L 2 U 16/17

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
-
Aktenzeichen
S 36 U 77/15
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 2 U 16/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Landessozialgericht Hamburg

Urteil Im Namen des Volkes In dem Rechtsstreit

hat der 2. Senat des Landessozialgerichts Hamburg auf die mündliche Verhandlung vom 28. August 2019 durch

den Präsidenten des Landessozialgerichts Siewert, den Richter am Landessozialgericht Harms, die Richterin am Landessozialgericht Dr. Giere, den ehrenamtlichen Richter Draheim und den ehrenamtlichen Richter Helms

für Recht erkannt:
1. Die Berufung wird zurückgewiesen. 2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Anerkennung von Erkrankungen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet als Folgen der anerkannten Berufskrankheit nach der Nr. 1310 (Erkrankungen durch halogenierte Alkyl-, Aryl- oder Alkylaryloxide) der Anlage 1) zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) sowie nach Nr. 1317 (Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische) der Anlage 1) zur BKV.

Der am 1. Februar 1952 in Jugoslawien geborene Kläger war in dem Zeitraum von 1973 bis 1984 nacheinander als Chemiewerker bei der Firma B. im Betriebsteil einer Reingamma-Station und später bei der Nachfolgefirma B. und Sohn tätig. Der Arbeitsmediziner Dr. P. erstattete am 9. März 1999 eine ärztliche Anzeige über eine Berufskrankheit, da der Kläger an einem Schilddrüsen-Karzinom erkrankt und dem Stoff TCDD (2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin) ausgesetzt gewesen sei. Darüber hinaus beklagte der Kläger Kopfschmerzen, Schwindel, gelegentliche Übelkeit, Angstzustände, chronische Reizzustände der Atemwege und Hautreizungen mit Pickeln.

Der Arbeitgeber teilte in einem Schreiben vom 12. Mai 1999 mit, dass der Kläger als angelernter Chemiearbeiter im Rein-Gammabetrieb gearbeitet habe, welcher räumlich mit dem Roh-Gammabetrieb verbunden gewesen sei. Dadurch sei er über die Raumluft mit den dortigen Arbeitsstoffen in Verbindung gekommen. Es seien hohe Konzentrationen von Benzolrestgasen, HCH (Hexachlorcyclohexan) mit allen Isomeren (u. a. Lindan) als Dämpfe und Feststoffe, Menthol und Chlorwasserstoffe vorhanden gewesen. Die Raumluftstoffe hätten damals nicht einzeln gemessen werden können. Über eine Exposition mit TCDD hätten damals keine Erkenntnisse vorgelegen.

Die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. D. teilte mit, dass der Kläger am 4. August 1999 bei ihr in Behandlung gewesen sei. Es hätten eine Depressivität und Ängstlichkeit vorgelegen. Im Testverfahren seien Aufmerksamkeit, Konzentration und visuelle Merkfähigkeit erschwert gewesen. Es habe auch ein Restless-Legs-Syndrom bestanden.

Im Rahmen eines am 14. März 2000 erstellten neurophysiologischen Befundberichtes nahm die Diplompsychologin W. auf, dass der Kläger bereits in dem Zeitraum zwischen 1973 bis 1984 unter Kopfschmerzen gelitten habe. Später sei er in verschiedenen Firmen im Bereich der Nahrungsmittelherstellung tätig gewesen. Nach und nach habe er Stimmungsveränderungen bemerkt, sei reizbar und sensibel geworden. Seit ca. zehn Jahren habe er ein Kribbeln in den Füßen. Dies trage zu Ein- bzw. Durchschlafproblemen bei. In der neuropsychologischen Untersuchung hätten sich Beeinträchtigungen in Form von Verlangsamung, Antriebsmangel, Abrufdefiziten des Gedächtnisses, Überforderung bei hoher Komplexität, Mangel an Flexibilität bzw. Denkvermögen beschreiben lassen. Das Ausmaß der Defizite sei ungewöhnlich hoch im Hinblick auf eine hirnorganisch-toxische Verursachung, so dass eine Konfundierung mit einer deutlich depressiven Symptomatik bzw. psychischen Labilität stark anzunehmen sei. Kausal hierfür sei sowohl wiederum an eine toxische als auch psychisch-reaktive Genese zu denken und der Einfluss des operierten Schilddrüsentumors zu berücksichtigen. Eine deutliche Aggravationstendenz liege nicht vor.

Der Facharzt für Neurologie Prof. Dr. Z. erklärte in seinem Gutachten vom 22. März 2000, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein Zusammenhang zwischen den damals begonnenen und jetzt geklagten Beschwerden des Untersuchten, einschließlich der im neuropsychologischen Untersuchungsverfahren festgestellten Besonderheiten und der toxischen Einwirkung von Dioxin- und HCH-Belastung bestehe. Es habe sich eine Reihe von neurologisch relevanten Defiziten mit genügender Wahrscheinlichkeit abgrenzen lassen. Diese Defizite beträfen eine sensible Polyneuropathie leichteren Ausmaßes, Schwindel und Kopfschmerzbeschwerden mit organischem Hintergrund, eine Störung der Vestibulo-Okulomotorik sowie psychoorganische Beeinträchtigungen im Aufmerksamkeits-, Gedächtnis- und visuellen Merkfähigkeitsbereich. Nicht genügend gesichert im Zusammenhang stehe dagegen das Vorliegen einer Depression. Insgesamt könne von einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v. H. ausgegangen werden.

Die Fachärztin für Dermatologie Prof. Dr. M. erklärte in einem weiteren Gutachten vom 18. Juni 2000, dass in Anbetracht der Ausdehnung von dermatologischer Seite eine Berufskrankheit nach der Nr. 1310 der Anlage zur BKV vorliege und mit einer MdE von 10 v. H. zu veranschlagen sei.

