L 3 VE 7/15

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 12 VE 23/13
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 3 VE 7/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 29. Juli 2015 und der Bescheid der Beklagten vom 24. Juni 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Mai 2013 abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ab 1. Juli 1994 höhere Versorgungsbezüge unter Berücksichtigung eines Berufsschadensausgleichs nach Maßgabe der Leistungsgruppe 2 und des Industriebereichs "Baugewerbe" zu gewähren. Die darüber hinaus gehende Klage wird abgewiesen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Die Beklagte trägt zwei Drittel der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Klägerin höhere Versorgungsbezüge unter Berücksichtigung eines höheren Berufsschadensausgleichs sowie einer Höherbewertung des Grades der Schädigung (GdS) wegen besonderer beruflicher Betroffenheit beanspruchen kann.

Die Klägerin ist 1929 in G. geboren und war dort zunächst ab 1951 als Verkäuferin, kaufmännische Angestellte, Kontoristin und Schreibkraft berufstätig. Von Januar 1969 bis Ende 1975 arbeitete sie als Sachbearbeiterin Reparaturannahme im V. Betrieb (V.) Kfz-Instandhaltung W ... Ihr Gesamtverdienst im Jahr 1975 betrug ausweislich ihres Sozialversicherungshefts 6.391,40 Mark. Am 8. Mai 1974 hatte sie ihr Facharbeiterzeugnis "Verkehrskaufmann" mit der Note "sehr gut" erhalten. Während des gesamten Jahres 1976 war sie als Auftragsabrechnerin ebenfalls im V. Kfz-Instandhaltung W. tätig (Gesamtverdienst: 5.385 Mark). Am 14. Januar 1977 nahm sie eine Tätigkeit in der Z. Bauorganisation (Z.) "V." in G. auf, und zwar zunächst als Materialbuchhalterin (Gesamtverdienst 1977: 6.912,04 Mark) und von Januar 1978 bis Juli 1979 als Leiterin der Materialbuchhaltung. Ihr Gesamtverdienst 1978 betrug 3.868,29 Mark, für die Zeit vom 1. Januar bis zum 11. Juli 1979 erhielt sie insgesamt 4.179,02 Mark.

Hinsichtlich der letztgenannten Tätigkeit ergeben sich aus dem in den Akten befindlichen "Funktionsplan" folgende Aufgaben und Verantwortungsbereiche:

- Leitet die ihr unterstellten Mitarbeiter an. - Organisiert die richtige Nachweisführung der Materialbestände und Materialbewegungen für Grundmaterial, Rüst- und Vorhaltematerial, Arbeitsschutzmittel und -be-kleidung, Elektromaterial, Reparaturmaterial und Ersatzteile. - Führt die Materialbestandskartei. - Bucht die Materialbewegungen. - Errechnet anhand der Material-Verbrauchsbücher den monatlichen Materialverbrauch. - Gliedert den Materialverbrauch nach Kostenarten und Kostenträgern sowie Kostenstellen. - Arbeitet bei der Bildung von Material-Verrechnungspreisen mit und ist verantwortlich für die richtige Anwendung der betrieblichen Material-Verrechnungspreise. Führt den Nachweis über die Material-Verrechnungspreis-Differenzen. - Berechnet die ME-Scheine und MU-Scheine für Materialverkäufe. Führt den Nachweis über Materialverkäufe. - Stimmt laufend die Materialkartei mit der Lagerkartei ab und klärt die auftretenden Differenzen. - Stimmt monatlich die Materialrechnung mit der Finanzrechnung ab. - Erarbeitet Zahlenmaterial für die Berichterstattung. - Ist verantwortlich für die termingerechte Übergabe des Zahlenmaterials an die Finanzbuchhaltung. - Bereitet Inventuren vor und bewertet die Bestände und wirkt bei der Aufklärung von Inventurdifferenzen mit. - Ist verantwortlich für die termingerechte Anforderung des Preisausgleiches für Materiallieferungen. - Übernimmt entsprechend den betrieblichen Erfordernissen die Kassenvertretung. - Untersteht dem Hauptbuchhalter und ist ihm rechenschaftspflichtig.

Ab Dezember 1979 übte die Klägerin nur noch ungelernte Tätigkeiten als Postzustellerin und Küchenhilfe aus.

Bereits am 7. August 1976 hatte die Klägerin einen Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland und Aberkennung der Staatsbürgerschaft der DDR gestellt. In einem in den Verwaltungsakten befindlichen Bericht des "I." vom 8. November 1976 heißt es, die Klägerin lasse sich politisch nicht aus der Reserve holen. Nach Einschätzung eines Kollegen sei sie eine fleißige Frau, die sich um sonst nichts kümmere. Unverständlich sei im Betrieb, dass sie laut Gerede in die BRD wolle. Sie sei vermögend und habe es eigentlich nicht nötig, sich in eine unsichere Zukunft zu manipulieren. In einem Bericht des "K." vom 19. November 1976 über eine "Aussprache" mit Kollegen der Klägerin heißt es unter anderem, dass die Klägerin über erhebliche Zahlungsmittel aus einem Lottogewinn und einer Erbschaft verfüge und dass sie systematisch versuche, diese beiseite zu schaffen, um im Falle einer Entlassung aus der Staatsbürgerschaft über ein Anfangskapital zu verfügen. In einer Aktennotiz vom 20. Dezember 1976 über eine "Aussprache" mit dem Kollektiv der Abteilung am 16. Dezember 1976 heißt es, dass es erhebliche Spannungen zwischen der Klägerin und dem gesamten Kollektiv gebe. Als Ergebnis wurde festgelegt, die Klägerin von ihrem Arbeitsplatz im Kundenraum umzusetzen auf die Planstelle Rechnungsleger. In einem Bericht des "C." vom 17. Februar 1977 heißt es, die Klägerin sei bis Dezember 1976 im Instandsetzungsbetrieb G. als Schreibkraft tätig gewesen. 1976 habe sie den Antrag auf Übersiedlung in die BRD gestellt. Von der Betriebs- und Parteileitung sei ihr provozierendes Verhalten so gedeutet worden, dass sie auf eine Entlassung hinausziele. Sie sei deshalb mehrfach umgesetzt worden, jedoch ohne Ergebnis. Ende 1976 habe sie nach einer Auseinandersetzung selbst gekündigt. Sie habe in mehreren Betrieben versucht, eine Anstellung zu erhalten, die sie letztlich nicht angenommen habe. Die Quelle vermute, dass sie durch ihr Verhalten darstellen wolle, dass sie aufgrund ihres Antrages keine Arbeit bekomme. Zurzeit sei sie in der Z. G. in der Lohnbuchhaltung. Schließlich gibt es einen weiteren Bericht von "K." vom 21. Februar 1977, in dem dieser ausführt, es seien seitens des Kollektivs mit der Klägerin mehrere Aussprachen geführt worden, die sich in der Hauptsache darauf bezogen hätten, dass sie keinen Kollektivgeist besitze und durch ihr Auftreten im Kollektiv Spaltertätigkeiten betreibe. Ihr habe auch nachgewiesen werden können, dass sie Betriebsgeheimnisse mit Kunden durchgesprochen habe. Aufgrund dieser Tatsache sei sie in gleicher Funktion in eine andere Abteilung umgesetzt worden, in der sie keinen Kundenkontakt gehabt habe. Dieses habe die Klägerin als Grund angesehen, ihr Arbeitsverhältnis zum 30. November 1976 zu kündigen. Nach mehrmaligen Anläufen in fünf oder sechs Betrieben arbeite sie jetzt in der Z ... In mehreren Aussprachen habe sie ein sehr egoistisches Verhalten gezeigt. Es habe sie nicht interessiert, was im Kollektiv oder Betrieb passiere. Sie kümmere sich nur um ihre eigenen Belange, gesellschaftliche Tätigkeit müsse ihr in jedem Fall bezahlt werden. Über ihr Verhalten in der Z. sei nichts mehr bekannt.

