephalopathie spricht, denn diese haben ausdrücklich keine schlüssige Erklärung für eine Latenzzeit von etwa 20 Jahren und führen als wesentlichen Beleg für ihre gutachterlichen Schlussfolgerungen an, dass von einem Erkrankungsbeginn spätestens im Jahr 1985 ausgegangen werden könne. Dies ist jedoch nicht der Fall.

Es gibt für den Zeitraum bis zum Antrag des Klägers auf Gewährung einer Verletztenrente Ende 2006 keine medizinischen Befunde, die geeignet wären, den Beginn einer Erkrankung des Klägers an einer Enzephalopathie mit der erforderlichen an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit zu belegen. Gegenüber Ärzten hat der Kläger bis dahin keine einen beruflichen Zusammenhang seiner Beschwerden nahelegenden Angaben gemacht und auch keine entsprechenden Beschwerden geäußert. Dies gilt sowohl in Bezug auf den ihn seit dem Jahr 2000 behandelnden Hausarzt Dr. S. als auch in Bezug auf die ihn seit 1971 bis 1996 mindestens einmal jährlich untersuchenden Werksärzte der Fa. B. sowie die Nervenärzte Dr. W. und Dr. E., die ihn in den 1980er und 1990er Jahren mehrfach untersuchten. Das SG hat mit Prof. Dr. N., Dr. P. und auch Dr. F. zu Recht ausgeführt, dass der 1985 erfolgte weit unterdurchschnittliche d2-Test als damals isoliert stehendes Ergebnis ohne diesem entsprechende klinische Befunde ohne jede Aussagekraft ist. Ein schlechtes Ergebnis in einem Konzentrationstest kann eine Fülle von Ursachen haben wie eine schlechte Tagesform, mangelnde Motivation oder Abgelenktsein. Bei späteren Untersuchungen durch Dr. W. und Dr. E. wurden keine auffälligen neurologischen Befunde erhoben. Die im November 1986 von Dr. W. erwähnte etwas erhöhte vasomotorische Übererregbarkeit stellt kein Indiz für eine neurologische Erkrankung im Sinne einer Enzephalopathie dar. Die von Prof. Dr. Z., PD Dr. R. und Prof. Dr. F. als Erklärung für das langjährig unterbliebene Aufsuchen von Ärzten wegen der von ihnen zugrunde gelegten rückblickend bestehenden, durch eine toxische Enzephalopathie ausgelösten Beschwerden sowie die späte BK-Anzeige genannte Tendenz des Klägers zur Dissimulation vermag ebenfalls nicht zu Überzeugung des Senats zu führen, dass das heute bestehende und für eine toxische Enzephalopathie ja auch untypisch schnell fortschreitende Krankheitsbild des Klägers bereits zeitnah zum Expositionsende 1985 bestand und nicht erst ab etwa 2004, als nach den Erstangaben der Ehefrau des Klägers im Dezember 2006 eine massive Beeinträchtigung des Klägers auftrat. Ob der Kläger bereits zu einem früheren Zeitpunkt bestehende Symptome wahrnahm und verdrängte, bleibt Spekulation. Seine eigenen Angaben im Zusammenhang mit der BK-Anzeige Ende 2006, wonach ihm die rückblickend seit Anfang der 1980er Jahre bestehenden Gesundheitsstörung erst in letzter Zeit bewusst geworden seien, nachdem Dritte ihn hierauf aufmerksam gemacht hätten, sprechen dagegen. Die erstmals im gerichtlichen Verfahren überwiegend gegenüber dem Sachverständigen Dr. F. getätigten Angaben des Klägers selbst, seiner engen Familienangehörigen sowie des ehemaligen Arbeitskollegen als "Zeugen", wonach der Kläger bereits seit Mitte der 1980er Jahre bewusst einen Verlust der intellektuellen Fähigkeiten wahrgenommen habe, einen zunehmenden Kontrollzwang gespürt, schlechte Arbeitsleistungen abgeliefert und aggressives Verhalten an den Tag gelegt habe, sind genauso wenig geeignet, den Vollbeweis einer Erkrankung zu diesem