L 3 R 107/16

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 34 R 1259/13
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 3 R 107/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 6. Oktober 2016 sowie der Bescheid der Beklagten vom 18. Juni 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. November 2013 abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung aufgrund eines Leistungsfalles vom 14. März 2017 für die Zeit vom 1. Oktober 2017 bis 30. April 2020 zu gewähren. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren. Im Übrigen haben die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Die 1964 in P. geborene Klägerin absolvierte dort eine pädagogische Ausbildung und arbeitete unter anderem als Grundschullehrerin. Sie lebt seit Dezember 1988 in Deutschland und stand hier seit November 1996 mit kürzeren Unterbrechungen in verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen. Vom 10. Mai bis 4. Dezember 2008 war sie arbeitsunfähig. Vom 5. Dezember 2008 bis 30. April 2011 bezog sie Arbeitslosengeld II nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II), vom 1. Mai 2011 bis 31. Juli 2013 Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe (SGB XII) und im Anschluss daran wieder Arbeitslosengeld II.

Die Klägerin führte in der Zeit vom 16. September bis 7. November 2008 zulasten der Beklagten eine Rehabilitationsmaßnahme in der C. Klinik M. durch. Im Entlassungsbericht wurden als Diagnosen rezidivierende depressive Episoden, gegenwärtig schwer, der Verdacht auf eine histrionische Persönlichkeitsstörung, eine Lumbalgie sowie Schulter- und Nackenmyogelosen aufgeführt. Die Klägerin wurde als arbeitsunfähig entlassen, grundsätzlich wurde jedoch ein positives Leistungsvermögen für mittelschwere Arbeiten überwiegend im Stehen, Gehen oder Sitzen ohne Nachtschichten und unter Beachtung eines eingeschränkten Umstellungs- und Anpassungsvermögens festgestellt.

Der Ärztliche Dienst der Agentur für Arbeit H. (Dr. B.) ging in einer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 13. Januar 2011 davon aus, dass die Klägerin voraussichtlich länger als 6 Monate, aber nicht auf Dauer, täglich nur unter drei Stunden arbeiten könne.

Die Klägerin stellte daraufhin am 11. Mai 2011 bei der Beklagten einen Rentenantrag, in dem sie angab, an schweren Depressionen, Angstzuständen, Panikattacken, Erschöpfung und Antriebslosigkeit, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen zu leiden. Ferner bestünden ein Bandscheibenvorfall, Rücken- und Gehbeschwerden, Asthma, Magen-Darm-Beschwerden, Orientierungs- und Gleichgewichtsstörungen sowie Kreislaufprobleme.

Die Beklagte holte Befundberichte der behandelnden Ärzte sowie eine gutachterliche Stellungnahme der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. F. vom 13. Juni 2013 ein. Diese gelangte zu den Diagnosen einer gemischten Persönlichkeitsstörung mit ängstlich-unsicheren und abhängigen Zügen mit Neigung zu depressiven Einbrüchen in Überforderungssituationen sowie einer Bandscheibenvorwölbung und degenerativen Veränderungen im Bereich HWS und LWS ohne neuromuskuläre Ausfallserscheinungen. Die Klägerin sei damit für mehr als sechs Stunden täglich leistungsfähig für körperlich mittelschwere Arbeiten ohne besondere Stressbelastung, ohne besonderen Zeitdruck, ohne Nachtschichtarbeit, ohne Wirbelsäulenzwangshaltungen, ohne ständige Überkopfarbeiten und ohne besondere Anforderungen an die Ein- und Umstellfähigkeit. Allerdings sei die Erwerbsfähigkeit gefährdet, da eine Chronifizierung und Verfestigung drohe.

Die Beklagte lehnte den Rentenantrag daraufhin mit Bescheid vom 18. Juni 2013 ab. Aufgrund des dagegen erhobenen Widerspruchs holte die Beklagte eine ergänzende gutachterliche Stellungnahme von Dr. F. vom 6. November 2013 ein. Diese blieb bei ihrer Auffassung und wies darauf hin, dass sich angesichts des untersuchten Serumspiegels sowohl das Schmerzmittel Tramadol als auch die eingenommenen Antidepressiva weit unterhalb des therapeutischen Bereichs befunden hätten. Daraufhin wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 22. November 2013 zurück.