Mit Bescheid vom 10. Januar 2001 stellte die Beklagte fest, dass die bei dem Kläger bestehenden Befindlichkeitsstörungen in Form von Schwindel, Kopfschmerzen, Störungen des Gleichgewichtssinnes und der Merkfähigkeit sowie der Restzustand einer Chlorakne mit Restnarben im Gesichtsbereich eine Berufskrankheit nach der Nr. 1310 der Anlage zur BKV seien. Nicht als Folgen der Berufskrankheit würden anerkannt: ein Schilddrüsenkarzinom, eine nicht gesicherte sensible Polyneuropathie sowie eine Depression. Darüber hinaus gewährte die Beklagte dem Kläger eine Rente nach einer MdE von 20 v. H. ab dem 23. Februar 1999.

Mit Bescheid vom 8. Mai 2001 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit nach der Nr. 1302 der Anlage zur BKV (Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe) hinsichtlich des bestehenden Schilddrüsenkarzinoms ab. Den hiergegen eingelegten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 4. September 2001 zurück.

Im Rahmen des daraufhin vom Kläger durchgeführten Klageverfahrens erklärte Dr. P. in einem wissenschaftlich begründeten arbeitsmedizinisch-toxikologischen Gutachten vom 2. Juli 2002, dass das Schilddrüsenkarzinom nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf die HCH-Exposition des Klägers im Beschäftigungszeitraum bei der Firma B. von 1973 bis 1984 zurückzuführen sei. Mit Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 5. August 2008 wies das Gericht die Klage ab und stellte fest, dass das Krebsleiden des Klägers nicht als Folge einer Berufskrankheit nach der Nr. 1302 der Anlage zur BKV anzuerkennen sei. Mit Beschluss des Landessozialgerichts vom 12. Januar 2010 wies das Gericht die Berufung des Klägers zurück. Das Bundessozialgericht verwarf die eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers als unzulässig.

Frau Dr. D. erstattete am 4. Januar 2002 einen weiteren nervenärztlichen Befundbericht. Der Kläger klage über Kopfdruck, Vergesslichkeit, Konzentrationsmängel, Lustlosigkeit, gelegentlich Panikgefühl mit Zittern und Luftmangelgefühl, über hartnäckige Schlafstörungen sowie über unruhige Beine während der Nacht. Es bestünden eine depressiv-ängstliche Störung mit kognitiven Einschränkungen letztlich unklarer Genese sowie ein Restless-Legs-Syndrom.

Prof. Dr. Z. führte im Gutachten für die Beklagte vom 27. Februar 2002 aus, dass sich im neuropsychologischen Befund Beeinträchtigungen des Klägers in Form von Verlangsamungen und Antriebsmangel sowie Abrufdefizite des Gedächtnisses mit Überforderung bei hoher Komplexität und einem Mangel an Flexibilität bzw. Denkvermögen gezeigt hätten. Das Ausmaß der Defizite sei seinerzeit als ungewöhnlich hoch im Hinblick auf eine hirnorganisch toxische Verursachung beurteilt worden, so dass ein Zusammenhang mit der offensichtlich depressiven Symptomatik und psychischen Labilität angenommen werden könne. Eine Aggravationstendenz habe nicht vorgelegen. Es sei bereits zuvor eine psychogenetische Störung als Grund der Depression angenommen worden. Es erscheine gerechtfertigt, die Zunahme der Funktionsstörungen – Verlangsamung, Antriebsmangel, Abrufdefizite des Gedächtnisses – auf die verdeutlichte depressive Störung sowie die hinzugetretene Angststörung zurückzuführen. Es existiere ein sehr wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen den 1989 oder 1995 begonnenen und jetzt geklagten Beschwerden des Untersuchten einschließlich der im neuropsychologischen Untersuchungsverfahren festgestellten Besonderheiten und der toxischen Einwirkung von Dioxin- und HCH-Belastung. Die Defizite beträfen weiterhin eine sensible Polyneuropathie leichteren Ausmaßes, Schwindel und Kopfschmerzbeschwerden mit organischem Hintergrund, eine Störung der Vestibulo-Okulomotorik sowie mäßige psychoorganische Beeinträchtigungen im Aufmerksamkeits-, Gedächtnis- und visuellen Merkfähigkeitsbereich. Während für diese Defizite eine genügende Wahrscheinlichkeit für einen Zusammenhang mit der toxischen Exposition bestehe, sei dies nicht genügend sicher für das Vorliegen der jetzt verstärkten Depression und neuen Angststörung zu erkennen.

Prof. Dr. F.-B. von der Beratungsstelle für ehemalige Mitarbeiter der Firma B. erstattete dann am 27. Oktober 2010 eine ärztliche Anzeige bei Verdacht auf eine Berufskrankheit aufgrund von Folgeschäden nach Gamma-HCH-Belastung, Lindan, Methanol, Benzol und Zwischenprodukte. Der Kläger leide unter Schlafstörungen, einem Restless-Legs-Syndrom, Merkfähigkeits- und Konzentrationsschwierigkeiten, Schwindel beim Aufstehen, "Sternesehen" bei Stress, Blutdruckschwankungen, Depression, Angstzuständen, Weinzwang, emotionaler Labilität sowie Kribbeln bis zur Unruhe und Zuckungen.

