S 4 R 363/16

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Gießen (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 4 R 363/16
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 5 R 190/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Bescheide der Beklagten vom 17. März 2016 und vom 18. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. August 2016 werden aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten die Rückforderung überbezahlter Witwenrente. Der Kläger wendet sich als Rechtsnachfolger seiner Mutter gegen die Aufhebung und Erstattung von durch seine Mutter bezogene Witwenrente in Höhe von 7.458,65 Euro.

Mit Bescheid vom 10. April 1996 bewilligte die Beklagte der 1936 geborenen Mutter des Klägers, Frau C. C., auf ihren Antrag vom 5. Februar 1996 ab 1. März 1996 eine große Witwenrente aus der Versicherung ihres am 2. Februar 1996 verstorbenen Ehemannes, Herrn D. C. Die Rentenhöhe betrug monatlich 1.350,67 DM. In dem Bescheid vom 10. April 1996 führte die Beklagte unter der Überschrift "Mitteilungspflichten" wie folgt aus:

"Erwerbseinkommen und Erwerbsersatzeinkommen können Einfluß auf die Rentenhöhe haben. Daher besteht die gesetzliche Verpflichtung, uns das Hinzutreten oder die Veränderung von Erwerbseinkommen, das sind
- Arbeitsentgelt,
- Einkommen aus selbständiger Tätigkeit,
- vergleichbares Einkommen, oder von Erwerbsersatzeinkommen unverzüglich mitzuteilen. Erwerbsersatzeinkommen sind, auch als Kapitalleistung oder Abfindung, folgende Leistungen:
- Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld, Mutterschaftsgeld, Übergangsgeld, Unterhaltsgeld, Kurzarbeitergeld, Schlechtwettergeld, Arbeitslosengeld, Konkursausfallgeld und vergleichbare Leistungen,
- Versichertenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung,
- Altersgeld und vorzeitiges Altersgeld oder Altershilfe für Landwirte,
- Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung,
- Leistungen nach § 10 Abs. 1 des Entwicklungshelfer-Gesetzes,
- Ruhegehalt sowie Unfallruhegehalt und vergleichbare Bezüge aus einem öffentlich-rechtlichen Dienst- oder Amtsverhältnis,
- Rente von öffentlich-rechtlichen Versicherungs- oder Versorgungseinrichtungen,
- Berufsschadensausgleich,
- vorstehende Leistungen, wenn sie von einem Träger im Ausland erbracht werden.

Ferner ist auch das Hinzutreten oder die Veränderung von Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung, deren Abfindung oder eine Heimaufnahme sowie von Leistungen nach § 10 Abs. 1 des Entwicklungshelfer-Gesetzes unverzüglich mitzuteilen.

Die Meldung von Veränderungen erübrigt sich bei Einkommen aus einer in der Bundesrepublik Deutschland ausgeübten rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit oder bei Renten aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung.

Die Rente fällt mit Ablauf des Monats der Wiederheirat weg. Daher besteht die gesetzliche Verpflichtung, uns eine Wiederheirat unverzüglich mitzuteilen.

Für die Dauer eines gewöhnlichen Aufenthaltes im Ausland kann der Rentenanspruch sich vermindern oder entfallen. Im übrigen können sich auch in Bezug auf die Krankenversicherung der Rentner, die Pflegeversicherung bzw. den Beitragszuschuß Nachteile ergeben.

Daher besteht die gesetzliche Verpflichtung, uns die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts in das Ausland unverzüglich mitzuteilen.

Soweit Änderungen Einfluß auf den Rentenanspruch oder die Rentenhöhe haben, werden wir den Bescheid - auch rückwirkend - ganz oder teilweise aufheben und zu Unrecht erbrachte Leistungen zurückfordern. Größere Überzahlungen können vermieden werden, wenn Sie uns entsprechend den Mitteilungspflichten umgehend benachrichtigen."