Mit ihrer am 6. Dezember 2013 erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht, das Ausmaß ihrer Leistungsstörung sei in der sozialmedizinischen Beurteilung nicht hinreichend erfasst worden. Auch sei die orthopädische Befundlage nicht berücksichtigt worden.

Das Sozialgericht hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte eingeholt sowie das Gutachten des Ärztlichen Dienstes der Agentur für Arbeit H. vom 2. September 2013 (Dr. S.) beigezogen.

Es hat sodann ein Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Neurologie Dr. N. eingeholt. Dieser ist nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 17. März 2015 in seinem Gutachten vom 29. März 2015 zu folgenden Diagnosen gelangt: Rezidivierende depressive Störung, leichte depressive Episode, differenzialdiagnostisch Angst und depressive Störung gemischt; Histrionische Persönlichkeitsstruktur; C7-Neuralgie links bei kernspintomografisch dokumentiertem Bandscheibenschaden C5/C6 mit Irritation Nervenwurzel C7 links; Lumbales Wirbelsäulenproblem mit angedeuteter S1-Neuralgie links ohne Nachweis nervenwurzelbezogener sensomotorischer Ausfälle; Schilddrüsendysfunktion; Angegebene Gonalgien beidseits in Behandlung. Die Klägerin sei mit den vorliegenden Gesundheitsstörungen in der Lage, täglich sechs Stunden und mehr leichte körperliche Arbeiten einfacher geistiger Art mit geringer Verantwortung auszuüben, dies vorzugsweise überwiegend aus sitzender bzw. wechselnder Körperposition heraus, wobei ausschließlich gehende oder stehende Tätigkeiten zu vermeiden seien. Nicht gefordert werden könnten Arbeiten über Schulterhöhe und Tätigkeiten ständig in gebückter, hockender oder kauernder Körperposition. Wegen der psychischen Minderbelastbarkeit seien ferner Arbeiten unter besonderem Zeitdruck und unter Nachtarbeitsbedingungen zu vermeiden. Die Wegefähigkeit sei nicht eingeschränkt.

Nach der Einholung weiterer Befundberichte hat Dr. N. in einer ergänzenden Stellungnahme vom 30. Juli 2016 und in der mündlichen Verhandlung des Sozialgerichts am 6. Oktober 2016 an seiner Auffassung festgehalten. Das Sozialgericht hat die Klage daraufhin mit Urteil vom selben Tage abgewiesen und ist den Ausführungen von Dr. N. gefolgt.

Die Klägerin hat gegen das ihr am 20. Oktober 2016 zugestellte Urteil am Montag, den 21. November 2016 Berufung eingelegt. Sie trägt vor, sie sei seit mittlerweile ca. 30 Jahren in psychiatrischer Behandlung. Der Drogenkonsum ihres Sohnes habe sie psychisch sehr belastet, ebenso die Beziehung zu ihrem ehemaligen Lebensgefährten, in der sie viele traumatische Erlebnisse in Form von psychischer und körperlicher Gewalt erfahren habe. Sie habe Gedächtnisprobleme und Panikattacken. Seit 2010 seien noch stärkere körperliche Beschwerden aufgrund des Wirbelsäulenleidens hinzugetreten.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 6. Oktober 2016 und den Bescheid der Beklagten vom 18. Juni 2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. November 2013 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab Antragstellung eine befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Verschlossenheit des Arbeitsmarktes zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

Im Laufe des Berufungsverfahrens hat die Klägerin mehrere Atteste ihrer behandelnden Ärzte eingereicht; das Gericht hat außerdem aktuelle Befundberichte eingeholt.

