L 2 U 43/16

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 36 U 186/15
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 2 U 43/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Feststellung einer Berufskrankheit nach Nr. 2109 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) – Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.

Der am xxxxx 1951 geborene Kläger beantragte am 14. November 2013 die Anerkennung einer Berufskrankheit wegen seiner Erkrankung der Halswirbelsäule (HWS). In einem Fragebogen zur Wirbelsäulenbelastung gab der Kläger an, dass er seit Januar 2010 Beschwerden in der HWS habe. Er sei in der Vergangenheit als Mechaniker, Schlosserhelfer, Kraftfahrer und in der Zeit vom 18. Februar 1980 bis zum 31. Dezember 2011 als Entsorger bei der S. tätig gewesen. Es seien Gewichte von 5 kg bis 50 kg über Strecken von 10 m bis 50 m getragen worden. Die Hebe- und Tragevorgänge seien auch in extremer Rumpfbeugehaltung verrichtet worden.

Die Kernspintomographie der HWS des Klägers ergab laut Befundbericht des M. GmbH vom 29. April 2011 im Bereich der HWS eine absolute Spinalkanalstenose im Segment C5/6 auf dem Boden eines großen flachen Bandscheibenprolaps, eine große myelonpellottierende Bandscheibenprotrusion im Segment C6/7, eine mäßig ausgeprägte breitbasige Bandscheibenprotrusion im Segment C4/5 und eine ausgeprägte Myelopathie in Höhe dieser drei Segmente mit Nachweis von Blut-Hirn-Schrankenstörungen.

Die S. gab an, dass der Kläger vom 18. Februar 1980 bis zum 31. Oktober 2006 als Entsorger beim Sperrmüll, vom 1. November 2006 bis zum 31. August 2010 als Entsorger in der Müllabfuhr und ab dem 1. September 2010 als Entsorger in der Straßenreinigung tätig gewesen sei. Der Kläger habe mehr als 330mal am Tag Gewichte von mehr als 25 kg gehoben, und zwar in 252 Arbeitsschichten pro Jahr. Diese Lasten seien auch 30 m weit getragen worden. Hebe- und Tragevorgänge seien nicht in extremer Rumpfbeugehaltung verrichtet worden. Bei einer Tätigkeit als Entsorger bei der S. finde eine solche Belastung nicht statt.

Im Rahmen einer Stellungnahme zur Arbeitsplatzexposition im Hinblick auf die vom Kläger geltend gemachte Berufskrankheit kam die Abteilung Prävention und Arbeitsschutz der Beklagten am 15. Mai 2014 zu dem Ergebnis, dass für den Verdacht einer Berufskrankheit nach Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV eine langjährige, außergewöhnliche intensive mechanische Belastung der HWS erforderlich sei. Dabei sei von Lastgewichten von 50 kg und mehr auszugehen, die regelmäßig in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten auf der Schulter getragen werden müssten. Eine solche Belastung der HWS entspreche nicht der Tätigkeit eines Entsorgers bei der S ...

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 25. August 2014 die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV ab. Ein Anspruch auf Leistungen bestehe nicht. Eine Belastung durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, einhergehend mit einer statischen Belastung der zervikalen Bewegungssegmente und außergewöhnlicher Zwangshaltung der HWS, habe nicht vorgelegen. Ein Belastungsprofil, wie es bei Fleisch-, Kohlenträgern oder Müllern mit Zwangsschiefhaltungen der HWS über einen längeren Zeitraum anfalle, sei nicht nachvollziehbar.