Am 18. Oktober 1978 wurde die Klägerin morgens auf dem Weg zur Arbeit durch Mitarbeiter des Ministeriums für Staatsicherheit (MfS) der DDR verhaftet und nach ihren Angaben "ins Stasiauto gezerrt", zum "Stasibunker" gefahren und dort "grausam verhört". Dort sei sie zusammengebrochen. Im Anschluss befand sie sich für längere Zeit in stationärer ärztlicher Behandlung.

Am 8. Februar 1981 erfolgte die Ausreise der Klägerin und ihres Sohnes in die Bundesrepublik. Sie nahm hier jeweils erfolgreich von Juni bis November 1981 an einem kaufmännischen Praxistraining und im Anschluss daran bis August 1982 an einer EDV-Maßnahme für kaufmännische Sachbearbeiter teil. Von August 1983 bis Juli 1984 übte sie eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aus, im Anschluss daran erhielt sie Arbeitslosengeld. Seit dem 1. Juni 1990 bezieht sie Altersrente.

Im Februar 1994 stellte die Klägerin beim Amt für Rehabilitierung und Wiedergutmachung beim Justizministerium M1 einen Antrag auf Rehabilitierung nach dem zum 1. Juli 1994 in Kraft getretenen Gesetz über die Aufhebung rechtsstaatswidriger Verwaltungsentscheidungen im Beitrittsgebiet und die daran anknüpfenden Folgeansprüche (Verwaltungsrechtliches Rehabilitierungsgesetz – VwRehaG) wegen der erfolgten Bespitzelung und Drangsalierung durch den Staatssicherheitsdienst der DDR im Zeitraum von 1968 bis zur 1981 erfolgten Ausreise. Sie beantragte außerdem im November 1994 beim Versorgungsamt S. Versorgungsleistungen wegen der Folgen dieser Maßnahmen für ihre Gesundheit (Angstzustände, Depressionen, Verfolgungswahn), der zuständigkeitshalber an die Beklagte weitergeleitet wurde.

Das Amt für Rehabilitierung und Wiedergutmachung M1 erklärte mit Bescheid vom 20. März 1998 folgende Maßnahmen des MfS, die der Bespitzelung und Drangsalierung der Klägerin in ihrem Berufs- und Privatleben gedient hätten, für rechtsstaatswidrig:

- Bespitzelung im Berufsleben frühestens ab 1968 - Observation von Dezember 1976 bis Januar 1977 - Kontrolle der Postsendungen ab März 1977 - Beschaffung und Auswertung von Kaderunterlagen seit Februar 1977 - Beschaffung von Fotos der Klägerin und ihres Wohnbereichs zum 1. April 1977 - Observation im Wohn- und Arbeitsbereich, insbesondere ab April 1977 - Durchführung einer fingierten Brandschutzkontrolle des Wohnbereichs im Januar 1978 - Kontrolle ihres Gesundheitszustandes und Einflussnahme auf die behandelnden Ärzte ab spätestens Januar 1978 - Konspirative Kontrolle ihrer Garagendurchfahrt am 30. März 1978

Die Beklagte lehnte sodann durch Bescheid vom 29. September 1999 und Widerspruchsbescheid vom 7. März 2000 die Gewährung von Versorgungsleistungen ab, da ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den Maßnahmen des MfS und den von der Klägerin geltend gemachten gesundheitlichen Schädigungen nicht ausreichend wahrscheinlich sei. Das sich anschließende Klage- und Berufungsverfahren (S 31 VU 2/01 bzw. L 4 VU 1/06) endete durch einen Vergleich vom 19./20. März 2009 folgenden Inhalts:

"1. Das Versorgungsamt erkennt an, dass Frau N. in den Jahren 1968 – 1980 vom Staatssicherheitsdienst der DDR verfolgt wurde und dass die Verfolgungsmaßnahmen wesentliche Ursache für das vorliegende psychische Leiden waren. 2. Für die Zeit vom 14.11.1994 (Antragstellung nach VwRehaG) bis zum 31.12.2008 erhält Frau N. vom Versorgungsamt H. einen Abgeltungsbetrag in Höhe von insgesamt 31.000 EUR (Einunddreißigtausend Euro). 3. Rückwirkend ab dem 1.1.2009 erhält die Klägerin eine monatliche Beschädigten-Grundrente auf Basis eines Grades der Schädigungsfolge von 50 v.H. Die Grundrente zzgl. Alterserhöhung gem. § 3 VwRehaG in Verbindung mit § 30 Abs.1, § 31 BVG beträgt derzeit 245 EUR (221 EUR Grundrente zzgl. Alterserhöhung von 24 EUR). 4. Die Gewährung einer Ausgleichsrente ab den 1.1.2009 an Frau N. prüft das Versorgungsamt von Amts wegen. 5. Mögliche – auch rückwirkende – Ansprüche auf Zahlungen nach dem Berufsschadensausgleich sind durch diesen Vergleich nicht geregelt. 6. Beide Parteien tragen ihre außergerichtlichen Kosten selbst."