Prof. Dr. Mü. gab in seinem neurologisch-neuropsychologischen Zusatzgutachten vom 2. Dezember 2011 wieder, dass der Kläger nach den Angaben seiner Ehefrau die Medikamente Restex, Paroxetin, Zopiclon und L-Thyroxin nur sehr unregelmäßig einnehme. Für das Vorliegen einer Polyneuropathie bei der klinisch-neurologischen Untersuchung hätten sich keine Hinweise gefunden. Auch eine Elektroneurographie aus dem Jahre 2000 habe normale Befunde ergeben. Nach Durchführung weiterer testpsychologischer Untersuchungen habe sich ein so genanntes Restless-Legs-Syndrom gefunden, welches aber in keinem Zusammenhang mit der vorliegenden Berufskrankheit stehe. Vielmehr wäre eine sekundäre Folge des Schilddrüsen-Karzinoms zu diskutieren. Der Kläger habe in den verschiedensten kognitiven Tests eine erhebliche Minderleistung geboten. Diese entspräche jedoch nicht dem wahren Leistungsvermögen und sei im Sinne eines antwortverzerrenden Verhaltens zu interpretieren. Ob neben dem wahren Leistungsvermögen noch hirnorganische Leistungsbeeinträchtigungen bestünden, könne nicht sicher beurteilt werden.

Prof. Dr. Pf.-W. diagnostizierte mit neurologisch-psychiatrischem Gutachten vom 25. August 2014 eine chronifizierte depressive Störung, chronifizierte Ein- und Durchschlafstörungen im Sinne einer nicht-organischen Insomnie, ein Restless-Legs-Syndrom, eine andauernde Persönlichkeitsänderung sowie eine chronifizierte Entwicklung aufgrund eines Migrationshintergrunds und im Rahmen einer überdurchschnittlich schweren Arbeitsbiographie mit fast 40-jähriger Schichtarbeit unter Zeitdruck und hoher Belastung in Permanenz. Diverse Befunde könnten durchaus als Folgen einer Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage 1) zur BKV auftreten – zumal die Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie die anhaltende Persönlichkeitsveränderung mit erhöhter Reizbarkeit, verminderter Belastbarkeit und anhaltender depressiver Störung einhergingen. Jedoch könne die Frage erst zureichend beantwortet werden, wenn die zusätzliche spezifische medizinische Sachverhaltsaufklärung für diesen Komplex erfolgt sei.

Mit Bescheid vom 6. November 2014 stellte die Beklagte fest, dass die bei dem Kläger bestehenden Gesundheitsstörungen in Form von Schlafstörungen, einem Restless-Legs-Syndrom, Merkfähigkeits- und Konzentrationsschwierigkeiten, Schwindel beim Aufstehen, "Sternesehen" bei Stress, Blutdruckschwankungen, Depression, Angstzuständen, Weinzwang, emotionaler Labilität, Kribbeln bis zur Unruhe und Zuckungen sowie eine Persönlichkeitsänderung zwar festgestellt, jedoch keiner Berufskrankheit nach den Nummern 1302, 1303, 1306, 1317 und auch nicht der Berufskrankheit nach der Nr. 1310 der Anlage 1) zur BKV zugeordnet werden könnten, außer den bereits anerkannten Merkfähigkeits- und Konzentrationsstörungen sowie den Schwindelerscheinungen. Insbesondere Prof. Dr. Mü. habe keine Polyneuropathie oder Enzephalopathie nachweisen können. Es lägen keine körperlich-neurologischen Symptome vor, die auf eine neurologische Erkrankung hinwiesen. Unter Berücksichtigung der Ausführungen von Prof. Dr. Pf.-W. sei die Persönlichkeitsveränderung auf den Migrationshintergrund, die schwere Arbeitstätigkeit und die mit diesen Punkten evtl. verbundene Belastung und Vereinsamung zurückzuführen. Es gebe keine Hinweise darauf, dass toxische Einflüsse, insbesondere die für die Firma B. typischen Stoffe generell geeignet seien, Persönlichkeitsänderungen beim Menschen zu verursachen. Auch sei kein Zusammenhang zwischen der Persönlichkeitsveränderung und den anerkannten Folgen der Berufskrankheit nach der Nr. 1310 der Anlage 1) zur BKV zu erkennen.

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und begründete diesen mit einer Stellungnahme von Prof. Dr. F.-B ...

In seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom 7. Januar 2015 wies Dr. P. darauf hin, dass Prof. Dr. Pf.-W. überzeugend begründet habe, dass die bei dem Kläger vorliegende Depression Ausdruck einer "andauernden Persönlichkeitsveränderung" sei. Diese trete nach einer schweren psychiatrischen Krankheit auf. Hinweise auf eine hirnorganische Ursache im Sinne einer Enzephalopathie lägen nicht vor.

Mit Widerspruchsbescheid vom 17. März 2015 führte die Beklagte aus, dass die Widerspruchsbegründung von Prof. Dr. F.-B. keine Hinweise darauf enthalte, dass die angefochtene Entscheidung rechtswidrig sein könne. Insbesondere sei die von ihm zitierte Studie nicht geeignet, einen Zusammenhang zwischen toxischen Einwirkungen und dem Auftreten einer chronifizierten Persönlichkeitsänderung zu begründen. Unstreitig liege bei dem Kläger eine chronifizierte Depression vor. Prof. Dr. Pf.-W. habe in seinem Gutachten überzeugend begründet, dass die Depression Ausdruck bzw. Folge einer andauernden Persönlichkeitsänderung sei. Darüber hinaus lägen nach der Ansicht von Prof. Dr. Mü. keine Hinweise auf eine hirnorganische Ursache im Sinne einer Enzephalopathie vor.

