S 3 SB 2394/15

Land
Freistaat Thüringen
Sozialgericht
SG Gotha (FST)
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
3
1. Instanz
SG Gotha (FST)
Aktenzeichen
S 3 SB 2394/15
Datum
2. Instanz
Thüringer LSG
Aktenzeichen
L 5 SB 746/17 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Bei der Frage der unterlassenen Ermittlungen (§ 192 Abs. 4 SGG) muss sich die beklagte Behörde Versäumnisse der Widerspruchsbehörde zurechnen lassen.
2. Die Entscheidung nach § 192 Abs. 4 SGG ist im Beschwerdeverfahren nicht nur auf Ermessensfehler, sondern in vollem Umfang zu überprüfen. Der Gegenstand der Entscheidung fällt in entsprechender Anwendung von § 157 SGG in vollem Umfang beim Beschwerdegericht an.
3. Weil § 192 Abs. 4 SGG an im Verwaltungsverfahren unterlassene Ermittlungen anknüpft, darf die Frage weiterer behördlicher Untersuchungen im Gerichtsverfahren nicht in die Ermessensentscheidung einfließen. Gleiches gilt für das prozessuale Verhalten im Hinblick auf eine mögliche unstreitige Erledigung des Gerichtsverfahrens. Denn § 192 Abs. 4 SGG soll nicht zur Förderung dieses Zieles dienen, sondern die Behörden zu sorgfältigen Ermittlungen im Verwaltungsverfahren anhalten.
4. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 192 Abs. 4 SGG vor, stellt es regelmäßig eine fehlerfreie Ermessensentscheidung dar, die verursachten Kosten der Behörde aufzuerlegen. Etwas anderes kann sich aufgrund der Umstände des Einzelfalls ergeben, z. B. wenn erforderliche Befunde vom behandelnden Arzt unberechtigt nicht vorgelegt werden.
Die Beschwerde des Beklagten gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 15. Mai 2017 wird zurückgewiesen. Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Gründe:

Die nach § 172 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und auch ansonsten zulässige Beschwerde ist unbegründet. Im Ergebnis hat das Sozialgericht dem Beklagten zu Recht die Kosten des vom Gericht eingeholten Sachverständigengutachtens von Dr. N. nebst ergänzender Stellungnahme auferlegt.

Nach § 192 Abs. 4 Satz 1 SGG kann das Gericht der Behörde ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass die Behörde erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden.

In der Gesetzesbegründung (Bundestags-Drucksache 16/7716, Seite 23) finden sich dazu folgende Erwägungen: "Teilweise werden Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen oder nur unzureichend betrieben und müssen im Sozialgerichtsverfahren nachgeholt werden. Dies führt zu einer Verzögerung des Rechtsstreits. Gleichzeitig findet eine Kostensteigerung statt, da die Ermittlungen im gerichtlichen Verfahren - beispielsweise durch Einschalten externer Gutachter - teurer sind. Schließlich findet auch eine Kostenverlagerung von den Haushalten der Leistungsträger zu den Landesjustizhaushalten statt. Vor diesem Hintergrund soll den Sozialgerichten die Möglichkeit gegeben werden, die Kosten für Ermittlungen, die von der Verwaltung vorzunehmen gewesen wären, dieser aufzubürden. Mit der Regelung sollen im gerichtlichen Verfahren entstandene Kosten, die den Justizhaushalten durch unterlassene Ermittlungen des Leistungsträgers im Verwaltungsverfahren entstehen, "zurückverlagert" werden (Bundestags-Drucksache 16/7716 Seite 23). Dies soll unabhängig vom Verfahrensausgang möglich sein. Die Norm hat mangels eines Sanktionsapparates eine eher präventive Wirkung. Sie hat zum Ziel, die Verwaltungen vor dem Hintergrund der möglichen Kostenfolge zu sorgfältiger Ermittlung anzuhalten, die bei den Gerichten zu Entlastungseffekten führt."