Die Beklagte erließ daraufhin einen Ausführungsbescheid vom 23. Juni 2009, mit dem sie als Schädigungsfolge eine "Psychoreaktive Störung", hervorgerufen durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 3 VwRehaG, anerkannte. Sie stellte ab 1. Januar 2009 einen GdS von 50 fest und bewilligte Heilbehandlung sowie ab 1. Januar 2009 eine Ausgleichsrente. Die Höhe der Versorgungsbezüge (Grundrente einschließlich Alterserhöhung und Ausgleichsrente) betrugen 292 EUR ab 1. Januar 2009 bzw. 299 EUR ab 1. Juli 2009. Aufgrund des Widerspruchs der Klägerin gegen den Ausführungsbescheid vom 23. Juni 2009 hinsichtlich der bezeichneten Schädigungsfolge wurde diese mit Abhilfebescheid vom 28. August 2009 in "Posttraumatische Belastungsstörung" geändert.

Den von der Klägerin bereits während des laufenden Gerichtsverfahrens am 7. November 2007 gestellten Antrag auf Gewährung eines Berufsschadensausgleichs sowie Höherbewertung des GdS wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 24. Juni 2009 ab. Sie führte aus, die Voraussetzungen eines Berufsschadensausgleichs nach § 30 Abs. 3 ff. Bundesversorgungsgesetz (BVG) seien nicht erfüllt, da das VwRehaG zum 1. Juli 1994 in Kraft getreten sei, die Klägerin aber bereits seit dem 1. Juni 1990 Altersrente beziehe. Sie sei daher schon am Tag des Inkrafttretens des VwRehaG regulär aus dem Erwerbsleben ausgeschieden gewesen, sodass ihr zu diesem Zeitpunkt ein schädigungsbedingter Einkommensverlust nicht entstanden sei. Auch eine Höherbewertung des GdS wegen besonderer beruflicher Betroffenheit sei abzulehnen, da ein schädigungsbedingtes vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben nicht erfolgt sei.

Auf den Widerspruch der Klägerin gewährte die Beklagte der Klägerin mit Abhilfebescheid vom 14. Juni 2010 einen Berufsschadensausgleich ab 1. Juli 1994, wobei sie als Vergleichseinkommen den Verdienst im Industriebereich "Handel, Instandhaltung und Reparatur von Kraftfahrzeugen und Gebrauchsgütern" in der Leistungsgruppe 3 für Frauen zugrunde legte. Die Höhe der Versorgungsbezüge belief sich ab 1. Juli 2010 auf insgesamt 616 EUR (Grundrente einschließlich Alterserhöhung, Ausgleichsrente sowie Berufsschadensausgleich). Die Nachzahlung betrug 47.651,37 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 13.648,80 EUR.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin erneut Widerspruch ein: Die Klägerin sei als Leiterin der Materialbuchhaltung in der Z. "V." in G. mindestens in die Leistungsgruppe 2 einzustufen. Sie habe dort Mitarbeiter geleitet und sei weisungsbefugt gewesen. Bei der Z. habe es sich um eine auf Bautätigkeit ausgerichtete Wirtschaftseinheit gehandelt, sodass der Industriebereich "Baugewerbe" maßgebend sei. Des Weiteren stelle es eine nicht hinzunehmende Ungleichbehandlung dar, dass zwischen der statistischen Einstufung für Männer und Frauen eine Lücke von 345 EUR klaffe. Auch fehle die Anerkennung einer besonderen beruflichen Betroffenheit.

Mit Widerspruchsbescheid vom 30. Mai 2013 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück: Die Einstufung in die Leistungsgruppe 3 (Arbeitnehmer mit Berufsausbildung) sei unter Berücksichtigung ihres Berufsweges zutreffend. Die Klägerin habe nach einer längeren Zeit als ungelernte Kraft die Facharbeiterausbildung absolviert. Es sei nicht ersichtlich, dass sie ohne die schädigenden Ereignisse eine Tätigkeit ausgeübt hätte, welche die Voraussetzungen für die Leistungsgruppe 2 (Berufsausbildung und sehr schwierige Tätigkeiten) erfülle. Soweit sie dies mit ihrer Tätigkeit als Leiterin der Materialbuchhaltung begründe, sei auch dort das Maß der Verantwortung und Schwierigkeit der Tätigkeiten nicht so hoch gewesen, dass sich diese deutlich von jener abgehoben hätten, die mit einer Facharbeiter-Ausbildung regelmäßig zu erwarten seien. Hierfür spreche auch, dass sie in die Lohngruppe A5 bzw. A6 eingestuft gewesen sei, was einem mittleren Gehaltsniveau entspreche. Zutreffend sei auch die Zugrundelegung des Industriebereichs "Handel; Instandhaltung und Reparatur von Kraftfahrzeugen und Gebrauchsgütern", da dies die kleinste Gliederungseinheit darstelle. Der Umstand der Ungleichbehandlung von Männern und Frauen beruhe auf der im Entscheidungszeitpunkt geltenden Gesetzeslage, die ihre Ursache in der statistisch nachgewiesenen unterschiedlichen Bezahlung von Männern und Frauen habe. Eine geänderte Rechtslage bestehe erst für Fälle eines ab 1. Juli 2011 beantragten Berufsschadensausgleichs. Schließlich sei auch eine Höherbewertung des GdS wegen besonderer beruflicher Betroffenheit zu Recht abgelehnt worden. Eine besondere berufliche Betroffenheit könne zwar erstmalig auch nach dem Ende des Berufslebens zuerkannt werden. Dafür müssten aber die Schädigungsfolgen den Betroffenen gezwungen haben, sein von Schädigungsfolgen weitgehend unbeeinflusstes Erwerbsleben aufzugeben. Dies sei hier nicht ersichtlich. Zwar sei sie nach Einreise in die Bundesrepublik abgesehen von einer zwölfmonatigen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung weitgehend arbeitslos gewesen, hierfür dürften aber hauptsächlich die Gegebenheiten des Arbeitsmarktes ursächlich gewesen sein.