Hiergegen hat der Kläger am 26. März 2015 Klage erhoben und mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 16. Juli 2015 beantragt, die Depression sowie die Ein- und Durchschlafstörungen als Folge der Berufskrankheit nach der Nr. 1310 der Anlage 1) zur BKV anzuerkennen. Die vorliegende Klage habe die Frage der Anerkennung der Depressionen sowie der Ein- und Durchschlafstörungen als Folge der Berufskrankheit nach der Nr. 1310 der Anlage 1) zur BKV zum Gegenstand. Die von Prof. Dr. Pf.-W. festgestellten Befindlichkeitsstörungen seien nicht Folgen der Persönlichkeitsveränderung, sondern deren Ursache. Diese seien mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf die Einwirkung von für die Firma B. typischen Stoffen zurückzuführen. Sollte sich im Verfahren die Diagnose einer Polyneuropathie bestätigen, so bleibe zu prüfen, ob diese sowie das diagnostizierte Restless-Legs-Syndrom als deren Folge als Schädigung des Nervensystems im Rahmen der Berufskrankheiten nach den Nrn. 1310 bzw. 1317 der Anlage 1) zur BKV anzuerkennen seien.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten. Die Fachärztin für Psychiatrie hat von einer ängstlich depressiven Störung und nicht-organischen Schlafstörung sowie auf neurologischem Gebiet von einem Restless-Legs-Syndrom ohne Zuschreibung der Krankheitsursache berichtet. Der Allgemeinmediziner Dr. Dü. hat mit Befundbericht vom 4. Oktober 2015 mitgeteilt, dass der Kläger zumindest die Depression, Angstzustände und innere Unruhe als Folge seiner Schilddrüsenerkrankung sehe. Dr. Dü. ist der Auffassung gewesen, dass der Kläger auch schon vorher zu depressiven, ängstlichen Episoden geneigt habe.

In der mündlichen Verhandlung vom 30. März 2017 hat der Kläger dann beantragt, festzustellen, dass die Depression sowie die Ein- und Durchschlafstörungen Folge der Berufskrankheit nach der Nr. 1310 der Anlage 1) zur BKV seien und festzustellen, dass bei dem Kläger eine Berufskrankheit nach den Nrn. 1303, 1306 und/oder 1317 der Anlage 1) zur BKV vorliege sowie festzustellen, dass die bestehenden Gesundheitsstörungen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet Folgen dieser Berufskrankheiten seien.

Mit Urteil vom 30. März 2017 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Feststellung, dass die bei ihm bestehende Depression sowie die Ein- und Durchschlafstörung als Folge der anerkannten Berufskrankheit nach der Nr. 1310 der Anlage 1) zur BKV festgestellt würden. Darüber hinaus könnten die auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet bestehenden Erkrankungen nicht als Folgen weiterer Listenberufskrankheiten (Nrn. 1303, 1306, 1317) nach § 9 Abs. 1 SGB VII i. V. m. der Anlage 1) zur BKV festgestellt werden. Insbesondere die von Prof. Dr. Pf.-W.f diagnostizierte chronifizierte depressive Störung, die chronifizierte Ein- und Durchschlafstörung im Sinne einer nicht-organischen Insomnie, ein Restless-Legs-Syndrom, eine andauernde Persönlichkeitsänderung, eine chronifizierte Entwicklung sowie im weiteren das geltend gemachte "Sternesehen" bei Stress, Blutdruckschwankungen, Angstzustände, Weinzwang, emotionale Labilität, Kribbeln bis zur Unruhe und Zuckungen könnten weder als (weitere) Folge der anerkannten Berufskrankheit nach der Nr. 1310 der Anlage 1) zur BKV festgestellt werden noch seien sie Folge einer Berufskrankheit nach Nrn. 1303, 1306 oder 1317. Bei dem Kläger könne bereits keine Berufskrankheit nach Nrn. 1303, 1306 oder 1317 der Anlage 1) zur BKV festgestellt werden. Zum einen – und dieses reiche für die Ablehnung einer Berufskrankheit nach Nrn. 1306 und 1317 der Anlage 1) zur BKV bereits aus – liege das erforderliche Erkrankungsbild einer Polyneuropathie bzw. einer Enzephalopathie nicht vor. Prof. Dr. Mü. habe in seinem neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 2. Dezember 2011 im weiteren Verlauf unwidersprochen festgestellt, dass für das Vorliegen einer Polyneuropathie keine Hinweise bestanden hätten. Für die Annahme einer (toxischen) Enzephalopathie (Berufskrankheit Nr. 1306 der Anlage 1) zur BKV) lägen überhaupt keine Anhaltspunkte vor. Gegen die Annahme einer Berufskrankheit nach Nr. 1303 der Anlage 1) zur BKV spreche, dass eine nach langzeitiger Einwirkung der Homologen des Benzols in den Organismus erforderliche Schädigung der Blutbildungsstätten im Sinne einer nephro-, hepato- und neurotoxischen Schädigung (z. B. Oligurie, Anurie, Urämie, Leberschwellung, Anämie), in deren Folge es zu Müdigkeit, Kopfschmerzen, Benommenheit, Brechreiz, allgemeiner Abgeschlagenheit sowie Alkoholintoleranz kommen könne, nicht nachgewiesen sei. Zum anderen sei es nicht hinreichend wahrscheinlich, dass der während der beruflichen Tätigkeit des Klägers bestehende Kontakt zu Lösungsmitteln und anderen in der Chemieverarbeitung verwendeten Stoffen, die über die bereits anerkannten psychiatrischen (und neurologischen) Erkrankungen (Schwindel, Kopfschmerzen, Störungen des Gleichgewichtssinnes und der Merkfähigkeit) hinausgingen, ursächlich auf die (im Übrigen nicht vorliegenden) Berufskrankheiten nach Nrn. 1303, 1306 und 1317 der Anlage 1) zur BKV und auch nicht auf die anerkannte Berufskrankheit nach Nr. 1310 der Anlage 1) zur BKV zurückzuführen seien. Vorliegend überwägen die für einen Kausalzusammenhang sprechenden Umstände nicht. Insbesondere der im Verwaltungsverfahren gehörte Sachverständige Prof. Dr. Mü. habe überzeugend dargestellt, dass gegen einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem weiteren neurologischen und psychischen Erkrankungsbild des Klägers und der beruflichen Tätigkeit spreche, dass bei der klinisch-neurologischen Untersuchung keine Hinweise für eine Polyneuropathie hätten gefunden werden können und auch die bereits im Jahre 2000 durchgeführte Elektroneurographie normale Befunde ergeben habe. Somit fehle es an dem Nachweis einer schädigungsrelevanten Einwirkung auf den Körper, die als Ursache für die weiteren neurologisch-psychiatrischen Erkrankungen im Sinne der erwähnten Berufskrankheiten in Frage kommen könne. Zudem habe bereits Prof. Dr. Z. in seinem Gutachten vom 22. März 2000 erklärt, dass die Depression des Klägers nicht genügend gesichert im Zusammenhang mit der anerkannten Berufskrankheit stehe. Selbst Prof. Dr. Pf.-W.f weise darauf hin, dass die insgesamt chronifizierte Entwicklung der Erkrankungen des Klägers in Verbindung mit einem Migrationshintergrund und im Rahmen einer überdurchschnittlich schweren Arbeitsbiographie mit fast 40-jähriger Schichtarbeit unter Zeitdruck und hoher Belastung in Permanenz gesehen werden müsse und damit überwiegend außerhalb der unmittelbar gefährdenden Einwirkung während der beruflichen Tätigkeit des Klägers zu finden sei. Zwar habe der Gutachter gemeint, dass diese Befunde durchaus als Folgen einer Berufskrankheit nach der Nr. 1317 der Anlage 1) zur BKV auftreten könnten. Vor dem Hintergrund der bei dem Kläger durchgeführten klinischen Untersuchungen sowie im Rahmen der von ihm selbst genannten persönlichen Faktoren des Klägers, die außerhalb der unmittelbar als gefährdend anzusehenden Tätigkeit durch die Exposition toxisch wirkender Stoffe stünden, verbleibe es bei der für einen hinreichend wahrscheinlichen Zusammenhang nicht ausreichenden Möglichkeit der Ursächlichkeit.