Zeitpunkt zu führen. Zum einen können die Angaben – ihre Richtigkeit unterstellt – genauso gut lediglich Persönlichkeitszüge des Klägers beschreiben, zum anderen unterliegt deren Wahrheitsgehalt zu erheblichen Zweifeln, dass sie vom Senat nicht zu Grunde gelegt werden können. Entsprechendes gilt für die Angabe des Prof. Dr. M1, dass er erfahren habe, dass es wegen auffälliger Vergesslichkeit bei der Fa. D. zu gewissen Schwierigkeiten gekommen sein solle. Dr. F. gibt die erstmals seit Beginn des Verwaltungsverfahrens getätigten Angaben wieder, dass der Kläger selbst bereits im Alter von 39 Jahren, mithin 1984, ein Nachlassen seiner Fähigkeiten festgestellt habe, obwohl er zu Beginn seines Gutachtens ein erhebliches Fortschreiten der Demenzerkrankung des Klägers mit stark eingeschränktem Erinnerungsvermögen konstatiert. Der den Kläger seit dem Jahr 2000 behandelnde Hausarzt Dr. S. hat auch mit seinem zweiten Befundbericht vom 2. Februar 2009 lediglich angeben können, dass die Tochter des Klägers ihm erstmals 2006 von ihren Sorgen berichtet habe, dass der Kläger sich in seinem Wesen ändere, und dass ihm selbst rückblickend – erst – im Jahr 2005 eine Aggressivität des Klägers aufgefallen sei. Auch Prof. Dr. M1 berichtet lediglich von selbst wahrgenommenem herrischen Verhalten in einem Telefonat im Jahr 2001, also auch lange nach dem feststellbaren Expositionsende, wobei gerade bei jenem für die Beratungsstelle von ehemaligen B.-Mitarbeitern tätigen Arzt zu erwarten gewesen wäre, dass er bei neurologischen Auffälligkeiten frühzeitig eine BK-Anzeige gestellt hätte, wie er es gerichtsbekannterweise in einer Vielzahl von Fällen auch getan hat. Die Fa. B. schließlich hat dem Kläger zum Ende seiner Tätigkeit 1997 ein sehr gutes Arbeitszeugnis ausgestellt und auch auf Nachfrage des Gerichts mitgeteilt, dass dessen Arbeitsleistungen tadellos gewesen seien. Dafür spricht auch der berufliche Aufstieg des Klägers vom Chemiefacharbeiter zum Chemiemeister ab September 1980 und Schlossermeister ab Oktober 1983 (noch bei B.) sowie als Werkstattmeister von 1985 bis 1997 im Rahmen der Tätigkeit für die Fa. D ...

Die nach alledem fehlende haftungsbegründende Kausalität kann auch nicht nach § 9 Abs. 3 SGB VII vermutet werden, wie der Kläger meint. Unabhängig von der dogmatischen Einordnung der Vorschrift (gesetzliche Vorgabe für die Beweiswürdigung, widerlegbare gesetzliche Vermutung, gesetzliche geregelter Fall eines Anscheinsbeweises, zum Ganzen: Ricke in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 96. EL September 2017, § 9 SGB VII Rn. 28f.; Wietfeld in Beck´scher Online-Kommentar, 47. Edition, Stand: 1. Dezember 2017, § 9 SGB VII Rn. 72 ff.; Brandenburg in jurisPK-SGB VII, 2. Aufl. 2014, Stand: 8. Dezember 2017, § 9 Rn. 100 ff.; Römer in Hauck/Noftz, SGB VII, Stand 07/15, § 9 Rn. 31 ff.; Mehrtens/Brandenburg, a.a.O., § 9 Rn. 27.4; jeweils m.w.N.) liegen mit dem aufgrund der langen Latenzzeit und der schnellen Progredienz der Erkrankung lange nach Expositionsende für eine toxische Enzephalopathie untypischen Krankheitsverlauf Anhaltspunkte für eine Verursachung außerhalb der versicherten Tätigkeit vor, sodass für die Vermutungsregel kein Raum ist (zu diesem Aspekt: Wietfeld, a.a.O., Rn. 74; Brandenburg, a.a.O., Rn. 6; Römer, a.a.O., Rn. 32c; Mehrtens/Brandenburg, a.a.O.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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