Die Anwendung der Vorschrift des § 192 Abs. 4 Satz 1 SGG setzt "im Verwaltungsverfahren" unterlassene "erkennbare und notwendige Ermittlungen" voraus. Zeitlich kommt es danach auf den Abschluss des Verwaltungsverfahrens, d. h. den Erlass des Widerspruchsbescheides an. Zu diesem Zeitpunkt müssen die später vom Gericht durchgeführten Ermittlungen "notwendig", d. h. entsprechend der Amtsermittlungspflicht der Verwaltung (§§ 20, 21 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X) unverzichtbar gewesen sein; dass sie bloß (möglicherweise) sinnvoll waren, reicht demgegenüber nicht aus. "Erkennbar" waren die Ermittlungen dabei nur dann, wenn sich der Behörde ihre Notwendigkeit ausgehend von den gesetzlichen Bestimmungen und ihrer höchstrichterlichen Auslegung bzw. - mangels einer solchen - von einem vertretbaren Rechtsstandpunkt aus erschließen musste. Die Verpflichtung der Behörde zur umfassenden Ermittlung der für den Einzelfall bedeutsamen Umstände folgt dabei schon aus dem im Verwaltungsverfahren ebenfalls geltenden Untersuchungsgrundsatz nach § 20 Abs. 1 und 2 SGB X. Das ihr hierzu eingeräumte pflichtgemäße Ermessen zur Ermittlung des Sachverhalts erstreckt sich auf die Wahl der zur Aufklärung des Sachverhalts erforderlichen Beweismittel (§ 21 Abs. 1 SGB X), zu denen auch die Anhörung von Sachverständigen gehört (§ 21 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X). Ihr pflichtgemäßes Ermessen verletzt die Behörde dann, wenn sie einen Beweis nicht erhebt, der sich ihr bei vernünftiger Überlegung als für die Entscheidung bedeutsam hätte aufdrängen müssen (von Wulffen in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl. 2010, Rn. 3 zu § 21). Zu ermitteln sind von der Beklagten insoweit alle Tatsachen, für die Entscheidungsfindung in materieller Hinsicht wesentlich sind.

Liegen diese Voraussetzungen vor, erfolgt die Entscheidung über die Auferlegung der Kosten nach billigem Ermessen. Sowohl die Prüfung der Voraussetzungen als auch die Ermessensausübung haben streng bezogen auf die Umstände des Einzelfalles, insbesondere die jeweilige konkrete Ermittlungsmaßnahme, zu erfolgen. Insoweit kann für § 192 Abs. 4 SGG nichts anderes gelten als für die anderen Kostenentscheidungen nach §§ 192, 193, bei denen auch stets auf die individuellen Gegebenheiten des jeweiligen Falles abzustellen ist (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16. April 2010, Az.: L 18 (8) R 199/05, m. w. N.). Die Anwendung des § 192 Abs. 4 SGG setzt nicht voraus, dass das Gericht nach den von ihm nachgeholten Ermittlungen zu einem anderen Ergebnis kommt als die Behörde im Verwaltungsverfahren (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 11. August 2009, Az.: L 4 KR 108/09 B -). Auch kann die Behörde nicht mit Erfolg geltend machen, dass sie gerade die vom Gericht vorgenommenen Ermittlungen für nicht erforderlich hält (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. Mai 2014, Az.: L 11 AS 1343/13 B ER). Etwas anderes gilt nur dann, wenn das gerichtliche Sachverständigengutachten nicht verwertbar ist (vgl. § 8a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 des Gesetzes über die Vergütung von Sachverständigen - JVEG) und der Sachverständige keine Vergütung erhält; dann fehlt es bereits an Kosten im Sinne von § 192 Abs. 4 SGG.

Nach diesen Grundsätzen hat die Beklagte im Verwaltungsverfahren notwendige Ermittlungen unterlassen. Gegenstand des Verfahrens war das Begehren der Klägerin auf Feststellung eines GdB von 50 und der Voraussetzungen einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr i. S. v. § 229 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX i. d. F. des Bundesteilhabegesetzes - BTHG vom 23. Dezember 2016, BGBl. I 2016, S. 3234).