Mit ihrer am 26. Juni 2013 erhobenen Klage hat die Klägerin weiterhin die Einstufung in die Leistungsgruppe 2 und in den Industriebereich "Baugewerbe" begehrt und sich gegen die Anwendung des Vergleichseinkommens für Frauen gewendet. Ebenso hat sie weiterhin eine Höherbewertung des GdS wegen besonderer beruflicher Betroffenheit geltend gemacht. Sie hat darauf hingewiesen, dass sie im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses, nämlich ihrer 1978 erfolgten Verhaftung, bereits als Leiterin der Materialbuchhaltung in der Z. gearbeitet habe, sodass die von der Beklagten zugrunde gelegte Tätigkeit beim V. Kfz-Instandhaltungsbetrieb W. nicht maßgeblich sein könne. Die Merkmale dieser Tätigkeit hätten sich ausweislich des vorliegenden Funktionsplanes deutlich von der Bewertung einer Tätigkeit in der Leistungsgruppe 3 abgehoben. Zum Beweis dieser Tatsache werde beantragt, ein Sachverständigengutachten einzuholen. Dass sich die Beklagte trotz Beseitigung der noch im Antragszeitpunkt geltenden Ungleichbehandlung der Einkommen von Männern und Frauen hierauf stütze, verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz. Die Einstufung in den Industriebereich nach Zeile 20 der maßgeblichen Tabelle statt in Zeile 1 sei nicht nachvollziehbar, denn beide Zeilen seien mit gleichlautenden Bezeichnungen ("Handel; Instandhaltung und Reparatur von Kraftfahrzeugen und Gebrauchsgütern") überschrieben. Hinzu komme, dass die Z. ausschließlich für bauliche Aufgaben wie die Verlegung von Melioratonsdrainagen sowie die Errichtung von Gebäuden der LPG und von Mitgliedern zuständig gewesen sei. Auch die besondere berufliche Betroffenheit sei zu Unrecht verneint worden, denn es stehe fest, dass die Klägerin durch die Einflussnahme des MfS so schikaniert worden sei, dass sie ihre aussichtsreiche Tätigkeit als Leiterin der Materialbuchhaltung habe aufgeben müssen. Ferner verkenne die Beklagte, dass die Klägerin aufgrund ihrer posttraumatischen Belastungsstörung trotz der Qualifizierungsmaßnahmen nach ihrer Übersiedlung keine entsprechenden Tätigkeiten habe ausüben können. Die Behauptung, hierfür seien die Gegebenheiten des Arbeitsmarktes ursächlich gewesen, sei nicht ansatzweise durch Tatsachen untermauert worden.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 29. Juli 2015 abgewiesen und sich zur Begründung auf den angefochtenen Widerspruchsbescheid bezogen. Ergänzend hat es ausgeführt, dass die Beklagte zutreffend bei der Bestimmung des Ausgangsberufs von der Beschäftigung im V. Kfz-Instandhaltung W. ausgegangen sei. Hierbei handele es sich um eine Tätigkeit, die den Merkmalen der Leistungsgruppe 3 entspreche. Die Beschäftigung als Leiterin der Materialbuchhaltung in der Z. G. habe dagegen schon weit nach Beginn der schädigenden Ereignisse gelegen. Allerdings entspreche auch diese Tätigkeit nicht der Leistungsgruppe 2. Die Beklagte habe auch zutreffend den maßgeblichen Industriebereich bestimmt und das Vergleichseinkommen für Frauen herangezogen. Das System des Berufsschadensausgleichs sei von einer weitgehenden Typisierung und Pauschalierung geprägt und orientiere sich an den tatsächlichen Verhältnissen im Erwerbsleben. Es sei nicht Ziel des Berufsschadensausgleichs, eine bestehende tarifliche Ungleichbehandlung von Männern und Frauen auszugleichen. Schließlich komme auch eine Höherbewertung des GdS wegen besonderer beruflicher Betroffenheit nicht in Betracht, denn ein schädigungsbedingtes Ende des Erwerbslebens lasse sich bei der Klägerin nicht nachweisen. Die Klägerin sei ab 1981 nicht erwerbsunfähig, sondern arbeitslos gewesen und habe dem Arbeitsmarkt daher zur Verfügung gestanden.

Mit ihrer am 20. August 2015 eingelegten Berufung macht die Klägerin weiterhin geltend, dass sie hinsichtlich des Ausgangsberufs in die Leistungsgruppe 2 einzustufen sei. Zwar hätten die Verfolgungsmaßnahmen 1968 begonnen, ihre posttraumatische Belastungsstörung sei jedoch durch ihre Entführung und Verhaftung durch das MfS am 18. Oktober 1978 ausgelöst worden. Zu diesem Zeitpunkt habe sie als Leiterin der Materialbuchhaltung für die Z. G. gearbeitet und sei für fünfzehn Mitarbeiter verantwortlich gewesen. Auch aus dem im erstinstanzlich eingereichten Funktionsplan ergebe sich die Anwendbarkeit der Leistungsgruppe 2. Der von der Beklagten zugrunde gelegte Industriebereich sei weiterhin nicht nachvollziehbar. Die Zugrundelegung eines niedrigeren Einkommens für Frauen verstoße außerdem gegen Art. 3 Abs. 2 Grundgesetz. Auch die Ablehnung einer besonderen beruflichen Betroffenheit sei unzutreffend erfolgt. Die Klägerin sei aufgrund ihrer Schädigung im Jahre 1978 in ihrer beruflichen Fortentwicklung entscheidend gehindert worden. Zwar habe sie sich nach ihrer Übersiedlung um eine Qualifizierung bemüht, sie sei nach deren Abschluss aber gesundheitlich nicht mehr in der Lage gewesen, einer entsprechenden Tätigkeit nachzugehen.

Die Klägerin beantragt nach Lage der Akten,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 29. Juli 2015 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 24. Juni 2009 in Gestalt des Bescheides vom 14. Juni 2010 und des Widerspruchsbescheides vom 30. Mai 2013 abzuändern sowie die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin höhere Versorgungsbezüge unter Berücksichtigung eines höheren Berufsschadensausgleichs sowie einer Höherbewertung des Grades der Schädigung wegen besonderer beruflicher Betroffenheit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie trägt vor, es könne letztlich dahin stehen, zu exakt welchem Zeitpunkt die Schädigung eingetreten sei bzw. ob man eine Beurteilung im Rahmen der Gesamtschau vornehme. Dies ändere nichts an der Einstufung in die Leistungsgruppe 3, denn selbst die Tätigkeit als Leiterin der Materialbuchhaltung erfülle nicht die Anforderung für eine Einstufung in die nächsthöhere Gruppe. Hinsichtlich der Anwendung des Industriebereichs werde auf die bisherigen Ausführungen Bezug genommen. Soweit sich die Klägerin gegen die Heranziehung eines unterschiedlichen Vergleichseinkommens für Männer und Frauen wende, stelle die Anwendung der zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt geltenden Vorschriften keine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung dar. Schließlich sei eine besondere berufliche Betroffenheit zu Recht verneint worden, da sich kein schädigungsbedingtes Ende der beruflichen Tätigkeit nachweisen lasse.

Die Klägerin ist nach einer Bescheinigung der Freien und Hansestadt H. vom 20. März 2013 "ohne festen Wohnsitz" in H. registriert. Der von ihr zunächst bevollmächtigte Rechtsanwalt L. hat seine Berufstätigkeit zum 1. Januar 2018 wegen Eintritts in den Ruhestand beendet.