Gegen das ihm am 6. April 2017 zugestellte Urteil hat der Kläger am 4. Mai 2017 Berufung eingelegt. Bei dem Kläger liege eine toxische Neuropathie des Zentralnervensystems mit allen Symptomen des Stadiums II B vor. Der Kläger leide unter einer ausgeprägten und dauerhaften Persönlichkeitsveränderung, zunehmenden Merk- und Konzentrationsschwächen, Stimmungsschwankungen mit depressivem Einschlag, Affektlabilität und einer nachgewiesenen testpsychologischen Leistungsminderung mit leichten neurologischen Befunden wie Tremor, Gleichgewichtsstörungen und anderen Koordinationsstörungen. Prof. Dr. Mü. habe eine erhebliche Minderleistung in den kognitiven Tests festgestellt und begründe dies mit antwortverzerrendem Verhalten. Tatsächlich habe der Kläger sprachliche und assoziative Probleme und sei nicht fähig, die Testaufgaben in einem normgerechten Tempo zu bearbeiten. Gerade bei den Mitarbeitern der B.-Werke sei es eine besonders typische Merkfähigkeitsstörung, dass die ersten Wörter nicht memoriert werden könnten. Außerdem habe das Gericht die klägerseits angeführte Studie zu Depressivität und Selbstmordgefährdung nicht berücksichtigt. Es liege auch eine toxische Polyneuropathie vor. Hierzu gehöre auch die autonome Neuropathie durch Lähmung derjenigen regulatorischen Funktionen des autonomen Nervensystems, wie der Drüsen und deren maligne Entartung, die durch eine Promoterwirkung im Wachstum gefördert werde.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 30. März 2017 sowie den Bescheid vom 6. November 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. März 2015 aufzuheben und festzustellen, dass die Depression sowie die Ein- und Durchschlafstörungen als Folge der Berufskrankheit nach der Nr. 1310 der Anlage 1) zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) und die weiteren Gesundheitsstörungen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet Folgen der Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage 1) zur BKV sind.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Einholung von Gutachten. Der Dipl.-Psych. Dr. J. hat ein klinisch-neuropsychologisches Gutachten erstattet. Es bestünden frontalhirn-bedingt anmutende Störungen der Kognition, des Antriebs, des Verhaltens und der Selbstaktualisierung/Selbstorganisation. Die vorgebrachten Beschwerden seien mit einer toxischen Enzephalopathie zu vereinbaren. Die kognitiven Leistungseinbußen seien maßgeblich hirnorganisch verursacht. Das Störungsprofil, deren Entwicklung und Persistenz wiesen nicht auf das Vorliegen einer dementiellen Entwicklung. Auch sei das Störungsbild nicht maßgeblich durch die psychischen Störungen verursacht, obwohl diese das Störungsbild modifizierten. Als psychische Störungen seien eine Depression schweren Grades und eine soziale Angststörung zu diagnostizieren. Es hätten sich keine wesentlichen Veränderungen des kognitiven Leistungsbildes seit Anfang 2000/2002 gezeigt. Die Depression scheine sich jedoch bei fluktuierendem Verlauf verstärkt zu haben.