Gegen den Bescheid legte der Kläger am 26. September 2014 Widerspruch ein. Die beruflichen Einschränkungen habe er ab dem Jahr 2010 bemerkt. Es habe mit Kribbeln in den Händen und Beinen angefangen. Später seien Lähmungserscheinungen dazu getreten. Während seiner Tätigkeit bei der S. hätten bis vor etlichen Jahren täglich große Eiseneimer mit einem Gewicht von ca. 120 kg aus den Kellern geholt und geleert werden müssen. Diese seien häufig mit Wasser oder Asche gefüllt gewesen. Grundsätzlich sei er während seiner Dienstzeit bei der Müllabfuhr immer in unterbesetzten Müllwagen gefahren. Es habe regelmäßig ein Arbeitskollege, beispielsweise wegen Urlaub oder Arbeitsunfähigkeitszeiten gefehlt. Während der Tätigkeit bei der Sperrmüllabfuhr seien 25 bis 30 Kunden pro Tag angefahren worden. Auch hier hätten schwere Gegenstände häufig durch große Treppenhäuser getragen werden müssen. Zudem erinnere er sich daran, dass ihm in den 90er-Jahren ein Schrankbrett in den Rücken geschlagen sei. Auch habe er während dieser Tätigkeit regelmäßig Gegenstände von 30 bis 35 kg getragen, wie ältere TV-Geräte und Kühlschränke. Kühlschränke seien von ihm ausschließlich alleine und im Nackenbereich getragen worden. Ergänzend trug der Kläger vor, dass er in den 80er-Jahren bei der S. gearbeitet habe. Damals seien in H. noch Eiseneimer für Asche benutzt worden. Die Asche sei mit Wasser abgelöscht worden und die Eimer bis zu 120 kg schwer gewesen. In den Kellern seien teilweise bis zu 20 Eiseneimer gewesen. Im Laufe der Jahre seien dann die 1,1 Behälter gekommen, die aber immer noch sehr schwer gewesen seien. Bei seiner Tätigkeit bei der Sperrmüllabfuhr seien die größeren Möbelstücke (z. B. Schränke) zumeist über dem Nackenbereich getragen worden.

Auch in der daraufhin von der Beklagten eingeholten ergänzenden Stellungnahme zur Arbeitsplatzexposition vom 4. März 2015 kam die Abteilung Prävention und Arbeitsschutz durch die Diplom-Ingenieurin W. zu dem Ergebnis, dass der Kläger gefährdenden Belastungen durch regelmäßiges Heben und Tragen schwerer Lasten mit Gewichten über 50 kg auf der Schulter während seiner Tätigkeit als Entsorger bei der S. nicht ausgesetzt gewesen sei. Die vom Kläger erwähnten beschriebenen Metalltonnen seien in der Regel nicht auf der Schulter getragen, sondern auf dem Boden getrudelt worden.

Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 11. Juni 2015 zurück. Mit der ergänzenden Stellungnahme vom 4. März 2015 habe der Fachbereich Prävention noch einmal die bisherigen Feststellungen bestätigt. Weder in den Bereichen Sperr- und Hausmüllabfuhr noch in der S. seien regelmäßig Lasten von 50 kg oder mehr auf der Schulter getragen worden. Der Widerspruchsbescheid, der mit Schreiben vom 11. Juni 2015 an den Bevollmächtigten übersandt wurde, wurde laut Vermerk der Beklagten am 12. Juni 2015 ausgefertigt. Der Bevollmächtigte des Klägers versah den Widerspruchsbescheid mit einem Eingangsstempel vom 23. Juni 2015.

Der Kläger hat am 22. Juli 2015 hiergegen Klage beim Sozialgericht Hamburg erhoben. Er hat ergänzend vorgetragen, dass er bis zu 250 Mülleimer täglich habe transportieren müssen. Diese hätten regelmäßig in Kellern gestanden und hätten dort herausgeholt und hoch getragen werden müssen. Später seien es bei der Umstellung auf Plastikmülleimer und kleinere Metallmülleimer bis zu 800 Mülleimer täglich gewesen. Der Kläger hat zudem einen Bericht über die arbeitswissenschaftliche und arbeitsmedizinische Untersuchung der Belastungs- und Beanspruchungssituation der bei der Müllabfuhr des L. beschäftigten Müllwerker von Februar 1990 vorgelegt. Arbeiten mit Tragen von Lasten auf der Schulter werden in dem Bericht nicht genannt.

Die Beklagte hat auf ein Gespräch mit Herrn E., der Fachkraft für Arbeitssicherheit der S., verwiesen. Der Kläger habe nicht regelmäßig und häufig Lastgewichte von 50 kg und mehr in der überwiegenden Anzahl der Arbeitsschichten auf der Schulter getragen. Dies könne auch dem Vortrag des Klägers nicht entnommen werden. Insbesondere die Eiseneimer von ca. 120 kg seien nicht auf der Schulter getragen, sondern über den Boden getrudelt worden.