Der Senat hat in seiner mündlichen Verhandlung am 27. Februar 2018 Beweis erhoben durch Vernehmung des berufskundigen Sachverständigen M ... Wegen des Inhalts der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte sowie die in der Sitzungsniederschrift aufgeführten Akten, die zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist statthaft, form- und fristgerecht eingelegt und auch sonst zulässig (§§ 143, 151 SGG). Dem steht nicht entgegen, dass die Klägerin zunächst nur eine Postfachanschrift angegeben hat. Zwar setzt ein zulässiges Rechtsschutzbegehren im Regelfall voraus, dass dem Gericht eine Wohnanschrift bekannt gegeben wird (BSG, Beschluss vom 18.11.2003 – B 1 KR 1/02 S – Juris). Allerdings entfällt diese Pflicht, wenn ihre Erfüllung unmöglich oder unzumutbar ist, was insbesondere dann der Fall ist, wenn der Kläger glaubhaft über eine solche Anschrift nicht verfügt (BVerwG, Urteil vom 13.04.1999 – 1 C 24/97 – Juris, Rn. 40). Dies ist hier aufgrund der Bescheinigung der Freien und Hansestadt H. vom 20. März 2013 über die Registrierung der Klägerin "ohne festen Wohnsitz" der Fall. Zwischenzeitliche Änderungen sind nicht ersichtlich. Zudem kann ihr Post über die Anschrift ihres Sohnes übersandt werden.

Die Berufung ist zum Teil auch begründet. Der Klägerin steht ein höherer Berufsschadens-ausgleich unter Zugrundelegung der Leistungsgruppe 2 und des Industriebereichs "Baugewerbe" zu. Die Heranziehung des maßgeblichen Vergleichseinkommens für Frauen ist dagegen rechtlich nicht zu beanstanden (1.). Auch eine Höherbewertung des GdS wegen besonderer beruflicher Betroffenheit kommt nicht in Betracht (2.).

1. Rechtsgrundlage für den Berufsschadensausgleich sind vorliegend die §§ 1 und 3 VwRehaG i.V.m. § 30 Abs. 3ff. BVG. Gemäß § 1 Abs. 1 S. 1 VwRehaG ist die hoheitliche Maßnahme einer deutschen behördlichen Stelle zur Regelung eines Einzelfalls im Beitrittsgebiet, die zu einer gesundheitlichen Schädigung, einem Eingriff in Vermögenswerte oder einer beruflichen Benachteiligung geführt hat, auf Antrag aufzuheben, soweit sie mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates schlechthin unvereinbar ist und ihre Folgen noch unmittelbar schwer und unzumutbar fortwirken. Bei hoheitlichen Maßnahmen, die nicht auf die Herbeiführung einer Rechtsfolge gerichtet sind, tritt an die Stelle der Aufhebung der Maßnahme die Feststellung ihrer Rechtsstaatswidrigkeit (§ 1 Abs. 5 VwRehaG). Auf dieser Grundlage hat das gemäß § 12 Abs. 1 und Abs. 4 S. 1 VwRehaG zuständige Amt für Rehabilitierung und Wiedergutmachung M1 mit Bescheid vom 20. März 1998 die dort näher bezeichneten Maßnahmen des MfS für rechtsstaatswidrig erklärt. Gemäß § 3 Abs. 1 S. 1 VwRehaG erhält ein Betroffener, der infolge einer Maßnahme nach § 1 eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen dieser Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung des BVG. Die hierfür zuständige Beklagte (§ 12 Abs. 4 S. 2 VwRehaG) hat der Klägerin dementsprechend Versorgungsleistungen bewilligt, wobei die Höhe des ab 1. Juli 1994 gewährten Berufsschadensausgleichs streitig ist.

Soweit Übergangsregelungen nicht vorhanden sind, ist der Fall zeitabschnittsbezogen anhand der jeweils geltenden Gesetzesfassungen zu überprüfen, die seit dem ersten Entstehen des Anspruchs galten (LSG Bayern, Urteil vom 26.04.2012 – L 15 VS 2/06 – Juris). Nach den – soweit es für den Streitgegenstand erheblich ist – im Wesentlichen gleichgebliebenen Rechtsvorschriften erhalten rentenberechtigte Beschädigte, deren Einkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit durch die Schädigungsfolgen gemindert ist, wegen des Einkommensverlusts einen Berufsschadensausgleich (§ 30 Abs. 3 BVG). Einkommensverlust ist der Unterschiedsbetrag zwischen dem derzeitigen Bruttoeinkommen aus gegenwärtiger oder früherer Tätigkeit zuzüglich der Ausgleichsrente (derzeitiges Einkommen) und dem höheren Vergleichseinkommen (§ 30 Abs. 4 S. 1 BVG). Das Vergleichseinkommen errechnet sich aus dem monatlichen Durchschnittseinkommen der Berufs- oder Wirtschaftsgruppe, der der Beschädigte ohne die Schädigung nach seinen Lebensverhältnissen, Kenntnissen und Fähigkeiten und dem bisher betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen wahrscheinlich angehört hätte (§ 30 Abs. 5 S. 1 BVG). Zur Ermittlung des Vergleichseinkommens, also des Einkommens, das der Beschädigte ohne die Schädigung wahrscheinlich erzielt hätte, sind die Vorschriften der Berufsschadensausgleichsverordnung (BSchAV) in der jeweils geltenden Fassung zu berücksichtigen. Für Beschädigte, die – wie die Klägerin – unselbständig in der Privatwirtschaft tätig wären, wird das Durchschnittseinkommen nach § 3 BSchAV ermittelt (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 BSchAV in der bis zum 30.06.2011 geltenden Fassung, a.F.). Nach § 3 Abs. 1 Nr. 4 BSchAV a.F. sind bei Angestellten in der Industrie, im Handel, von Kreditinstituten und im Versicherungsgewerbe der in Betracht kommende Wirtschaftsbereich entsprechend der Systematik, die den statistischen Erhebungen zugrunde liegt, die Beschäftigung als kaufmännischer oder technischer Angestellter und die Leistungsgruppe II, III, IV oder V maßgebend. Als Wirtschaftsbereich gilt dabei die jeweils ausgewiesene kleinste Gliederungseinheit nach der Systematik, die den statistischen Erhebungen zugrunde liegt (§ 3 Abs. 1 S. 3 BSchAV a.F.). Das Durchschnittseinkommen wird nach Maßgabe der Werte der Erhebungen des Statistischen Bundesamtes durch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung ermittelt und im Bundesanzeiger bekanntgegeben (§ 30 Abs. 5 S. 9 BVG in der bis zum 30.06.2011 geltenden Fassung).