Die Mutter des Klägers bezog ab 1. August 1996 aufgrund des Bescheides vom 26. Juni 1996 eine Altersrente aus eigener Versicherung in Höhe von 1.607,97 DM monatlich. Im September 2014 fiel der Beklagten auf, dass ein Anspruch auf die Witwenrente in der gezahlten Höhe deswegen nicht bestanden hätte. Mit Bescheid vom 22. September 2014 berechnete die Beklagte die Höhe der großen Witwenrente der Mutter des Klägers ab dem 1. Juli 2014 neu (734,50 Euro monatlich). Mit Schreiben vom 25. September 2014 hörte die Beklagte die Mutter des Klägers zur teilweisen Aufhebung des Witwenrentenbescheides vom 10. April 1996 an. Die Überzahlung bezifferte die Beklagte auf 14.917,30 Euro. Die Mutter des Klägers sei ihren Mitteilungspflichten nicht nachgekommen. Zudem habe das erzielte Einkommen zur Minderung des Rentenanspruchs geführt. Es sei beabsichtigt, den Bescheid vom 10. April 1996 bereits ab Änderung der Verhältnisse, also mit Wirkung ab 1. August 1996 nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) aufzuheben und die Überzahlung für die Zeit vom 1. August 1996 bis 30. Juni 2014 in Höhe von 14.917,30 Euro zurückzufordern nach § 50 Abs. 1 SGB X. Die Voraussetzungen für die beabsichtigte Entscheidung seien nach Lage der Akten erfüllt, weil die Mutter des Klägers ihrer gesetzlichen Mitteilungspflicht, auf die die Beklagte sie auch hingewiesen habe, nicht nachgekommen sei. In dem Bescheid vom 10. April 1996 sei der Mutter des Klägers ausführlich auf Seite 3 unter "Mitteilungspflichten" dargelegt, dass der Beklagten der Hinzutritt einer Versicherungsrente unverzüglich mitzuteilen sei. Die Mutter des Klägers habe Einkommen erzielt, das zur Minderung ihres Rentenanspruches geführt habe (Schreiben der Beklagten vom 25. September 2014, Bl. 70 der Verwaltungsakte). Die Bevollmächtigten der Mutter des Klägers führten mit Schreiben vom 29. Dezember 2014 (Bl. 81 ff. der Verwaltungsakte) aus, dass weder die rückwirkende Neuberechnung der Witwenrente für die Zeit ab 1. August 1996 noch die Rückforderung einer Überzahlung in Höhe von 15.132,41 Euro (neben der Überzahlung von 14.917,30 Euro errechnete die Beklagte für die Zeit vom 1. Juli 2014 bis 31. Oktober 2014 eine zusätzliche Überzahlung in Höhe von 215,11 Euro) statthaft seien. Zunächst habe die Beklagte bislang noch keine Interessenabwägung im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens vorgenommen. Wäre dies ordnungsgemäß erfolgt, hätte angesichts des vorliegenden Sachverhalts dem Vertrauen der Mutter des Klägers in die Wirksamkeit des Rentenbescheides unbedingt Vorrang gegeben werden müssen. Soweit sich die Beklagte auf die in dem Bescheid vom 10. April 1996 auf Seite 3 dargelegten Mitteilungspflichten beziehe, müsse konsequenterweise auch der nächste Absatz auf Seite 4 des Bescheides Berücksichtigung finden. Dort sei ausdrücklich angemerkt, dass die Meldung von Veränderungen sich erübrige bei Renten aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung. Die Mutter des Klägers habe damit davon ausgehen können, dass die erforderlichen Meldungen rentenversicherungsintern erfolgen und dass ein Zutun ihrerseits gerade nicht erforderlich sei. Der in Rentenangelegenheiten nicht besonders geschulten Mutter des Klägers könne gerade nicht unterstellt werden, dass sie ohne Mühe hätte erkennen können oder sogar müssen, dass vorliegend eine Einkommensanrechnung unterbleibe. Eine grobe Fahrlässigkeit sei daher ausgeschlossen. Weiterhin habe die Beklagte bislang auch den Umstand völlig unberücksichtigt gelassen, dass seit dem in Rede stehenden Bescheid annähernd 20 Jahre vergangen seien. Nach einer derart langen Zeitspanne könne die Beklagte nicht ernsthaft eine Überzahlung aus der Vergangenheit geltend machen. Vielmehr müsse hier zugunsten der Mutter des Klägers angenommen werden, dass Rechtssicherheit herrsche. Schließlich sei auch der gesundheitliche Zustand der Mutter des Klägers zu berücksichtigen. Die Mutter des Klägers leide an Altersdemenz und darüber hinaus auch an vielfältigen körperlichen Beeinträchtigungen (Schreiben vom 29. Dezember 2014, Bl. 81 ff. der Verwaltungsakte).