Das Berufungsgericht hat sodann den Facharzt für Psychiatrie und Neurologie Dr. N. erneut mit der Untersuchung und Begutachtung der Klägerin beauftragt. In seinem Gutachten vom 6. April 2018 ist dieser nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 4. April 2018 zu folgenden Diagnosen gelangt: Rezidivierende depressive Störung, mittelgradige depressive Episode; Histrionische Persönlichkeit mit einzelnen ängstlich vermeidenden und selbstunsicheren Zügen; Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren; C7-Neuralgie links bei radiologisch dokumentiertem Bandscheibenschaden im Bereich der mittleren Halswirbelsäule mit Irritation der Nervenwurzel C7; Lumbales Wirbelsäulensyndrom mit angedeuteter S1-Neuralgie. Der Sachverständige hat ausgeführt, der Zustand der Klägerin habe sich seit der Vorbegutachtung im März 2015, bei der nur eine leichte depressive Symptomatik vorgelegen habe, verschlechtert. Gegenwärtig sei die Klägerin nicht mehr in der Lage, regelmäßig einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen. Sie sei auch nicht mehr in der Lage, Willenskräfte zu mobilisieren, um Hemmungen gegenüber einer Arbeitsleistung zu überwinden. Eine Fortsetzung und Intensivierung der ambulanten Fachbehandlung sei aber nicht aussichtslos, wobei insoweit von einer Behandlungsdauer von zwei Jahren ab dem Untersuchungszeitpunkt auszugehen sei. Die Einschränkungen bestünden seit März 2017, denn es sei im August 2016 zur Wiederaufnahme der psychotherapeutischen Behandlung bei Dr. K. gekommen, die zu den Feststellungen in deren Attest vom 14. März 2017 geführt hätten und daher seitdem angemessen dokumentiert seien.

Die Beklagte hat dagegen eingewandt, die angenommene Befundverschlechterung bilde sich in der Begutachtung nicht ab. Ferner sei auch eine mittelgradige Ausprägung einer depressiven Episode nicht gleichzusetzen mit einem aufgehobenen Leistungsvermögen. Es sei zwischenzeitlich weder zu einer Therapieintensivierung im Hinblick auf eine tagesklinische oder stationäre Maßnahme gekommen noch habe eine Umstellung der Medikation stattgefunden. Im Übrigen fehle es wegen einer Lücke im Versicherungsverlauf vom 1. Mai 2011 bis 31. Juli 2013 bei einem angenommenen Leistungsfall im März 2017 an den versicherungsrechtlichen Voraussetzungen.

In der mündlichen Verhandlung des Senats am 15. Mai 2018 hat der Sachverständige Dr. N. sein Gutachten mündlich erläutert und erneut darauf hingewiesen, dass er gegenüber der ersten Begutachtung eine deutliche Verschlechterung festgestellt habe. Der Rechtsstreit ist sodann vertagt worden, um Ermittlungen zu der von der Beklagten geltend gemachten Lücke im Versicherungsverlauf durchzuführen.

Nach erfolgter Beiladung des zuständigen Jobcenters hat dieses mitgeteilt, dass die Bewilligung über die Leistungen nach dem SGB II ab 1. Mai 2011 wegen Wegfalls der Erwerbsfähigkeit aufgehoben worden sei. Gleichzeitig sei die Klägerin aufgefordert worden, einen Antrag auf Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII zu stellen. Eine Aufforderung zur Stellung eines Rentenantrages sei an die Klägerin nicht ergangen. Der Rentenversicherungsträger sei ebenfalls nicht informiert worden, dass man die Klägerin für erwerbsunfähig halte.

Nach entsprechendem Hinweis hat sich die Beklagte der vorläufigen Auffassung des Senats angeschlossen, dass die Zeit vom 1. Mai 2011 bis 31. Juli 2013 eine Anrechnungszeit darstelle, sodass die relevante Lücke im Versicherungsverlauf der Klägerin belegt sei. Die Anerkennung eines Rentenanspruchs komme jedoch aus medizinischen Gründen weiterhin nicht in Betracht.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne weitere mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte sowie die Verwaltungsakten der Beklagten und der Beigeladenen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Entscheidung ist im Einverständnis der Beteiligten ohne weitere mündliche Verhandlung ergangen (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG).

Die form- und fristgerecht eingelegte und auch sonst zulässige Berufung (§§ 143, 151 SGG) ist im tenorierten Umfang begründet. Die Klägerin kann eine Rente wegen Erwerbsminderung aufgrund eines Leistungsfalles vom 14. März 2017 ab 1. Oktober 2017 beanspruchen. Für die Zeit davor besteht dagegen kein Leistungsanspruch.