Das Sozialgericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt. Im Befundbericht der Neurologie N. wird angegeben, dass nach dortiger Auffassung ein Zusammenhang zwischen der zervikalen Myelopathie und der vorgetragenen Tätigkeit bei der S. nicht anzunehmen sei. Die A. Klinik W. hat mit Befundbericht vom 8. Oktober 2015 mitgeteilt, dass der Kläger dort wegen einer progredienten Gangstörung seit 2011 in Behandlung sei. Keiner der erhobenen Befunde sei ursächlich auf die berufliche Tätigkeit des Klägers zurückzuführen. Der behandelnde Neurologe Dr. R. hat hinsichtlich der Frage einer beruflichen Verursachung auf die arbeitstechnischen Ermittlungen verwiesen, hat aber seine Bedenken hinsichtlich der Berufskrankheit Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV generell geäußert.

Das Sozialgericht hat die Klage ohne mündliche Verhandlung mit Urteil vom 22. September 2016 abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten seien rechtmäßig. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Feststellung einer Berufskrankheit nach der Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV. Die Voraussetzungen seien bei dem Kläger nicht erfüllt, da es bereits an den sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen fehle. Weder aus den Stellungnahmen zur Arbeitsplatzexposition, den Schilderungen des Klägers noch aus dem Bericht über die arbeitswissenschaftliche und arbeitsmedizinische Untersuchung der Belastungs- und Beanspruchungssituation der bei der Müllabfuhr des L. beschäftigten Müllwerker vom Februar 1990 ergäben sich ausreichende berufliche Faktoren, die eine bandscheibenbedingte Erkrankung der HWS verursachen oder verschlimmern könnten. Insbesondere habe ein fortgesetztes Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, einhergehend mit einer statischen Belastung der zervikalen Bewegungssegmente und außergewöhnlicher Zwangshaltung der HWS, also eine nach vorn und seitwärts erzwungene Kopfbeugehaltung und das gleichzeitige maximale Anspannen der Nackenmuskulatur, mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Häufigkeit in der überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten nicht stattgefunden. Die vom Kläger beschriebenen Gegenstände, auch im Rahmen der Sperrmüllabfuhr, hätten zum einen kaum 50 kg erreicht noch seien diese in ähnlicher Art und Weise in einer überwiegenden Zahl der Arbeitsschichten in der beschriebenen außergewöhnlichen Zwangshaltung getragen worden. Dasselbe sei für die vom Kläger angeführten schweren Eisenmülleimer anzunehmen. Es sei lebensnah, dass die Mülleimer bereits nicht aus den zumeist engen Kellern auf den Schultern herausgetragen worden seien. Nachvollziehbar sei vielmehr die Feststellung des Präventionsdienstes der Beklagten, dass die Mülleimer insbesondere "getrudelt" worden seien, um diese überhaupt von der Stelle zu bekommen. Ein Tragen auf den Schultern sei damit jedoch nicht in Verbindung zu bringen.