Mit Bescheid vom 11. März 2015 berechnete die Beklagte die große Witwenrente der Mutter des Klägers ab 1. August 1996 unter Berücksichtigung des Einkommens aus eigener Versicherung neu. Die Beklagte hob den Rentenbescheid vom 10. April 1996 hinsichtlich der Rentenhöhe ab 1. August 1996 auf. Für die Zeit vom 1. August 1996 bis 31. März 2015 ergebe sich eine Überzahlung von 14.917,30 EUR. Es seien die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 bis 4 SGB X erfüllt. Die entstandene Überzahlung sei nach § 50 SGB X zu erstatten (Bescheid vom 11. März 2015, Bl. 135 ff. der Verwaltungsakte). Gegen den Bescheid vom 11. März 2015 erhob die Mutter des Klägers am 14. April 2015 Widerspruch.

Am xx. xxx 2015 verstarb die Mutter des Klägers. Der Kläger führte daraufhin das Verfahren als Erbe seiner Mutter fort. Mit Schreiben vom 16. November 2015 (Bl. 224 der Verwaltungsakte) hörte die Beklagte den Kläger als Rechtsnachfolger unter Hinweis auf den Bescheid vom 11. März 2015 an. Mit Schreiben vom 30. November 2015 (Bl. 232 f. der Verwaltungsakte) teilte der Kläger mit, dass nicht erkennbar gewesen sei, dass man den Bezug einer Rente hätte mitteilen müssen. Auf Seite 4 des Rentenbescheides vom 10. April 1996 sei explizit vermerkt, dass eine Rente von einem deutschen gesetzlichen Rentenversicherungsträger nicht mitgeteilt werden müsse. Mit Bescheid vom 16. Dezember 2015 hob die Beklagte den Bescheid vom 10. April 1996 erneut gegenüber der Mutter des Klägers auf, diesmal gestützt auf § 45 SGB X. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch.

Mit Bescheid vom 17. März 2016 (Bl. 250 f. der Verwaltungsakte) hob die Beklagte den Bescheid vom 10. April 1996 erneut teilweise, nun gegenüber dem Kläger als Rechtsnachfolger, nach § 45 SGB X auf. Die Beklagte reduzierte die Forderung um 25% auf 11.187,98 EUR. Diese Begrenzung der Bescheidrücknahme für die Vergangenheit sei sachgerecht, da ein geringes Mitverschulden seitens der Beklagten vorliege. Mit Ergänzungsbescheid vom 18. März 2016 (Bl. 253 der Verwaltungsakte) stützte die Beklagte die Aufhebung nicht auf § 45 SGB X, sondern auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 i. V. m. Satz 3 SGB X. Die Voraussetzungen einer diesbezüglichen Aufhebung seien erfüllt, da die Mutter des Klägers Einkommen erzielt habe, das zum Wegfall oder zur Minderung des Rentenanspruchs geführt habe. Hiergegen erhob der Kläger am 7. April 2016 Widerspruch. Im Rahmen seines Widerspruches führte der Kläger aus, dass die Reduzierung der ursprünglichen Forderung um 25% auf den Betrag in Höhe von 11.187,98 Euro bei einem angeblich bloß geringen Mitverschulden eine fehlerhafte Ermessensausübung der Beklagten erkennen lasse (Schreiben vom 9. Juni 2016, Bl. 264 der Verwaltungsakte).