Versicherte haben gemäß § 43 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 S. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI). Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 S. 2 SGB VI). Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

Die hiernach maßgeblichen Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente sind für einen Leistungsfall am 14. März 2017 erfüllt. Die Klägerin ist seit diesem Zeitpunkt voll erwerbsgemindert. Der Senat folgt dabei den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. N. in seinem Gutachten vom 6. April 2018, in dem er dargelegt hat, dass sich der Zustand der Klägerin seit der Vorbegutachtung im März 2015 weiter chronifiziert und verschlechtert habe, sodass diese nun nicht mehr in der Lage sei, regelmäßig einer Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen. Diese Beurteilung hat der Sachverständige auch für den erkennenden Senat gut nachvollziehbar aus den erhobenen Befunden abgeleitet und begründet. Er hat ausgeführt, dass die Antriebslage zurückgenommen sei und es der Klägerin schwer falle, intentionale Spannungsbögen aufzubauen und durchzuhalten. Ihre Grundstimmung sei inzwischen deutlich gedrückt, gepaart mit nicht unerheblichen Schuldgefühlen sowie einer Neigung zu depressiven Grübeleien. Sie sei affektiv nur eingeschränkt schwingungsfähig; es gelinge ihr so gut wie nicht, zum positiven Pol mitzuschwingen. Sie verharre immer wieder in negativ depressiver Grundstimmung, teilweise gepaart mit Spuren von Verbitterung sowie einer von Selbstwertzweifeln geprägten Attitüde. Ihre Fähigkeit, Freude zu empfinden, sei eingeschränkt und der Zugang zur Wahrnehmung der eigenen Gefühlswelt reduziert. Zwar hat Dr. N. dargelegt, dass kein vollständiger sozialer Rückzug aus allen Lebensbereichen vorliege, es gebe aber seit drei Jahren einen zunehmenden sozialen Rückzug und eine Minderung von Interessen und Aktivitäten. Diese Feststellungen des Sachverständigen sind gut nachvollziehbar anhand der geschilderten Angaben der Klägerin, es bestehe, abgesehen von einer Freundin, kaum noch Kontakt zu den Bekannten. Sie könne keine Tagesstruktur mehr aufrechterhalten, bleibe oft stunden- und tagelang im Bett und empfinde kaum noch Freude. Unternehmungen fänden nicht mehr statt und sie verlasse allein das Haus praktisch nicht mehr. Auch habe sie ihren Hund abgeben müssen, weil sie nicht mehr für ihn habe sorgen können. Dr. N. hat weiter ausgeführt, sie wirke selbstunsicher und zeige eine Neigung zu histrionischem Verhalten, sodass insgesamt von einer Persönlichkeitsstörung mit histrionischen, aber auch einzelnen selbstunsicheren und ängstlich vermeidenden Zügen ausgegangen werden müsse. Es bestehe auch für untervollschichtige Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine ausreichende Grundbelastbarkeit; das Durchhaltevermögen reiche hierfür nicht aus. Zusätzlich hat der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass mittlerweile einzelne kognitive Einschränkungen depressiver Genese hinzugekommen seien, nämlich eine Konzentrationsminderung und ein Aufmerksamkeitsdefizit. Auch eine psychomotorische Hemmung sei auffällig gewesen. Somit ist der Beklagten zwar grundsätzlich darin zuzustimmen, dass eine mittelgradige Ausprägung einer depressiven Episode nicht zwingend ein aufgehobenes Leistungsvermögen bedeuten müsse. Vorliegend hat Dr. N. jedoch überzeugend herausgearbeitet, dass die bei der Klägerin konkret bestehenden Leistungseinschränkungen aufgrund der depressiven Erkrankung im Zusammenspiel mit der Persönlichkeitsstörung mittlerweile ein Ausmaß erreicht haben, die eine regelmäßige Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr zulassen.