Bezüglich der Gehbehinderung hat der Beklagte mehrere Befundberichte des behandelnden Orthopäden T. A. eingeholt (Befundberichte vom 23. September 2013, Bl. 218 d. VwA., vom 08. August 2014, Bl. 271 d. VwA. und vom 16. April 2015, Bl. 287 d. VwA.). Aus diesen ergeben sich Behinderungen der Kniegelenke, im Befundbericht vom 08. August 2014 ist von einer insgesamt auf unter 1000 m deutlich reduzierten Gehstrecke bzw. keiner schmerzfreien Gehstrecke die Rede. Es wurde zwar ein weiterer Befundbericht des Orthopäden A. eingeholt. Aus dem Befundbericht vom 16. April 2015 (Bl. 287 d. VwA.) ergeben sich jedoch zumindest im Hinblick auf die Gehstrecke keine neuen Erkenntnisse.

Wenn die Angaben hierzu im Befundbericht vom 08. August 2014 für die Zuerkennung der Voraussetzungen einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht ausgereicht haben, hätten sich die vom Sozialgericht durchgeführten Ermittlungen aufgedrängt. Demgegenüber wurde trotz der Angaben im Befundbericht vom 08. August 2014 lediglich ein weiterer, nicht zielführender Befundbericht eingeholt und die Voraussetzungen der Gehbehinderung wurden ohne weitere Ermittlungen unzutreffend verneint, wenn Dr. G. am 11. Mai 2015 unter Bezug auf den Befundbericht des Orthopäden A. vom 8. August 2014 ausführt, dass eine Gehstrecke von 1000 m ohne Hilfsmittel bestätigt werde, obwohl darin ausdrücklich von einer deutlichen Reduzierung der Gehstrecke auf unter 1000 m die Rede ist. Dem entspricht die Angabe im ärztlichen Befundbericht (Bl. 213 Verwaltungsakte), wonach keine schmerzfreie Gehstrecke mehr bestehe. Auf die Kniebeschwerden hatte die Klägerin auch in der Widerspruchsbegründung hingewiesen.

Dabei muss sich der Beklagte das Verhalten der Widerspruchsbehörde (Übernahme der Stellungnahme des Dr. G.) zurechnen lassen, denn das auf Zuerkennung eines GdB bzw. von Merkzeichen durch den Beklagten gerichtete Verwaltungsverfahren, das erst durch den Erlass des Widerspruchsbescheids abgeschlossen wird, ist als Einheit anzusehen.

Unter dem Gesichtspunkt der Ermessensausübung erweisen sich zwar die vom Sozialgericht angestellten Erwägungen als fehlerhaft. Allerdings steht dem Senat im Rahmen der Beschwerde eine eigene Ermessensentscheidung zu, die hier so ausfällt, dass sie zur Zurückweisung des Rechtsmittels führt.

Das Sozialgericht hat sich zur Begründung darauf beschränkt festzustellen, es sei zu beachten, dass der Beklagte auch nach der ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen vom 10. März 2017 (also nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens) ohne weitere eigene Untersuchungen des Klägers durch einen Versorgungs- oder Amtsarzt bezweifelt habe, dass Knorpelschäden mit anhaltenden Reizzuständen vorlägen und an seinem Klageabweisungsantrag festgehalten habe. Für eine nur teilweise Kostenauferlegung, wie sie z. B. im Fall eines sofortigen Anerkenntnisses gerechtfertigt sein könnte, sei daher nach billigem Ermessen kein Raum.