Gegen das dem Bevollmächtigten des Klägers am 10. Oktober 2016 zugestellte Urteil hat der neue Bevollmächtigte des Klägers am 28. Oktober 2016 Berufung eingelegt. Der Kläger habe keine Eiseneimer getragen. Als noch Eiseneimer im Einsatz gewesen seien, sei er nicht bei der Müllabfuhr, sondern beim Sperrmüll tätig gewesen. Als er 2006 zur Müllabfuhr gewechselt habe, seien schon keine Eiseneimer mehr benutzt worden. Das Tragen schwerer Lasten auf den Schultern sei im Rahmen der Tätigkeit bei der Sperrmüllabfuhr von 1980 bis zum 31. Oktober 2006 erfolgt. Dies sei verstärkt ab Beginn der 90er-Jahre erfolgt, als es im Bereich des Sperrmülls zur dahingehenden Umstellung gekommen sei, dass der Sperrmüll nicht mehr an den Straßenrand gestellt worden sei, sondern von den Entsorgern aus Kellern und insbesondere von Böden geholt und zu den Müllwagen gebracht worden sei. Der Kläger habe regelmäßig schwere alte gußeiserne Öfen von Hausböden allein auf der Schulter zum Fahrzeug getragen. Öfen hätten durchaus bis zu 120 kg gewogen. Des Weiteren habe der Kläger alleine regelmäßig alte und sehr schwere TV-Geräte, schwere Möbel und schwere Haushaltsmaschinen wie Kühlschränke und Waschmaschinen (ohne Gewichtssteine) allein auf der Schulter tragen müssen. Es sei wegen Unterbesetzung und beengter räumlicher Verhältnisse alleine getragen worden. Außerdem sei es üblich gewesen.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 22. September 2016 sowie den Bescheid vom 25. August 2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 11. Juni 2015 aufzuheben und festzustellen, dass bei dem Kläger eine Berufskrankheit nach der Nr. 2109 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung vorliegt.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hat noch einmal eine Stellungnahme der Abteilung Prävention und Arbeitsschutz eingereicht, dass zur Berechnung der Gesamtdosis konkrete Angaben zu Trageentfernung in Metern, Tragedauer in Stunden, Mindestlasten in Kilogramm, Anzahl der Tragevorgänge pro Schicht und Art der auf der Schulter getragenen Lasten benötigt würden. Der Kläger trägt daraufhin vor, dass es pro Arbeitsschicht um die 100 Tragevorgänge gegeben habe. Die reine Tragedauer habe nahezu 4 Stunden betragen, 30 bis 40 Prozent davon mit Gewichten von mehr als 25 kg. Gewichte von mehr als 25 kg seien regelmäßig auf der Schulter bei verdrehter Haltung des Halses getragen worden.

Die Beklagte hat sich für weitere Ermittlungen an die S. gewandt. Diese hat mitgeteilt, dass nach Rücksprache mit dem Kolonnentrainer der Sperrmüllabfuhr die Aussage des Klägers zur Fragestellung der Häufigkeit, die Dauer der Tragevorgänge, den Ablauf der Entsorgung sowie der Gewichte des Entsorgungsgutes realistisch seien. Leider sei es nicht mehr möglich, Einsatzpläne und Kolonnenbesetzungen einzusehen, da diese Unterlagen nach einer 10jährigen Aufbewahrungsfrist vernichtet würden. Es könnten drei Vorgesetzte genannt werden, die in dem Zeitraum bei der Sperrmüllabfuhr tätig gewesen seien bzw. noch tätig seien: G., F. und V ...

V., Gruppenleiter der Sperrmüllabfuhr, hat mit Schreiben vom 7. November 2017 gegenüber der Beklagten erklärt, dass er die Angabe zu Abläufen und Gewichten nicht bestätigen könne. Er habe erst 2004 als Revier- bzw. Gruppenleiter in der Sperrmüllabfuhr angefangen und könne auch nur zu diesem Zeitraum Angaben machen. Nach Rücksprache mit dem Bereich Arbeitssicherheit sei bereits im Jahr 1994 mit einem externen Unternehmen das Thema ergonomisches Handhaben von Lasten bei der Sperrmüllabfuhr bearbeitet worden. Damals seien alle Mitarbeiter der Sperrmüllabfuhr bzgl. der Verwendung von Tragehilfen (Tragegurten, Sackkarre usw.) sowie zum gesundheitsgerechten Umgang mit Lasten belehrt worden. Er könne nicht ausschließen, dass es in Ausnahmefällen so, wie von dem Kläger beschrieben, praktiziert worden sei, dies sei aber nicht von den Mitarbeitern verlangt worden.

F. hat der Beklagten mitgeteilt, dass er seit November 2004 bei der Sperrmüllabfuhr beschäftigt gewesen sei. Alle Mitarbeiter seien unterwiesen worden, wie schwere Lasten zu tragen seien. Öfen von Dachböden seien von der Entsorgung ausgeschlossen. Diese hätten am Fahrbahnrand bereitgestellt werden müssen. Die Mitarbeiter seien immer im Team vor Ort gewesen und große Möbelstücke und TV-Geräte seien immer zu zweit oder mit Hilfsmitteln wie Sackkarren oder Tragegurten getragen worden.