Der Senat folgt Dr. N. ebenfalls hinsichtlich des von ihm angenommenen Leistungsfalls im März 2017. Der Sachverständige hat insoweit die Unterschiede in der Befundlage gegenüber seiner Vorbegutachtung im März 2015 aufgezeigt und dargelegt, dass er von einer Verschlechterung im Verlauf des Jahres 2016 ausgehe, die dann zur Wiederaufnahme der ambulanten Psychotherapie bei Dr. K. geführt habe. Da aber das Attest von Dr. K. vom 14. März 2017 – worauf Dr. N. ausdrücklich hingewiesen hat – die erste Dokumentation über den Befund einer Depression im mittelschweren bis schweren Bereich ist, ist dessen Datum der erste objektivierbare Nachweis für das Vorliegen eines Leistungsfalls der vollen Erwerbsminderung.

Ein früherer Leistungsfall kann demgegenüber nicht festgestellt werden. Dr. N. hat in seiner ersten Begutachtung im März 2015 derart schwere Leistungsbeeinträchtigungen, die die Annahme eines aufgehobenen Leistungsvermögens rechtfertigen könnten, nicht festgestellt. Die Klägerin hat seinerzeit ihm gegenüber noch angegeben, der Umgang mit ihrem Hund bereite ihr Freude, sie habe einen kleinen und verlässlichen Freundes- und Bekanntenkreis und sie sei für einige Tage mit einer Freundin im Urlaub gewesen. Dementsprechend hat Dr. N. damals die Antriebslage noch als ausreichend erhalten bewertet und die Klägerin als durchgehend ausreichend lebhaft und rege, zu keinem Zeitpunkt schwunglos oder matt beschrieben. Er hat zwar schon damals mitgeteilt, dass die Klägerin sich vermehrt mit negativen Kognitionen und depressiven Gefühlen beschäftige, aber gleichzeitig darauf hingewiesen, dass sie daraus gelöst werden könne und nicht darin gefangen sei. Ihre affektive Schwingungslage sowie die Fähigkeit, Freude zu empfinden hat er – anders als in der zweiten Begutachtung – nur als leicht reduziert bewertet. Auch die kognitiven Einbußen hat er seinerzeit noch als geringfügig eingestuft, indem er das Konzentrationsvermögen als knapp ausreichend bewertet und bei der Merkfähigkeit keine gravierenden Einbußen gesehen hat. Schließlich hat er ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Klägerin noch über strukturierte Willenskräfte und Entscheidungsfähigkeit verfügt habe.

Auch aus dem übrigen Akteninhalt lässt sich ein früherer Leistungsfall nicht begründen. Insbesondere hat auch Dr. F. im Jahr 2013 noch ein ausreichendes Leistungsvermögen der Klägerin angenommen, allerdings bereits damals auf eine drohende Chronifizierung und Verfestigung und die damit einhergehende Gefährdung der Erwerbsfähigkeit hingewiesen. Die vorliegenden Atteste und Befundberichte der behandelnden Ärzte sind von dem Sachverständigen Dr. N. ausgewertet und beurteilt worden. Die anderslautende Einschätzung des Ärztlichen Dienstes der Agentur für Arbeit H. vom 13. Januar 2011 kann zu keiner abweichenden Beurteilung führen, da weder Befunde geschildert noch inhaltliche Begründungen geliefert werden. Schließlich ergibt sich auch unter Berücksichtigung des Wirbelsäulenleidens der Klägerin nichts anderes. Dr. N. hat insoweit zwar bereits bei seiner ersten Begutachtung aufgrund eigener Untersuchung und Auswertung der vorliegenden Befunde eine C7-Neuralgie links aufgrund eines Bandscheibenschadens im Halswirbelsäulenbereich mit Irritation der Nervenwurzel sowie ein lumbales Wirbelsäulenproblem mit angedeuteter S1-Neuralgie links ohne Nachweis nervenwurzelbezogener sensomotorischer Ausfälle festgestellt. Diesen Gesundheitsstörungen wurde jedoch mit der Beschränkung auf leichte körperliche Arbeiten und den weiteren von Dr. N. genannten qualitativen Einschränkungen hinreichend Rechnung getragen.