Mit Widerspruchsbescheid vom 15. August 2016 (Bl. 275 f. der Verwaltungsakte) teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass die für die Zeit vom 1. August 1996 bis 30. Juni 2014 entstandene Überzahlung der Witwenrente für die Mutter des Klägers in Höhe von 14.917,30 Euro von dem Kläger zur Hälfte, also zu einem Teilbetrag von 7.458,65 Euro zu erstatten sei. Im Übrigen wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Bereits mit Bescheid vom 10. April 1996 sei die Mutter des Klägers auf ihre Mitteilungs- und Mitwirkungspflichten hingewiesen worden. Sie sei auch darauf hingewiesen worden, dass Erwerbseinkommen bzw. Erwerbsersatzeinkommen Einfluss auf die Rentenhöhe haben könne und daher die gesetzliche Verpflichtung bestehe, dem Rentenversicherungsträger das Hinzutreten von Erwerbseinkommen bzw. Erwerbsersatzeinkommen unverzüglich mitzuteilen. Ihrer gesetzlichen Mitteilungspflicht sei die Mutter des Klägers jedoch nicht nachgekommen. Der Umstand, dass die Beklagte theoretisch durch einen Datenabgleich zwischen den Versicherungskonten - die Kenntnis über die jeweils andere Versicherungsnummer unterstellt - den Einkommensbezug hätte feststellen können, begründe keinen atypischen Fall. Die Versicherungskonten würden getrennt geführt. Eine Verpflichtung der Beklagten, einen Datenabgleich vorzunehmen, gebe es nicht. Vielmehr diene der Hinweis im Bescheid vom 10. April 1996 gerade dazu klarzustellen, dass der Rentenempfänger selbst verpflichtet sei, das Hinzutreten von Einkommen unverzüglich mitzuteilen. Eine Atypik im Falle der Verletzung der Mitteilungspflicht ergebe sich auch nicht dadurch, dass der Rentenversicherungsträger die Erzielung von Einkommen in einer Höhe, die zum teilweisen Ruhen des Anspruches geführt habe, unter anderem auch ohne die unterbliebene Mitteilung durch Kontrollen oder einen Datenabgleich mit der Versicherungsnummer, unter der das Konto der Mutter des Klägers geführt wurde, hätte erkennen können. § 48 SGB X beruhe auf einer vom Gesetzgeber vorgenommenen Interessenabwägung, die in Verbindung mit § 60 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) den Leistungsempfänger zu aktivem Handeln verpflichte. Die Verwaltung werde nicht als eine überwachende Einrichtung verstanden. Der Rentenempfänger, der seine Mitteilungspflicht grob fahrlässig verletzt habe, könne mithin nicht geltend machen, der Versicherungsträger hätte ihn besser kontrollieren müssen. Die Beklagte habe ein erhebliches Mitverschulden an der Entstehung der Überzahlung der Witwenrente. Denn als Rentenversicherungsträger hätte sie bereits zu einem früheren Zeitpunkt erkennen können, dass neben der Witwenrente eine eigene Versichertenrente der Mutter des Klägers geleistet werde, die auf die Hinterbliebenenrente anzurechnen sei. Aus diesem Grunde sei das Mitverschulden der Beklagten hier mit 50% anzusetzen. Da auch die Fristen des § 48 Abs. 4 i. V. m. § 45 Abs. 3 und 4 SGB X gewahrt seien, seien sämtliche Voraussetzungen für die Aufhebung sowohl für die Vergangenheit als auch für die Zukunft erfüllt. Die ohne Rechtsgrund gezahlten Beträge seien im Rahmen der festgestellten Überzahlung zurückzufordern. Dies gebiete insbesondere auch der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, der die Beklagte gegenüber der Versichertengemeinschaft dazu verpflichte, Leistungen nur nach Maßgabe gesetzlicher Vorschriften zu erbringen. Eine Interessenabwägung im Hinblick auf die Rücknahme des Bescheides sei nur vorzunehmen, wenn der einzelne Versicherte bzw. Rentenempfänger auf die Rechtmäßigkeit der Zahlung vertrauen konnte. Dies sei aber im vorliegenden Fall nicht gegeben. Die Hälfte der entstandenen Rentenüberzahlung, mithin ein Teilbetrag von 7.458,65 EUR, sei von dem Kläger nach § 50 Abs. 1 SGB X zu erstatten.

Am 16. September 2016 hat der Kläger Klage erhoben vor dem Sozialgericht Gießen.

Auch die zuletzt erfolgte weitere Reduzierung der Überzahlung auf den Teilbetrag von 7.458,65 Euro erscheine nicht akzeptabel. Von einer Verletzung der Mitteilungspflicht könne nicht ausgegangen werden. Es bleibe weiterhin zu berücksichtigen, dass sich die verstorbene Mutter des Klägers vollumfänglich auf die Darlegungen im ursprünglichen Bescheid vom 10. April 1996 habe verlassen können. Die Beklagte müsse sich vielmehr ihre missverständliche, für einen Laien aber gerade nicht erkennbare Darstellung aus dem ursprünglichen Bescheid vom 10. April 1996 zurechnen lassen.

Der Kläger beantragt,
die Bescheide der Beklagten vom 17. März 2016 und 18. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. August 2016 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verweist auf ihr Vorbringen in dem Verwaltungsverfahren.