Soweit sich das Vergleichseinkommen seit dem 1. Juli 2011 ausnahmslos nur noch aus dem Beamtenbesoldungsgesetz ergibt (§ 30 Abs. 5 S. 2 BVG in der ab 01.07.2011 geltenden Fassung), ist dies für den vorliegenden Fall nicht erheblich, denn nach der Übergangsvorschrift des § 87 Abs. 1 S. 1 BVG gilt dies nicht für vor der Rechtsänderung beantragte Leistungen.

a) Für die Feststellung des für die Klägerin geltenden Vergleichseinkommens ist also in einem ersten Schritt zu ermitteln, welche berufliche Position ("Hätte-Beruf") sie ohne die Schädigung und ihre Folgen wahrscheinlich erreicht hätte (Dau in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, § 30 Rn. 31, 32). Regelmäßig ist dabei von dem Beruf auszugehen, aus dem der Beschädigte seinerzeit durch die Schädigung verdrängt worden ist, einschließlich der Entwicklung, die ein Nichtbeschädigter in diesem Beruf wahrscheinlich genommen hätte. Wahrscheinlichkeit bedeutet, dass nach den objektiven Umständen mehr für als gegen den hypothetischen Berufserfolg spricht; die bloße Möglichkeit eines beruflichen Aufstiegs genügt also nicht (BSG, Urteil vom 15.09.1988 – 9/9a RV 50/87 – Juris).

Schädigendes Ereignis waren nach dem von den Beteiligten geschlossenen Vergleich vom 19./20. März 2009 die in den Jahren 1968 – 1980 durch den Staatssicherheitsdienst der DDR durchgeführten Verfolgungsmaßnahmen, die in ihrer Gesamtheit das psychische Leiden der Klägerin verursacht haben. Dies entspricht auch den Feststellungen des Amtes für Rehabilitierung und Wiedergutmachung im Bescheid vom 20. März 1998 sowie dem im Verfahren L 4 VU 1/06 eingeholten Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. Lorenzen vom 3. August 2007. Dieser hat ausgeführt, dass sich die Klägerin während eines mehrjährigen Zeitraums in einer andauernden psychischen Belastungssituation befunden habe, die zunehmend zu einer Einschränkung ihrer Erlebnis- und Gestaltungsmöglichkeiten geführt habe. Die eingetretenen Gesundheitsstörungen beruhten auf einem Gesamtkomplex von umfassenden Beeinträchtigungen, denen die Klägerin durch den staatlichen Machtapparat der DDR ausgesetzt gewesen sei. Ausgangstatsachen seien daher die Verhaftung 1978 und die weiteren sich wechselseitig verstärkenden Umstände zwischen 1968 und 1981.

b) Hiervon ausgehend kommt es unter Berücksichtigung ihres beruflichen Werdeganges darauf an, wie sich dieser ohne die Gesamtheit dieser Schädigungen voraussichtlich weiter entwickelt hätte. Als Ausgangsberuf ist dabei die Tätigkeit der Klägerin als Leiterin der Materialbuchhaltung in der Z. "V." anzusehen, denn erst nach deren Beendigung kam es zu einem erkennbaren Bruch in ihrem beruflichen Werdegang, indem sie bis zu ihrer Ausreise nur noch ungelernte Tätigkeiten ausübte. Der Beklagten ist allerdings darin zuzustimmen, dass bereits die Beendigung ihrer Tätigkeit im V. Kfz-Instandhaltung W. auf die bis dahin erlebten Verfolgungsmaßnahmen zurückzuführen sein dürfte. Aus den vorliegenden Berichten und Vermerken über die Klägerin aus damaliger Zeit geht hervor, dass sie dort erheblichen Repressalien in Form von Überwachungen, ausgeübtem Druck auf ihr Verhalten bis hin zu innerbetrieblichen Umsetzungen ausgesetzt war, die nach der Stellung ihres Ausreiseantrages im August 1976 nochmals deutlich zunahmen. Diese Maßnahmen führten dazu, dass sie den Betrieb schließlich aufgrund eigener Kündigung verließ.

Ein beruflicher Abstieg war hiermit jedoch zunächst nicht verbunden. Vielmehr gelang es der Klägerin, bereits im Januar 1977 eine zumindest gleichwertige Beschäftigung als Materialbuchhalterin in der Z. aufzunehmen. Diese Tätigkeit hat sie offenbar auch erfolgreich ausgeübt, denn sie stieg in der Folgezeit sogar zur Leiterin der Materialbuchhaltung auf. Erst danach kam es zu einem offensichtlichen Bruch in ihrem Erwerbsleben, denn sie übte ab Ende 1979 bis zur ihrer Ausreise 1981 nur noch ungelernte Tätigkeiten als Postzustellerin und Küchenhilfe aus. Auch in der Bundesrepublik gelang ihr abgesehen von einer einjährigen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung keine berufliche Eingliederung mehr. Der Umstand, dass die Verfolgungsmaßnahmen bereits zur Aufgabe der Tätigkeit im V. Kfz-Instandhaltung W. führten, ändert somit nichts daran, dass sich ein schädigungsbedingter beruflicher Abstieg erst später – möglicherweise als Folge der im Oktober 1978 erfolgten Verhaftung – realisiert hat.

Der erkennende Senat folgt dem berufskundigen Sachverständigen M. in seiner Einschätzung, dass die Klägerin ohne die Verfolgungsmaßnahmen in diesem Berufsbereich auf etwa gleichem Niveau geblieben wäre. Für einen weiteren beruflichen Aufstieg gibt es ebenso wenig Anhaltspunkte wie für einen auch schädigungsunabhängigen Abstieg.

c) Der Senat schließt sich ebenfalls der Einschätzung des Sachverständigen an, dass für die Tätigkeit als Leiterin der Materialbuchhaltung die (heutige) Leistungsgruppe 2 bzw. die alte Leistungsgruppe III zugrunde zu legen ist.