Der Kläger erwidert hierzu, dass es zwar Tragegurte und Sackkarren gegeben habe, diese aber zum Teil nicht einsetzbar gewesen seien. Es sei nicht ausdrücklich verlangt worden, schwere Lasten allein zu tragen. Aber es sei erwartet worden, dass die erteilten Aufträge abgearbeitet worden seien. Kanonenöfen seien sehr wohl entsorgt worden. Herr F. sei zudem seiner Erinnerung nach kaum beim Sperrmüll, sondern nur als Gruppenleiter tätig gewesen. Herr G., der keine Stellungnahme eingereicht habe, würde sich eh nicht negativ über die Arbeitsbedingungen äußern.

Auf die Anfrage des Gerichts, welche Kolonnenführer für ihn zuständig gewesen seien, gibt der Kläger an, dass er sich an die Namen bis zu den 90er-Jahren nicht erinnern könne und danach sei er selbst Kolonnenführer gewesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte, die beigezogene Verwaltungsakte und die Sitzungsniederschrift vom 27. März 2019 ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte (§§ 143, 144 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG)) und auch im Übrigen zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte (§ 151 SGG) Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG) zu Recht abgewiesen. Die Klage ist insbesondere auch fristgemäß erhoben worden. Zum einen weist der Widerspruchsbescheid keinen Vermerk auf, wann der Widerspruchsbescheid der Post übergeben worden ist, so dass bereits die Bekanntgabevermutung des § 37 Abs. 2 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) nicht greift. Zum anderen hat der Senat angesichts des Poststreiks im Juni 2015 aber auch keine Zweifel, dass der Widerspruchsbescheid tatsächlich erst am 23. Juni 2015 dem damaligen Bevollmächtigten des Klägers zugegangen ist.

Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig und verletzen den Kläger daher nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung seiner HWS-Erkrankung als Berufskrankheit nach Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV. Nach § 9 Abs. 1 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) sind Berufskrankheiten Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung wird ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, dass die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht worden sind oder wenn sie zur Unterlassung aller Tätigkeiten geführt haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheiten ursächlich waren oder sein können. Von dieser Ermächtigung hat der Verordnungsgeber mit Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV dahingehend Gebrauch gemacht, dass als Berufskrankheit eine bandscheibenbedingte Erkrankung der HWS durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen hat, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können, anerkannt wird.

Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist für die Feststellung einer Listen-BK erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) sowie dass eine Krankheit vorliegt (BSG, Urteil vom 23. April 2015 – B 2 U 10/14 R, BSGE 118, 255). Des Weiteren muss die Krankheit durch die Einwirkungen verursacht sein (haftungsbegründende Kausalität). Schließlich ist Anerkennungsvoraussetzung, dass der Versicherte deshalb seine Tätigkeit aufgeben musste sowie alle gefährdenden Tätigkeiten unterlässt. Fehlt eine dieser Voraussetzungen, ist die Berufskrankheit nicht anzuerkennen (BSG, a.a.O.). Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf. den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist keine Voraussetzung einer Listen-Berufskrankheit (BSG, a.a.O.). Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" im Sinne des Vollbeweises – also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – vorliegen (BSG, a.a.O.). Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (BSG, a.a.O.)

Die in der Berufskrankheit Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe wie "langjährig" oder "schwer" sind unter Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien sowie anhand der Vorgaben des vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen Merkblatts für die ärztliche Untersuchung zur Nr. 2109 der Anlage 1 zur BKV (BArbBl 3/1993, S. 53) und der wissenschaftlichen Stellungnahme des Ärztlichen Sachverständigenbeirats "Berufskrankheiten" beim BMAS vom 1. Dezember 2016 (GMBl. 31. Januar 2017, S. 29 ff.) näher zu konkretisieren. Solchen Merkblättern kommt zwar keine rechtliche Verbindlichkeit zu, sie sind allerdings als Interpretationshilfe und zur Wiedergabe des bei seiner Herausgabe aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstands heranzuziehen (BSG, Urteil vom 4. Juli 2013 – B 2 U 11/12 R, BSGE 114, 90).