Im Anschluss an einen Termin zur Öffentlichen Sitzung des Sozialgerichts Gießen am 12. Mai 2017 hat das Gericht die Rentenakte der Mutter des Klägers angefordert, um zu klären, ob die Mutter des Klägers im Antrag auf Versichertenrente Angaben zur Witwenrente gemacht hatte (siehe Protokoll der Öffentlichen Sitzung des Sozialgerichts Gießen vom 12. Mai 2017, Bl. 30 f. der Gerichtsakte). Wegen der weiteren Einzelheiten und Unterlagen und wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Statthaft ist die Klage als Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 Variante 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Mit der Klage begehrt der Kläger die Aufhebung der Bescheide vom 17. März 2016 und 18. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. August 2016. Der Kläger greift dabei zwei Verfügungssätze an. Zum einen hat die Beklagte die mit Bescheid vom 10. April 1996 erfolgte Bewilligung der Witwenrente rückwirkend teilweise aufgehoben. Zum anderen verlangt sie die Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen in Höhe von 7.458,65 Euro.

Ein Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid wegen zu Unrecht erbrachter Leistungen kann nach dem Tode des Leistungsempfängers auch gegen dessen Erben ergehen, da dieser entsprechend den §§ 1922, 1967 BGB in die öffentlich-rechtliche Rechtsstellung des Erblasser einrückt (BSG, Urteil vom 15. September 1988, Az.: 9/9a RV 32/86 – juris Orientierungssatz sowie Rn. 11 m.w.N.).

Die Bescheide der Beklagten vom 17. März 2016 und 18. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. August 2016 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten.

Als Rechtsgrundlage für die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide der Beklagten vom 17. März 2016 und 18. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. August 2016 kommen hier nur § 48 Abs. 1 SGB X i. V. m. § 50 SGB X in Betracht.

Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit
1. die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt,
2. der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist,
3. nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde, oder
4. der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.

Nach § 48 Abs. 1 Satz 3 SGB X gilt als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse in den Fällen, in denen Einkommen oder Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum oder aufgrund der besonderen Teile dieses Gesetzbuchs anzurechnen ist, der Beginn des Anrechnungszeitraumes.

In den tatsächlichen Verhältnissen, die dem Bescheid vom 10. April 1996 zugrunde gelegen haben, mit dem der Mutter des Klägers Witwenrente bewilligt worden war, ist mit dem Bezug der Altersrente der Mutter des Klägers zum 1. August 1996 eine wesentliche Änderung eingetreten, denn der Witwenrentenanspruch der Mutter des Klägers bestand in der bisherigen Höhe nicht mehr. Die Mutter des Klägers hat aufgrund des Bezuges von Altersrente nach Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen erzielt, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt hat (§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X i. V. m. § 97 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch, SGB VI). Nach § 97 Abs. 1 Satz 1 SGB VI wird Einkommen (§ 18a Viertes Buch Sozialgesetzbuch, SGB IV) von Berechtigten, das mit einer Witwenrente, Witwerrente oder Erziehungsrente zusammentrifft, hierauf angerechnet. Ein Zusammentreffen, im Sinne eines Zahlungsanspruches für den denselben Zahlungszeitraum (vgl. BSG, Urteil vom 27. Mai 2014, Az.: B 5 R 6/13 R – juris Rn. 17), von Witwenrente und auf die Witwenrente als Einkommen anzurechnende Altersrente (vgl. § 18a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Absatz 3 Satz 1 Nr. 2 SGB IV) lag hier ab dem Bezug von Altersrente aus eigener Versicherung vor.

Sind die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X erfüllt, soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden. Aus dem Wort "soll" geht hervor, dass der Leistungsträger den Verwaltungsakt in der Regel rückwirkend aufheben muss, er allerdings in atypischen Fällen nach seinem Ermessen hiervon abweichen kann (vgl. dazu BSG, Urteil vom 1. Juli 2010, Az.: B 13 R 77/09 R - juris Rn. 57 f.; Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 24. November 2017, Az.: L 5 R 12/14 - juris Rn. 58, jeweils mit weiteren Nachweisen). Die Prüfung, ob ein atypischer Fall gegeben ist, und dadurch eine Verpflichtung zur Ermessensausübung im Rahmen einer Aufhebung nach § 48 SGB X besteht, ist in vollem Umfang durch das Gericht überprüfbar (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 24. November 2017, Az.: L 5 R 12/14 - juris Rn. 58). Bei der Frage, ob ein "atypischer Fall" vorliegt, sind die Umstände des Einzelfalles maßgeblich. Es müssen Anhaltspunkte vorhanden sein, die wesentlich vom typischen Regelfall abweichen. Auch kommt es bei der Frage, ob eine Atypik des Geschehensablaufs vorliegt, auf etwaiges Fehlverhalten auf Seiten des Leistungsträgers an (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2010, Az.: B 13 R 77/09 R – juris Rn. 58 mit weiteren Nachweisen).