Die Leistungsgruppen ergeben sich für die Zeit ab 1. Juli 2009 aus dem Rundschreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 19. Juni 2009 (IV c 2 – 61080/27). Die von der Beklagten zugrunde gelegte Leistungsgruppe 3 betrifft "Arbeitnehmer mit Berufsausbildung" und entspricht nach ausdrücklicher Klarstellung der früheren, bis zum 30. Juni 2009 maßgeblichen Leistungsgruppe IV. Die Leistungsgruppe 2 betrifft demgegenüber "Arbeitnehmer mit Berufsausbildung und sehr schwierigen Tätigkeiten" und entspricht der alten Leistungsgruppe III. Die bis zum 30. Juni 2009 geltenden Leistungsgruppen ergaben sich aus dem Rundschreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 25. Oktober 1960 (zitiert nach: LSG Bayern, Urteil vom 26.04.2012, a.a.O.) und entsprechen den Definitionen der Anlage 1 zum Fremdrentengesetz. Aufgrund der ausdrücklichen Bezugnahmen auf die alten Leistungsgruppen können deren Definitionen auch für die Zeit ab 1. Juli 2009 herangezogen werden. Die Leistungsgruppe IV der Angestellten (heutige Leistungsgruppe 3) war wie folgt definiert: "Angestellte ohne eigene Entscheidungsbefugnis in einfacher Tätigkeit, deren Ausübung eine abgeschlossene Berufsausbildung oder durch mehrjährige Berufstätigkeit, den erfolgreichen Besuch einer Fachschule oder durch privates Studium erworbene Fachkenntnisse voraussetzt. Außerdem Angestellte, die als Aufsichtspersonen einer kleineren Zahl von überwiegend ungelernten Arbeitern vorstehen, sowie Hlifsmeister, Hilfswerkmeister oder Hilfsrichtmeister." Die Leistungsgruppe III (heutige Leistungsgruppe 2) war wie folgt beschrieben: "Angestellte mit mehrjähriger Berufserfahrung oder besonderen Fachkenntnissen und Fähigkeiten oder mit Spezialtätigkeiten, die nach allgemeiner Anweisung selbständig arbeiten, jedoch keine Verantwortung für die Tätigkeit anderer tragen. Außerdem Angestellte mit qualifizierter Tätigkeit, die die fachlichen Erfahrungen eines Meisters, Richtmeisters oder Gießereimeisters aufweisen, bei erhöhter Verantwortung größeren Abteilungen vorstehen und denen Aufsichtspersonen oder Hilfsmeister unterstellt sind."

Der berufskundige Sachverständige M. hat für den Senat überzeugend dargelegt, dass die Klägerin als Leiterin der Materialbuchhaltung auch sehr schwierige Tätigkeiten verrichtet hat, die über die üblichen Anforderungen an eine Berufstätigkeit mit Berufsausbildung hinausgingen. Er hat hierzu ausgeführt, dass es sich bei der Materialbuchhaltung nicht um eine klassische Lohn- oder Finanzbuchhaltung, sondern eher um Lager-, Verbrauchs- und Materialverwaltung gehandelt habe. Nach dem maßgeblichen Funktionsplan habe die Klägerin zwar zahlreiche Routineaufgaben, aber auch Leitungs- und Führungsaufgaben zu verrichten gehabt. Sie habe Mitarbeiter angeleitet, die Nachweisführung organisiert und sei für ihren Bereich verantwortlich und rechenschaftspflichtig gewesen. Gerade diese Kriterien – besondere Verantwortlichkeit, Rechenschaftspflicht, Organisation und Mitarbeiterführung – würden die Tätigkeit der Klägerin aus einer normalen Berufstätigkeit mit Berufsausbildung herausheben.

Diese Einschätzung wird durch das von der Klägerin als Leiterin der Materialbuchhaltung bezogene Gehalt gestützt, denn dieses liegt deutlich über ihren früheren Verdiensten und ist somit ein Indiz für die Verrichtung von herausgehobenen Tätigkeiten. So hat sie für ihre Arbeit im V. Kfz-Instandhaltung W., die bereits auf einer Berufsausbildung beruhte, im Jahr 1975 insgesamt 6.391,40 Mark und im Jahr 1976 insgesamt 5.385 Mark erhalten, wobei die Reduzierung Folge der innerbetrieblichen Repressalien und Umsetzungen gewesen sein dürfte. In der Z. hat sie bereits 1977 für ihre Tätigkeit als Materialbuchhalterin einen Gesamtverdienst von 6.912,04 Mark erhalten, was dafür spricht, dass bereits diese Tätigkeit einen beruflichen Aufstieg dargestellt hat. Soweit sie 1978 für ihre Tätigkeit als Leiterin der Materialbuchhaltung insgesamt nur 3.868,29 Mark erhalten hat, ist dies kein Beleg für eine Rückstufung, die im Übrigen weder mit der Bezeichnung als Leiterin noch mit dem Inhalt des Funktionsplans vereinbar wäre, denn sie hat 1979 bei gleicher Tätigkeit für nur etwa 6,5 Monate insgesamt 4.179,02 Mark und damit auf den Monat umgerechnet ein deutlich höheres Gehalt als jemals zuvor erzielt. Es ist vielmehr wahrscheinlich, dass die auf ihre Verhaftung folgenden Arbeitsunfähigkeitszeiten zu dem niedrigeren Gehalt in 1978 geführt haben, wofür auch spricht, dass die Klägerin selbst neben dem entsprechenden Eintrag im Sozialversicherungsheft handschriftlich vermerkt hat: "Entführung durch Stasi, 119 Tage muss ich voll bezahlt bekommen".

Die Beurteilung wird schließlich gestützt durch die Definition zur alten Leistungsgruppe III. Die dort genannten Merkmale ("Angestellte mit mehrjähriger Berufserfahrung oder besonderen Fachkenntnissen und Fähigkeiten oder mit Spezialtätigkeiten, die nach allgemeiner Anweisung selbständig arbeiten, jedoch keine Verantwortung für die Tätigkeit anderer tragen") hatte die Klägerin nach ihrem beruflichen Werdegang und dem vorliegenden Funktionsplan erfüllt. Ihre Tätigkeit ging sogar zum Teil noch darüber hinaus, denn – wie der berufskundige Sachverständige dargelegt hat – trug sie sogar Verantwortung für die Tätigkeit anderer, denn sie hatte Leitungs- und Führungsaufgaben inne und war für bestimmte Bereiche verantwortlich und rechenschaftspflichtig. Soweit in dem zweiten Halbsatz außerdem Angestellte mit den fachlichen Erfahrungen eines Meisters genannt werden, handelt es sich dabei nicht um ein unabdingbares Kriterium, sondern nur um eine weitere Möglichkeit, die Voraussetzungen zu erfüllen, wie die Verwendung des Begriffs "außerdem" zeigt.