Die unbestimmten Rechtsbegriffe sind demnach so zu verstehen, dass eine versicherte Person zur Erfüllung der Voraussetzungen des Tatbestands mindestens folgenden beruflichen Einwirkungen ausgesetzt gewesen sein muss: 1. Das Tragen von schweren Lasten auf der Schulter setzt Lastgewichte von 40 kg und mehr voraus (Wissenschaftliche Stellungnahme des Sachverständigenbeirats, a.a.O.). 2. Die Lasten müssen langjährig getragen worden sein. Langjährig bedeutet, dass zehn Berufsjahre als die im Durchschnitt untere Grenze der belastenden Tätigkeit zu fordern ist (Merkblatt 2109, Abschnitt IV Abs. 3). Es handelt sich nicht um eine starre Untergrenze. Geringe Unterschreitungen dieses Wertes schließen die Anwendung des BK-Tatbestands daher nicht von vornherein aus; dies gilt besonders in den Fällen, in denen Versicherte Lasten mit noch höherem Gewicht bewegt haben (BSG, a.a.O.) 3. Erforderlich ist eine Regelmäßigkeit des Tragens schwerer Lasten auf der Schulter, wobei das Tragen schwerer Lasten in der ganz überwiegenden Anzahl der Arbeitsschichten ausreicht, ohne dass eine genaue Zeitgrenze pro Arbeitsschicht genannt werden kann. Wie bei der Belastungsdauer nach Nummer 2 können geringere oder fehlende Einwirkungen in einer Arbeitsschicht durch stärkere oder länger dauernde Belastungen in anderen Schichten ausgeglichen werden. Ein arbeitstägliches Tragen von schweren Lasten auf der Schulter ist dagegen nicht erforderlich (BSG, a.a.O.). 4. Das Tragen schwerer Lasten muss mit einer nach vorn und seitwärts erzwungenen Zwangshaltung der HWS einhergehen (BSG, a.a.O.). 5. Als Folge dieses Zwangs muss die Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit tatsächlich erfolgt sein.

Die arbeitstechnischen Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Der Kläger trägt zwar vor, dass er regelmäßig schwere Lasten auf der Schulter getragen habe, dies hat sich durch die weiteren arbeitstechnischen Untersuchungen aber nicht bestätigt. Die beiden Mitarbeiter der S., V. und F., haben darauf hingewiesen, dass die Mitarbeiter der Sperrmüllabfuhr immer im Team vor Ort gewesen seien und Tragegurte sowie Sackkarren zur Verfügung gestanden hätten. Der Kläger räumt zwar ein, dass nicht verlangt worden sei, so schwere Lasten alleine auf der Schulter zu tragen, trägt jedoch vor, dass dies dennoch gemacht worden sei, um das Arbeitspensum zu schaffen. Zeugen hat er hierfür nicht benannt. Die von ihm ursprünglich als Beispiel angegebenen, mit Asche gefüllten Eisenbehälter hat er laut seiner Berufungsbegründung doch nicht selbst getragen. Bei den weiteren angegebenen sperrigen Gegenständen wie Kühlschränken, Waschmaschinen (ohne Gewichtssteine) oder Öfen ist schwer vorstellbar, dass sie – wenn sie das Gewicht von 40 kg überschritten haben – alleine auf die Schulter gehoben und transportiert worden sein sollen. Gerade in den vom Kläger angegebenen schmalen Treppenhäusern dürfte es schwierig gewesen sein, beispielsweise eine Waschmaschine alleine auf der Schulter zu transportieren. Auch eine nach vorn geneigte Zwangshaltung der HWS dürfte hierbei nicht erforderlich gewesen sein. Bei Kühlschränken, die vom Umfang her allein getragen werden können, ist hingegen zweifelhaft, dass ein Gewicht von 40 kg erreicht worden ist. In seiner ersten ausführlichen Stellungnahme hat der Kläger zudem selbst nur von Gewichten von 30 bis 35 kg gesprochen. Es überzeugt auch nicht, dass die unstreitig zur Verfügung gestellten Sackkarren und Tragegurte nicht benutzt worden sein sollen. Anhaltspunkte für die Richtigkeit der Schätzung des Klägers hinsichtlich Gewicht und Dauer der Trageleistung liegen nicht vor.

Hinzu kommt, dass auch die behandelnden Ärzte des Klägers keinen Zusammenhang zwischen der Tätigkeit des Klägers und der Erkrankung seiner Wirbelsäule sehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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