Ausgehend von einem Leistungsfall im März 2017 sind – wie zwischen den Beteiligten mittlerweise unstreitig ist – auch die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente erfüllt. Nach dem vorliegenden Versicherungsverlauf hat die Klägerin die allgemeine Wartezeit und auch die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (§ 43 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VI) erfüllt. Allein streitig war insoweit zunächst, ob der Zeitraum vom 1. Mai 2011 bis 31. Juli 2013, in dem die Klägerin kein Arbeitslosengeld II, sondern Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII bezogen hat, eine Anrechnungszeit darstellt. Dies ist indes der Fall. Die Klägerin ist nämlich im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als hätte sie auch während dieser Zeit Arbeitslosengeld II bezogen, sodass eine Anrechnungszeit gemäß § 58 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 SGB VI anzuerkennen ist. Die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II waren auch während dieses Zeitraums erfüllt. Soweit die Beigeladene die Bewilligung von Arbeitslosengeld II aufgehoben hat, erfolgte dies ausschließlich deshalb, weil sie von fehlender Erwerbsfähigkeit der Klägerin ausging (§ 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, § 8 Abs. 1 SGB II). Diese Annahme war jedoch nicht zutreffend, da – wie bereits ausgeführt – seinerzeit noch ein ausreichendes Leistungsvermögen der Klägerin für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestand. Auch wenn die Beigeladene von der Richtigkeit der Einschätzung ihres Ärztlichen Dienstes vom 13. Januar 2011 ausgegangen sein dürfte, hätte sie die Gewährung von Arbeitslosengeld II nicht ohne Weiteres einstellen dürfen. Vielmehr ist in einem solchen Fall der Betroffene zur Rentenantragstellung aufzufordern. Zur Vermeidung von versicherungsrechtlichen Nachteilen im Hinblick auf eine spätere Rentengewährung sind die Leistungen jedoch bis zur endgültigen Klärung der Erwerbsfähigkeit weiter zu erbringen und entsprechende Erstattungsansprüche bei den Trägern der Rentenversicherung und der Sozialhilfe vorsorglich anzumelden. Diese Vorgehensweise sehen auch die Fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 44a SGB II unter Ziffer 1.3.1 sowie die §§ 5 bis 7 der seit 1. April 2011 gültigen "Vereinbarung zwischen der Bundesagentur für Arbeit und der Deutschen Rentenversicherung über die Zusammenarbeit bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Arbeitsuchenden nach dem SGB II" ausdrücklich vor. Ein abweichendes Vorgehen erkennen die Fachlichen Weisungen nur an, wenn die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Rentenanspruch offensichtlich nicht erfüllt sind, was bei der Klägerin jedoch nicht der Fall war. Die Klägerin hätte somit bei korrektem Verwaltungshandeln durchgehend Arbeitslosengeld II bezogen, wobei es für das Bestehen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs unschädlich ist, dass nicht die Beklagte, sondern ein anderer Träger fehlerhaft gehandelt hat (vgl. BSG, Urteil vom 09.01.2017 – B 13 R 365/16 B – Juris, m.w.N.). Wie auch die Beklagte mittlerweile zugesteht, ist eine relevante Lücke im Versicherungsverlauf der Klägerin somit nicht vorhanden.

Die Rente wegen voller Erwerbsminderung beginnt ausgehend von einem Leistungsfall am 14. März 2017 am 1. Oktober 2017 (§ 101 Abs. 1 SGB VI). Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden gemäß § 102 Abs. 2 S. 1 und 2 SGB VI für längstens drei Jahre befristet. Der Sachverständige Dr. N. hat ausgeführt, dass im Falle der Klägerin durch eine intensivierte Therapie – zunächst durch eine ambulante Fachbehandlung, bei etwaiger Therapieresistenz auch durch Einleitung einer tagesklinischen Behandlung – eine Besserung erzielt werden könne, wobei er von einer zweijährigen Behandlungsnotwendigkeit ausgeht. Die Rente war daher auf zwei Jahre ab dem Zeitpunkt seiner Untersuchung zu befristen, wobei die Befristung auf das Ende des Kalendermonats zu erfolgen hatte (§ 102 Abs. 1 S. 3 SGB VI).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Da die Voraussetzungen für eine Rentengewährung erst nach Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens erfüllt waren, kommt eine Kostenerstattung nur für das Berufungsverfahren in Betracht.

Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen von § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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