Dr. K. hat am 15. Januar 2019 ein neurologisch-psychiatrisches Zusatzgutachten erstattet. Es hätten sich weder klinisch noch elektrophysiologisch Hinweise auf eine axonale und/oder demyelinisierende Polyneuropathie ergeben. Darüber hinaus hätten sich keine Hinweise auf eine toxische Rückenmarksschädigung ergeben. In der klinischen Untersuchung und psychopathologischen Befunderhebung sowie in den orientierenden Hirnleistungstests hätten sich zunächst keine Hinweise auf eine eindeutige kognitive Störung im Sinne einer hirnorganischen Erkrankung ergeben. Eindeutige Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeits- und Konzentrationslage, der mnestischen Funktionen sowie des formalen oder inhaltlichen Denkens hätten nicht vorgelegen. Es habe sich ein deutlich depressives Bild gezeigt. Schwer zu beurteilen sei der Einfluss der schweren depressiven Störung auf die testpsychologische Untersuchung. Negativ verzerrende Einflüsse aufgrund der Affekt- und Antriebsbeeinträchtigung sowie einer depressiv mitbedingten formalen Denkstörung blieben zu bedenken. Dennoch sei im Sinne der Zusammenhangsbeurteilung zwischen Erkrankungen und vollbeweislich darzulegender Exposition davon auszugehen, dass ein wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen der zum Teil als hirnorganisch aufzufassenden Leistungsbeeinträchtigung und einer toxischen Exposition bestehe. Eine wesentliche Änderung habe sich diesbezüglich allerdings im Vergleich zu den Untersuchungen in den Jahren 2000 und 2001 nicht ergeben. Ein gutachterlicher Zusammenhang zwischen der Depression, die sich in den letzten 10 Jahren möglicherweise akzentuiert habe, und der toxischen Exposition sei nicht herzustellen. Zum einen habe sich die depressive Störung im Gegensatz zur zusätzlichen hirnorganischen Störung in den letzten Jahren unabhängig hiervon akzentuiert. Eine hirnorganische Verschlechterung lange Jahre nach Lösungsmittelexposition wäre im Verlauf ohnehin ungewöhnlich. Anzunehmen seien andere ursächliche Faktoren, wie u. a. die als extrem bedrohlich erlebte Krebserkrankung und insbesondere die Auswirkungen von Migration und Arbeitsbiographie. Die soziale Entwurzelung im Rahmen des Migrationshintergrundes und insbesondere die langjährige schwerste Arbeitsbelastung im Mehrschichtsystem und der anhaltende physische und psychische Stress im Kontakt mit Kollegen und Vorgesetzten seien besonders hervorzuheben. Es fehlten zudem andere Hinweise auf eine hirnorganische Genese der depressiven Störung, wie z. B. Impulskontrollstörungen, Affektlabilität und Enthemmungsphänomene. Es sei auch nicht davon auszugehen, dass die depressive Störung im Wesentlichen als Reaktion auf die denkbare toxisch-hirnorganische Symptomatik entstanden sei. Auch hiergegen sprächen der Verlauf sowie die deutlich wahrscheinlicheren anderen ätiologischen Faktoren. Sollte vollbeweislich eine toxische Exposition nachgewiesen sein, so ergäben die Vorunteruntersuchungsbefunde und die aktuelle neuropsychologische Untersuchung Hinweise auf eine wahrscheinliche toxische Enzephalopathie mit Beeinträchtigungen in einigen neuropsychologischen Domänen bei unauffälliger klinisch-neurologischer und psychopathologischer Untersuchung. Ein Teil der geklagten Beeinträchtigungen, die neuropsychologisch objektiviert worden seien, wären bei gesicherter Exposition durch diese wesentlich verursacht worden. Die geschilderte depressive Symptomatik, die möglicherweise auch die hirnorganische Symptomatik in Bezug auf die Testung akzentuiere, sei nicht als toxisch verursacht zu verstehen. Die Gesundheitsstörungen würden unter den Berufskrankheiten Nrn. 1310 und 1317 der Anlage 1) zur BKV erfasst. Die MdE sei weiterhin mit 20 von 100 einzuschätzen, wobei auch der Zustand nach Chlor-Akne inkludiert sei.

Der Facharzt für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin Prof. Dr. H. hat ein arbeitsmedizinisches Zusammenhangsgutachten erstattet. Bei dem Kläger lägen eine toxische Enzephalopathie mit Befindlichkeitsstörungen als Folge einer nach Nr. 1310 der Anlage 1) zur BKV anerkannten Berufskrankheit, eine depressive Störung mit Anteilen einer sozialen Angststörung, ein bekanntes Restless-Legs-Syndrom, arterieller Bluthochdruck und ein Zustand nach Schilddrüsenentfernung wegen Malignom vor. Lindan sei bei dem Kläger wegen der kurzen Halbwertszeit nicht nachzuweisen gewesen, das länger im Körper verbleibende beta-HCH habe mit 9,2 µg/l aber auf die zurückliegende Exposition hingewiesen. Die Konzentration des hochtoxischen 2,3,7,8-TCDD habe bei 13,2 ppt und damit unter Berücksichtigung einer Halbwertszeit von ca. 7 Jahren rückgerechnet auf das Ende der Berufstätigkeit bei der Firma B. nicht im Bereich einer hohen Exposition gelegen. Allerdings seien im Jahr 2000 Restnarben im Gesicht des Klägers als Residualzustand nach Chlorakne angesehen worden, so dass insgesamt eine gesundheitliche Belastung mit 2,3,7,8-TCDD vorgelegen habe. Eine toxische Polyneuropathie, wie sie weitgehend unter der Nr. 1317 der Anlage 1) zur BKV subsumierbar wäre, hätte nicht nachgewiesen werden können. Bei dem Kläger lägen Gesundheitsstörungen vor, die sowohl das neurologische als auch das psychiatrische Fachgebiet beträfen: Zum einen eine Störung zentraler Funktionen mit kognitiven Einschränkungen und zum anderen ein schweres depressives Leiden verbunden mit einer Angststörung. Die zentrale Funktionsstörung sei lange bekannt und habe sich nicht wesentlich verschlimmert. Die Folgen dieser Erkrankung seien unter der Nr. 1310 der Anlage 1) zur BKV anerkannt. Grundsätzlich wäre diesbezüglich auch eine Entschädigung nach der Nr. 1317 der Anlage 1) zur BKV möglich, wenn eine auch quantitativ ausreichend hohe Belastung gegenüber Lösungsmitteln vorgelegen habe. Vermutlich habe die grundsätzlich unstrittige berufliche Belastung gegenüber u. a. Toluol, Benzol oder Methanol mit zur Schädigung des Zentralnervensystems beigetragen, ohne dass sich allerdings entsprechende Folgen von jenen anerkannten der TCDD-Belastung genügend unterscheiden ließen. Da die zentralnervöse Erkrankung bereits insgesamt der Berufskrankheit nach Nr. 1310 der Anlage 1) zur BKV zugeordnet worden und in die Bewertung der MdE eingeflossen sei und sich eine periphere Nervenfunktionsstörung bzw. eine Polyneuropathie im Sinne der Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage 1) zur BKV nicht belegen lasse, könne auf eine weitere Diskussion zum Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen und der Wirkung von Halogenkohlenwasserstoffen, Benzol, seiner Homologe bzw. Styrol oder von Methanol auf die Gesundheit verzichtet werden. Das depressive Leiden des Klägers habe sich in den letzten Jahren im Vergleich zum zentralnervösen Leiden verstärkt, wie sich aus den Zusatzgutachten ergebe. Auch nach Ansicht von Prof. Dr. H. sei nicht von einem Zusammenhang der Depression mit der toxischen Belastung auszugehen. Gegen einen Zusammenhang spreche das Fortschreiten der depressiven Veränderungen lange nach Expositionsende ohne entsprechende Veränderungen im Bereich der bereits anerkannten kognitiven Beeinträchtigungen und zum anderen aber auch das Fehlen von insbesondere für die chronische Lösungsmittelbelastung typischen Störungen der Impulskontrolle oder der Affektlabilität. Deshalb spreche mehr gegen als für einen Zusammenhang. Beim Kläger lägen eine toxische Enzephalopathie mit Befindlichkeitsstörungen, eine depressive Störung mit Anteilen einer sozialen Angststörung, ein bekanntes Restless-Legs-Syndrom, ein arterieller Bluthochdruck und ein Zustand nach Schilddrüsenentfernung wegen Malignom vor. Allein die toxische Enzephalopathie mit Befindlichkeitsstörungen sei durch die Exposition mit Schadstoffen entstanden. Die anderen Erkrankungen würden weder nach einer anderen Nummer noch im Sinne des § 9 Abs. 2 SGB VII erfasst. Die durch die anerkannte Berufskrankheit bedingte MdE werde unverändert mit 20 v. H. erfasst.