Vorliegend ist die Beklagte, nachdem sie ihre Aufhebungsentscheidung auf § 48 SGB X gestützt hat, davon ausgegangen, dass keine atypische Fallgestaltung vorliege. Dies erfolgte zu Unrecht. Eine atypische Fallgestaltung liegt hier vor.

Ein atypischer Fall liegt zunächst nicht aufgrund der Höhe der Erstattungsforderung von 7.458,65 Euro vor. Die finanzielle Belastung begründet für sich genommen keinen atypischen Fall (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 24. November 2017, Az.: L 5 R 12/14 - juris Rn. 59 mit weiteren Nachweisen). Vergleichend verweist die Kammer auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 1. Juli 2010, in dem eine Rückforderung von 31.667,92 Euro streitgegenständlich war (BSG, Urteil vom 1. Juli 2010, Az.: B 13 R 77/09 R – juris). Auch der lange Aufhebungs- und Erstattungszeitraum führt nicht zu einer Atypik. Vielmehr wollte der Gesetzgeber mit der Einführung der Sätze 4 und 5 in § 45 Abs. 3 SGB X gerade ermöglichen, dass eine Rücknahme auch nach Überschreitung der Zehnjahresfrist möglich ist.

Allerdings verkennt die Beklagte, dass ein atypischer Fall hier deshalb gegeben ist, da die Beklagte die Mitteilungspflichten in dem Bescheid vom 10. April 1996 so missverständlich formuliert hat, dass sie durch ihr Verhalten einen besonderen Vertrauenstatbestand in der Gestalt geschaffen hat, dass die Mutter des Klägers darauf vertrauen durfte, dass sie nicht verpflichtet sei, die Beklagte über den Bezug der Altersrente zu informieren. Sie konnte aufgrund der Mitteilungen der Beklagten in dem Bescheid vom 10. April 1996 vielmehr darauf vertrauen, dass sie hinsichtlich des Bezuges der Altersrente keinen Mitteilungspflichten gegenüber der Beklagten unterliege. Maßgeblich ist dabei die Formulierung auf S. 4 des Bescheides vom 10. April 1996: "Die Meldung von Veränderungen erübrigt sich bei Einkommen aus einer in der Bundesrepublik Deutschland ausgeübten rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit oder bei Renten aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung." Indem die Beklagte ausführte, dass sich die Meldung von Veränderungen bei Renten aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung erübrige, hat sie bei der Mutter des Klägers den Eindruck erweckt, es bestünden überhaupt keine Mitteilungspflichten bei einem Bezug von Altersrente. Die Mutter des Klägers konnte aus ihrem Empfängerhorizont davon ausgehen, dass sie hinsichtlich des Bezuges der Altersrente überhaupt keinen Mitteilungspflichten unterliege und die - sich aus ihrer laienhaften Perspektive als Einheit darstellende - Rentenversicherung über das Hinzutreten von Altersrente auch ohne ihre Mitteilung informiert sei. Sofern die Beklagte auf den Wortlaut in dem Bescheid vom 10. April 1996 verweist, wonach sich Meldungen nur bei "Veränderungen" erübrigten, nicht jedoch bei dem "Hinzutreten" von Einkommen oder Erwerbsersatzeinkommen, kann die Beklagte damit nicht durchdringen.

Das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz hat in seinem Urteil vom 15. März 2017 (Az.: L 6 R 163/16) dazu wörtlich wie folgt ausgeführt:

"Denn im Rentenbewilligungsbescheid vom 17.5.1994 stand ausdrücklich der Hinweis, dass sich die Meldung von Veränderungen erübrige, wenn Einkommen aus einer in der Bundesrepublik ausgeübten versicherungspflichtigen Beschäftigung erzielt werde. Soweit die Beklagte meint, dass mit diesem Hinweis nur die "Veränderung" von bereits gemeldeten Erwerbseinkommen, nicht aber das "Hinzutreten" von Erwerbseinkommen aus einer neu aufgenommen Beschäftigung gemeint sei, umfasst das Wort "Veränderung" nach allgemeinem Sprachgebrauch jegliche Änderung, d.h. sowohl den Wegfall als auch das Hinzutreten einer Beschäftigung. Diese Differenzierung ist bereits nicht verständlich. Abgesehen davon ist die Auffassung, eine "Veränderung" sei etwas anderes als ein "Hinzutreten" aber selbst für einen juristisch vorgebildeten Erklärungsadressaten eine feinsinnige und spitzfindige Überlegung, die keinesfalls von einem juristische Laien wie der Klägerin erwartet werden kann." (Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15. März 2017, Az.: L 6 R 183/16 – juris Rn. 47)