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass in den Beispielsberufen der Anlage 1 zum Fremdrentengesetz die Buchhalterin (Alter 30-45 Jahre) in der Leistungsgruppe III (alt) aufgeführt ist, wobei keine Beschränkung auf Lohn- oder Finanzbuchhaltung erfolgt ist. Allerdings handelt es sich dabei allenfalls um ein Indiz, denn die Beispielsberufe finden sich in den Leistungsgruppenbeschreibungen für das soziale Entschädigungsrecht nicht und sind somit nicht unmittelbar anwendbar (BSG, Urteil vom 20.11.1970 – 10 RV 795/68 – Juris).

d) Die Zugrundelegung des Industriebereichs "Baugewerbe" nach der "Tabelle 2 – 2009, Vergleichseinkommen für Frauen im Produzierenden Gewerbe, Handel, Dienstleistungsgewerbe nach Leistungsgruppen" (zuletzt: Bekanntmachung der Vergleichseinkommen für die Feststellung der Berufsschadens- und Schadensausgleiche nach dem Bundesversorgungsgesetz für die Zeit vom 1. Juli 2009 an, BAnz AT 05.12.2016 B1) ergibt sich daraus, dass die Klägerin ihre Tätigkeit als Leiterin der Materialbuchhaltung in einem Baubetrieb ausgeübt hat und keine Anhaltspunkte dafür bestehen, ob – und ggf. in welchen Bereich – sie ohne die Schädigungsfolgen gewechselt hätte.

e) Entgegen der Auffassung der Klägerin ist es jedoch nicht zu beanstanden, dass die Beklagte das Vergleichseinkommen für Frauen herangezogen hat. Es trifft zwar zu, dass hierdurch für Bezieherinnen von vor dem 1. Juli 2011 beantragten Leistungen (§ 87 Abs. 1 S. 1 BVG) die ungleiche Behandlung von Männern und Frauen im Arbeitsleben im Bereich des Versorgungsrechts fortgeschrieben wurde. Andererseits bildete dies die real bestehenden Verdienstunterschiede zwischen Männern und Frauen zutreffend ab (Dau, a.a.O., § 30 BVG, Fußnote 75) und der Berufsschadensausgleich dient gerade dem Ausgleich des durch die Schädigung tatsächlich erlittenen Einkommensnachteiles. Vor diesem Hintergrund mag die Regelung rechtspolitisch kritikwürdig gewesen sein, eine sachlich nicht gerechtfertigte und damit verfassungswidrige Ungleichbehandlung ist darin jedoch nicht zu sehen, zumal dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung von Sozialleistungen grundsätzlich ein weiter Spielraum zusteht.

2. Die Voraussetzungen für eine Höherbewertung des GdS wegen besonderer beruflicher Betroffenheit sind nicht erfüllt. Nach § 30 Abs. 2 S. 1 BVG ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit höher zu bewerten, wenn der Beschädigte durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem vor der Schädigung ausgeübten oder begonnenen Beruf, in seinem nachweisbar angestrebten oder in dem Beruf besonders betroffen ist, den er nach Eintritt der Schädigung ausgeübt hat oder noch ausübt. Aus dem Begriff der beruflichen Betroffenheit wird gefolgert, dass eine Höherbewertung des GdS grundsätzlich nur für die Zeit beruflicher Tätigkeit, also während des Erwerbslebens in Betracht kommt (BSG, Urteil vom 24.06.1998 – B 9 V 1/97 R – Juris). Die Klägerin war jedoch zum Zeitpunkt der Antragstellung im Jahr 1994 bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschieden, da sie bereits ab Juni 1990 Altersrente bezog.

Die besondere berufliche Betroffenheit kann aber erstmalig auch noch nach dem Ende des Berufslebens zuerkannt werden, wenn Schädigungsfolgen den Betroffenen gezwungen haben, sein ohne höherbewerteten GdS verbrachtes, von Schädigungsfolgen also weitgehend unbeeinflusstes Erwerbsleben aufzugeben. Eine solche schädigungsbedingte Verkürzung lässt sich umso schwerer feststellen, je älter der Beschädigte ist. Die Rechtsprechung nimmt an, dass sich ein schädigungsbedingtes Ende beruflicher Tätigkeiten nach dem 60. Lebensjahr regelmäßig nicht mehr nachweise lasse, weil etwa von da an auch unbeschädigte Erwerbstätige aus den verschiedensten Motiven ihr Arbeitsleben beenden (BSG, Urteil vom 12.12.1995 – 9 RV 9/95; BSG, Urteil vom 18.05.2006 – B 9a V 6/05 R – beide Juris; Dau, a.a.O., § 30 BVG, Rn. 17, 18). Da die Klägerin beim Ausscheiden aus dem Erwerbsleben bereits 60 Jahre alt war, kommt die Anerkennung einer besonderen beruflichen Betroffenheit unter diesem Gesichtspunkt nicht in Betracht.

Ausnahmsweise kommt jedoch eine Erhöhung des GdS nach § 30 Abs. 2 BVG auch bei Beschädigten, die die Gewährung von Versorgung erstmals nach ihrem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben beantragt haben, in Betracht, wenn die Schädigungsfolgen zu einer wirtschaftlichen Einbuße bei der Altersversorgung geführt haben. Dies gilt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts insbesondere für den Fall, dass der Betroffene in seiner Altersversorgung um etwa 20 % schlechter gestellt ist, als er ohne die Schädigungsfolgen gestellt wäre. Dabei ist zu prüfen, ob sich eine schädigungsbedingte Einkommensverminderung während des Erwerbslebens feststellen lässt und sodann, ob diese Auswirkungen auf die Rentenhöhe hat (BSG, Urteil vom 24.03.1977 – 10 RV 41/76; BSG, Urteil vom 24.06.1998 – B 9 V 1/97 R – beide Juris).

Vorliegend dürfte sich der Umstand, dass die Klägerin nach ihrer Übersiedlung nur ein Jahr lang sozialversicherungsrechtlich beschäftigt und ansonsten bis zum Rentenbeginn arbeitslos war, negativ auf ihre Rentenhöhe ausgewirkt haben. Dies würde aber nur dann zur Anerkennung einer besonderen beruflichen Betroffenheit führen, wenn die Arbeitslosigkeit als Schädigungsfolge anzusehen wäre. Dies ist jedoch nicht einmal wahrscheinlich. Vielmehr hat der berufskundige Sachverständige insoweit nachvollziehbar und überzeugend ausgeführt, dass der Arbeitsmarkt Anfang der Achtzigerjahre denkbar schlecht gewesen und somit maßgeblich verantwortlich dafür gewesen sei, dass die Klägerin keinen Arbeitsplatz mehr gefunden habe. Es habe eine hohe Arbeitslosenquote gegeben und es seien viele Arbeitnehmer entlassen worden. Dies habe insbesondere Arbeitnehmer betroffen, die – wie die Klägerin – bereits über 50 Jahre alt gewesen seien.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

4. Der Senat hat die Revision gegen das Urteil nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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