Die Beklagte sieht sich durch das Gutachten von Prof. Dr. H. in ihrer Auffassung gestützt.

Der Kläger ist der Auffassung, dass zwischen den Zusatzgutachten von Dr. K. und Herrn J. eklatante Widersprüche bestünden. Die Hauptgutachter Prof. Dr. H. berücksichtige in seinem Gutachten die im BK-Report 02/2007, S. 115-118 ausdrücklich genannten Kernsymptome der toxischen Enzephalopathie "Veränderung der Persönlichkeit, außergewöhnliche Erschöpfbarkeit und Ermüdbarkeit" nicht ausreichend. Denn dieses Krankheitsbild werde nicht in die Ausführungen einbezogen bzw. unter Hinweis, dass nur Lösungsmittel Auslöser einer toxischen Enzephalopathie seien, ausgeschlossen. Sowohl Benzol als auch Methanol würden im BK-Report auf S. 116 jedoch prominent als Verursacher der Berufskrankheit nach der Nr. 1317 der Anlage 1) zur BKV genannt. Anders als der Hauptgutachter ausführe, bestehe bei dem Kläger eine toxische Enzephalopathie mit erheblicher Wesensänderung. Die Bewertung mit einer MdE von 20 v. H. sei daher nicht ausreichend.

Prof. Dr. H. hat hierzu eine ergänzende gutachterliche Stellungnahme abgegeben. In seinem Gutachten habe er darauf hingewiesen, dass Herr J. möglicherweise einen beruflichen Zusammenhang zwischen der beruflichen Exposition und dem jetzigen Gesundheitszustand gesehen habe. Die gutachterlichen Äußerungen des psychiatrischen Zusatzgutachtens von Dr. K., denen er sich angeschlossen habe, hätten diese Auffassung allerdings nicht unterstützt. Gründe hierfür seien das Fortschreiten der depressiven Veränderungen lange nach Expositionsende ohne entsprechende Veränderungen im Bereich der bereits anerkannten kognitiven Beeinträchtigungen und auch das Fehlen von insbesondere für die chronische Lösungsmittelbelastung typischen Störungen der Impulskontrolle oder der Affektlabilität. Zudem liege offensichtlich ein Missverständnis bei der Interpretation seines Gutachtens vor, denn Benzol und Methanol seien Lösungsmittel, die mit der Berufskrankheit nach der Nr. 1317 der Anlage 1) zur BKV abgedeckt würden. In seinem Gutachten würde die Frage einer möglicherweise für diese Berufskrankheit ausreichenden Höhe der entsprechenden Lösungsmittel offen gelassen, da das Krankheitsbild und der Verlauf des Leidens nicht die medizinischen Voraussetzungen dieser Berufskrankheit erfüllten. Denn bei dem Kläger liege eine erhebliche Zunahme der depressiven Störung ohne Verschlimmerung der kognitiven Einbußen vor. Dieses spreche eher für eine außerberufliche als für eine berufliche Ursache – selbst bei Nachweis einer zurückliegenden Lösungsmittelbelastung in ausreichendem Umfang.

Der Kläger hat hierzu erneut Stellung genommen. Die Depression sei Symptom der toxischen Enzephalopathie. Die Wesensänderung des Klägers sei von der Ehefrau durchgehend geschildert worden. Eine Persistenz oder Verschlechterung der Erkrankung nach Unterlassen der gefährdenden Tätigkeit schließe eine Verursachung durch Lösungsmittel und deren Gemische nicht aus. Es fehlten auch der Maßstab und der Nachweis, dass die Depression deutlich zugenommen habe. Der Zusatzgutachter J. gehe hingegen genau auf die Defizite und kognitiven Auffälligkeiten ein, die für die toxische Enzephalopathie sprächen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte, die Akte L 3 U 44/08, die beigezogenen Verwaltungsakten sowie die Sitzungsniederschrift vom 28. August 2019 ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte (§ 151 SGG) Berufung ist unbegründet. Das Sozialgericht hat die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs. 1 i.V.m. § 55 Abs. 1 Nrn. 1 und 3 SGG) zu Recht abgewiesen. Die Klage war bereits unzulässig, soweit sie die Anerkennung von Gesundheitsstörungen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet mit Ausnahme der Polyneuropathie und des Restless-Legs-Syndroms als Folgen der Berufskrankheit nach Nr. 1317 der Anlage 1) zur BKV betrifft. Insoweit ist der Bescheid vom 6. November 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. März 2015 bestandskräftig geworden und steht einer Entscheidung des Gerichts entgegen. Der Kläger hat bei Klageerhebung lediglich die Anerkennung der Depression und der Ein- und Durchschlafstörungen als Folgen der Berufskrankheit Nr. 1310 der Anlage 1) zur BKV beantragt und sich weiteren Sachvortrag lediglich im Hinblick auf eine Anerkennung einer Polyneuropathie sowie des Restless-Legs-Syndroms nach Nrn. 1310 bzw. 1317 der Anlage 1) zur BKV vorbehalten. Die in der mündlichen Verhandlung erklärte Klageerweiterung erfolgte außerhalb der Klagefrist.

Im Übrigen war die Klage unbegründet. Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, die Depression des Klägers und das damit einhergehende Symptom der Ein- und Durchschlafstörungen als weitere Folge einer Berufskrankheit nach Nr. 1310 der Anlage 1) zur BKV festzustellen. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist für die Feststellung einer Listen-Berufskrankheit erforderlich, dass die Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität) sowie dass eine Krankheit vorliegt (BSG, Urteil vom 23. April 2015 – B 2 U 10/14 R, BSGE 118, 255). Eine Krankheit ist als Folge einer Berufskrankheit festzustellen wenn sie durch die Einwirkungen verursacht worden ist (haftungsbegründende Kausalität). Dabei müssen die "versicherte Tätigkeit", die "Verrichtung", die "Einwirkungen" und die "Krankheit" im Sinne des Vollbeweises – also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – vorliegen (BSG, a.a.O.). Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt indes die hinreichende Wahrscheinlichkeit, allerdings nicht die bloße Möglichkeit (BSG, a.a.O.). Danach geht es auf einer ersten Stufe der Kausalitätsprüfung um die Frage, ob ein Zusammenhang im naturwissenschaftlichen Sinne vorliegt, d. h. ob eine objektive (Mit-)Ver-ursachung zu bejahen ist (BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 – B 2 U 9/11 R, SozR 4-2700, § 8 Nr. 44). In einer zweiten Prüfungsstufe ist sodann durch Wertung nach Maßgabe des Schutzzwecks des Versicherungstatbestandes die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die wesentlich sind, weil sie rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden, und den anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006 – B 2 U 1/05 R, a.a.O; BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 – B 2 U 9/11 R, a.a.O.). Nach übereinstimmender Auffassung aller Gutachter leidet der Kläger an einer Depression. Die Ein- und Durchschlafstörungen sind als Symptom zu werten, werden jedoch nicht als eigenständige Gesundheitsstörung im Rahmen der gutachterlichen Ausführungen gewertet. Prof. Dr. H. legt in Anlehnung an die Ausführungen von Dr. K. schlüssig und überzeugend dar, dass mehr gegen als für einen Ursachenzusammenhang zwischen der toxischen Exposition und der Entwicklung der Depression beim Kläger spricht. Beide Gutachter stellen darauf ab, dass das Fortschreiten der depressiven Veränderungen lange nach Expositionsende ohne entsprechende Veränderungen im Bereich der bereits anerkannten kognitiven Beeinträchtigungen erfolgt ist und zum anderen aber auch die für die chronische Lösungsmittelbelastung typischen Störungen der Impulskontrolle oder der Affektlabilität fehlen. Beides spricht gegen einen Zusammenhang. Auch hinsichtlich der Beurteilung, dass die Depression in ihrer Schwere zugenommen hat, die kognitiven Beeinträchtigungen hingegen nicht, sind sich alle Gutachter einig. Hierfür sprechen auch die anamnestischen sowie fremdanamnestischen Angaben der Ehefrau des Klägers. Dr. K. weist zudem darauf hin, dass auch andere Ursachen für die Depression vorliegen, wie z. B. die vom Kläger als extrem bedrohlich erlebte Krebserkrankung und die Auswirkungen von Migration und Arbeitsbiographie. Die soziale Entwurzelung im Rahmen des Migrationshintergrundes und insbesondere die langjährige schwere Arbeitsbelastung im Mehrschichtsystem und der anhaltende physische und psychische Stress im Kontakt mit Kollegen und Vorgesetzten sind besonders hervorzuheben.

Aus den zuvor genannten Gründen kommt auch eine Anerkennung der Depression nach Nr. 1317 der Anlage 1) zur BKV nicht in Betracht.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung, dass eine Polyneuropathie und damit nach seiner Auffassung einhergehend das Restless-Legs-Syndrom nach Nr. 1310 und/oder Nr. 1317 der Anlage 1) zur BKV anzuerkennen sind. Bereits das Vorliegen einer Polyneuropathie ist nicht im Vollbeweis gesichert. In den Untersuchungen haben sich weder klinisch noch elektrophysiologisch Hinweise auf eine axonale und/oder demyelinisierende Polyneuropathie ergeben. Auch hinsichtlich des Restless-Legs-Syndroms sehen die Gutachter Prof. Dr. Mü. und Prof. Dr. H. keinen Zusammenhang zur Berufskrankheit.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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