Dieser Auffassung schließt sich die Kammer vollumfänglich an. Für einen juristischen Laien sind die Begriffe des "Hinzutretens" und der "Veränderung" schwer bis kaum zu differenzieren. Genaugenommen umfasst der Begriff der "Veränderung" auch das "Hinzutreten". Denn das Hinzutreten und der Wegfall von Erwerbseinkommen bzw. Erwerbsersatzeinkommen bilden die extremsten Formen der Veränderung.

Durch ihre missverständliche Formulierung liegt ein solches Fehlverhalten auf Seiten der Beklagten vor, das bei der Mutter des Klägers den Eindruck erweckte, es bestünden hinsichtlich des Bezuges der Altersrente keine Mitteilungspflichten. Dieses Fehlverhalten muss sich die Beklagte zuschreiben lassen. Aufgrund dieses Verschuldens der Beklagten sowie der Verkennung einer atypischen Fallkonstellation und des dahingehend nicht ausgeübten Ermessens waren die angefochtenen Bescheide aufzuheben. Die Beklagte formulierte die Mitteilungspflichten in dem Bescheid vom 10. April 1996 so missverständlich, dass die unterbliebene Mitteilung allein auf ihr Fehlverhalten zurückzuführen und damit ihrer Verantwortungssphäre zuzuschreiben ist. Aus ihrem laienhaften Empfängerhorizont durfte die Mutter des Klägers davon ausgehen, dass sie auch das Hinzutreten der Altersrente nicht mitzuteilen braucht. Die streitgegenständliche Aufhebung und Erstattungsforderung hält der gerichtlichen Überprüfung aus diesen Gründen nicht stand.

§ 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X kam darüber hinaus als Ermächtigungsgrundlage für die Aufhebung nur für den Zeitraum bis zum Ablauf von zehn Jahren der Bekanntgabe des Bescheides vom 10. April 1996 in Betracht. Nach § 48 Abs. 4 Satz 1 i. V. m. § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X kann ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Dauerwirkung bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden. Nach § 45 Abs. 3 Satz 4 SGB X kann in den Fällen des Satzes 3 ein Verwaltungsakt auch nach Ablauf der Frist von zehn Jahren zurückgenommen werden, sofern es sich um einen Verwaltungsakt über eine laufende Geldleistung handelt, die mindestens bis zum Beginn des Verwaltungsverfahrens über die Rücknahme gezahlt wurde (zur Aufhebung eines Verwaltungsaktes auch nach Ablauf der Frist von zehn Jahren vgl. auch Ausführungen des BSG, Urteil vom 1. Juli 2010, Az.: B 13 R 77/09 R - juris Rn. 38 ff.) Aus dem Verweis des § 45 Abs. 3 Satz 4 SGB X auf Satz 3, der wiederum auf Absatz 2 Satz 3 Nr. 2 und 3 verweist, geht hervor, dass die rückwirkende Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse nach Ablauf der Zehnjahresfrist ein zumindest grob fahrlässiges Verhalten der betroffenen Person voraussetzt, und damit nicht auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X gestützt werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2010, Az.: B 13 R 77/09 R - juris Rn. 45). Grobe Fahrlässigkeit ist gegeben, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (vgl. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 2. Halbsatz SGB X). Die unterbliebene Mitteilung des Bezuges der Altersrente ist, wie ausgeführt, alleine der Verantwortungssphäre der Beklagten zuzuordnen. Aus den oben genannten Gründen kann damit erst recht nicht von einem grob fahrlässigen Verhalten der Mutter des Klägers ausgegangen werden.

Da die Aufhebungsentscheidung zu Unrecht erfolgte, kann danach auch die Erstattungsforderung nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht bestehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §197a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Die Rechtsmittelbelehrung folgt aus § 143 SGG.
Rechtskraft
Aus
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