Diese Erwägungen sind im Rahmen des § 192 Abs. 4 SGG nicht ermessensgerecht, weil die Vorschrift ausdrücklich an im Verwaltungsverfahren unterlassene Ermittlungen anknüpft, so dass die Frage weiterer behördlicher Untersuchungen im Gerichtsverfahren schon deshalb nicht in die Entscheidung einfließen darf. Gleiches gilt für das prozessuale Verhalten im Hinblick auf eine mögliche unstreitige Erledigung des Gerichtsverfahrens. Denn § 192 Abs. 4 SGG soll nicht zur Förderung dieses Zieles dienen, sondern die Behörden zu sorgfältigen Ermittlungen im Verwaltungsverfahren anhalten. Das Verhalten der Behörde während des nachfolgenden Gerichtsverfahrens tut in diesem Rahmen nichts zur Sache.

Dieser Ermessensfehler führt jedoch nicht zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung, denn der Senat darf im Rahmen der Beschwerde eine eigene Ermessensentscheidung treffen, die hier dem Ergebnis des sozialgerichtlichen Beschlusses entspricht.

Die Entscheidung nach § 192 Abs. 4 SGG ist im Beschwerdeverfahren nicht nur auf Ermessensfehler, sondern in vollem Umfang zu überprüfen. Die aufgrund des Gewaltenteilungsgrundsatzes geltende Regelung in den §§ 54 Abs. 2 Satz 2 und 131 Abs. 2, 3 SGG ist auf das Beschwerdeverfahren nicht übertragbar, der Gewaltenteilungsgrundsatz ist nicht betroffen. Entgegenstehendes ist auch nicht aus dem Fehlen einer dem § 157 SGG entsprechenden Regelung für das Beschwerdeverfahren zu folgern, vielmehr fällt der Gegenstand der Entscheidung in entsprechender Anwendung von § 157 SGG in vollem Umfang beim Beschwerdegericht an (vgl. Karl in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 1. Aufl. 2017, § 176 SGG Rdnr. 11 m. w. N.).

Der Senat übt das ihm eingeräumte Ermessen dergestalt aus, dass der Beklagte die Kosten der Begutachtung durch Dr. N. (einschließlich der Kosten für die ergänzende Stellungnahme) zu tragen hat. Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 192 Abs. 4 SGG vor, stellt es regelmäßig eine fehlerfreie Ermessensentscheidung dar, die verursachten Kosten der Behörde aufzuerlegen. Etwas anderes kann sich aufgrund der Umstände des Einzelfalls ergeben, z. B. wenn erforderliche Befunde vom behandelnden Arzt nicht vorgelegt werden. Für einen derartigen Ausnahmefall bestehen jedoch hier keine Anhaltspunkte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Das Verfahren nach § 192 Abs. 4 SGG ist ein gesondert geregeltes Nebenverfahren über Kosten eines Hauptsacheverfahrens. Das vorliegende Hauptsacheverfahren ist die Klage des Betroffenen gegen den Beschwerdeführer als Beklagter. In dieser Verfahrensstellung als Beklagter hat der Beschwerdeführer gegen die Kostenentscheidung des Sozialgerichts im angefochtenen Beschluss Beschwerde eingelegt, an der der Kläger/Versicherte nicht beteiligt ist. Die Kostenregelung des § 197a Abs. 1 SGG stellt auf den jeweiligen Rechtszug ab (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl., Rn. 3 zu § 197a). Der Beschwerdeführer ist nicht kostenprivilegiert, denn er gehört nicht zu dem in § 183 SGG genannten Personenkreis. Die allein im Beschwerderechtszug in Betracht kommenden Gerichtskosten sind vom Beschwerdeführer zu tragen, nachdem seine Beschwerde ohne Erfolg war.

Einer Streitwertfestsetzung bedurfte es gemäß § 3 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) nicht, denn die Höhe der anfallenden Gebühren richtet sich nach der anderweitigen Bestimmung der Nr. 7504 der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG, wo eine feste Gebühr ausgewiesen ist. Der Beschwerdeführer als einziger Beteiligter war nicht anwaltlich vertreten. Eine außergerichtliche Kostenerstattung kommt nicht in Betracht.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved