S 8 SB 294/05 ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Augsburg (FSB)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 8 SB 294/05 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 24. Mai 2005 wird abgelehnt.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Der am 1957 geborene Antragsteller begehrt die Ausgabe einer Wertmarke für die Freifahrt im Nahverkehr ohne Entrichtung eines Betrags nach § 145 Abs. 1 Satz 3 SGB IX ab 01.07.2005.

Mit Änderungsbescheid vom 16.08.2004 wurde beim Antragsteller ab 22.06.2004 ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Merkmale für die Merkzeichen "B", "G" und "aG" festgestellt.

Mit Antrag vom 11.04.2005, eingegangen beim zuständigen Versorgungsamt Augsburg am 18.04.2005, wurde eine unentgeltliche Wertmarke mit der Begründung beantragt, dass laufende Leistungen nach dem SGB XII bezogen wurden. Dies wurde vom Beklagten mit Bescheid vom 19.05.2005 abgelehnt, da der Antragsteller keiner der unter § 145 Abs. 1 Satz 5 Nr. 1 bis 3 SGB IX genannten Personengruppe angehöre, zu denen u.a. Bezieher von laufenden Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem SGB XII zählen. Am 24.05.2005 legte der Antragsteller Widerspruch ein und stellte zugleich beim Sozialgericht Augsburg den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz mit dem Anliegen, die unentgeltliche Wertmarke ab 01.07.2005 zu erhalten. Er legte einen Bescheid des Landratsamts A. vom 06.05.2005 in Kopie vor. Dieser wurde in Vollzug des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII, SGB X) erlassen, ist an das Ehepaar W. und P. B. adressiert und bewilligt als Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung vom 01.03.2005 bis 30.06.2005 einen monatlichen Betrag von 509,17 EUR. Im Berechnungsblatt wird für den Zeitraum 03.2005 bis 06.2005 die "monatliche Hilfe für die Bedarfsgemeinschaft" ermittelt, indem für beide Ehegatten jeweils eine getrennte Rechnung durchgeführt wird. Für den Antragsteller als Hausvorstand ergibt sich in der Summe ein Bedarf von 694,88 EUR, auf den die Versichertenrente des Antragstellers aus der Rentenversicherung in Höhe von 754,62 EUR angerechnet wird. Das seinen Bedarf folglich übersteigende Einkommen in Höhe von 59,74 EUR wird als Verteilungsmasse auf den Bedarf seiner Ehegattin (568,91 EUR) angerechnet. Bei der Ehegattin, geb. am 1958, ergibt sich somit eine monatliche Hilfe von 509,17 EUR; bei dem Antragsteller eine monatliche Hilfe von 0,00 EUR.

Der Antragsteller macht geltend, dass er seiner Ehegattin gleichgestellt werde und trotz seiner EU-Rente letztlich nur den Regelsatz eines Empfängers von Leistungen nach dem SGB XII habe. Er beruft sich insofern auf den Gleichbehandlungsgrundsatz, weil er sonst schlechter dastehen würde als ein "echter SGB XII-Bezieher". Dies werde bezüglich Rundfunkgebühren, Telefonanschluss, Zuzahlung bei Medikamenten und Arztbesuchen schon vollzogen.

Er beantragt somit die Ausgabe der Wertmarke zum 01.07.2005, die er zu diesem Datum benötige.

Der Beklagte stellt hingegen auf das Einkommen des Freifahrtberechtigten ab und nicht auf das Einkommen der Bedarfsgemeinschaft und wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 04.07.2005 zurück. Er beantragt entsprechend, den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Akten Bezug genommen.

II.

Der Eilantrag nach § 86b Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist zulässig. Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 9 SGB IX i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 7 SGG ist der Rechtsweg zum Sozialgericht gegeben. Ein Eilantrag ist schon vor Klageerhebung zulässig (§ 86b Abs. 3 SGG), die Klagefrist gegen den Widerspruchsbescheid ist noch nicht abgelaufen.

Das Gericht der Hauptsache (§ 86b Abs. 2 Satz 3 SGG) kann auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile erforderlich erscheint. Grundsätzlich darf eine solche einstweilige Anordnung die endgültige Entscheidung nicht vorwegnehmen; nur ausnahmsweise kann es im Interesse der Effektivität des Rechtsschutzes erforderlich sein, der Entscheidung in der Hauptsache vorzugreifen, wenn sonst Rechtsschutz nicht erreichbar und dies für den Antragsteller unzumutbar wäre (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 8. Auflage, Anmerkung 31 zu § 86 b).

Nach § 145 Abs. 1 SGB IX sind schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechenden gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 im Nahverkehr im Sinne des § 147 Abs. 1 unentgeltlich zu befördern. Voraussetzung ist, dass der Ausweis mit einer gültigen Wertmarke versehen ist (§ 145 Abs. 1 Satz 2). Sie wird gegen Entrichtung eines Betrages von 60 EUR für ein Jahr oder 30 EUR für ein halbes Jahr ausgegeben (§ 145 Abs. 1 Satz 3). Wird sie vor Ablauf der Gültigkeitsdauer zurückgegeben, wird auf Antrag für jeden vollen Kalendermonat ihrer Gültigkeit nach Rückgabe ein Betrag von 5 EUR erstattet, sofern der zu erstattende Betrag 15 EUR nicht unterschreitet. An Schwerbehinderte, die Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz oder Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch oder für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem Zwölften Buch erhalten, wird eine für ein Jahr gültige Wertmarke nach § 145 Abs. 1 Satz 5 Nr. 2 unentgeltlich ausgegeben.

Der Antragsteller ist schwerbehindert mit einem GdB von 100 und erfüllt die gesundheitlichen Voraussetzungen für unentgeltliche Beförderung. Er streitet somit lediglich um die unentgeltliche Ausgabe der Wertmarke ab 01.07.2005.

Die eventuellen ungünstigen Folgen, die sich durch das Abwarten einer Hauptsacheentscheidung für den Antragsteller ergeben können, stellen keinen wesentlichen unzumutbaren Nachteil dar. Ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache könnte insofern zu einem Nachteil des Antragstellers führen, als er zunächst den Betrag von 30 EUR vorstrecken müsste, wenn er die unentgeltliche Beförderung in Anspruch nehmen möchte. Dies erscheint aber - auch angesichts der geringen finanziellen Ausstattung des Klägers - zumutbar.

Dabei geht das Gericht davon aus, dass der Einsatz von 30 EUR im Obsiegensfalle grundsätzlich wieder rückgängig gemacht werden könnte. Ein Anspruch auf rückwirkende Erstattung von Fahrtkosten wird zwar von der Rechtsprechung für den Fall abgelehnt, dass das Merkzeichen "G" rückwirkend zuerkannt wird (vgl. BSG vom 07.11.2001, Az.: B 9 SB 3/01 R). Diese Fallgestaltung weist jedoch wesentliche Unterschiede auf. Während dort eine unentgeltliche Beförderung beim Verkehrsunternehmen nicht rückwirkend nachgeholt werden kann und Wertmarken und Beiblätter nicht für abgelaufene Beförderungszeiträume ausgestellt werden können, liegt es hier anders: Wird die Wertmarke gegen den Betrag von 30 EUR für den Zeitraum eines halben Jahres ausgehändigt, kann eine unentgeltliche Beförderung bei dem Verkehrsunternehmen in Anspruch genommen werden. Im Falle eines Obsiegens des Antragstellers in der Hauptsache ginge es somit nicht um die rückwirkende Zuerkennung einer Begünstigung, sondern um die Rückerstattung eines bestimmten Betrags nach allgemeinen erstattungsrechtlichen Grundsätzen.

Selbst wenn jedoch eine eventuelle Rückabwicklung nicht erfolgreich wäre, ist das Verlustrisiko - jedenfalls in den ersten 4 Monaten - auf 5 EUR pro Kalendermonat begrenzt. Der Antragsteller kann seine Wertmarke wieder zurückgeben und erhält nach § 145 Abs. 1 Satz 4 SGB IX eine Rückerstattung für die verbleibenden vollen Kalendermonate der Gültigkeit. Auch im Hinblick auf die bekannten finanziellen Verhältnisse des Antragstellers handelt es sich bei 5 EUR pro Monat des laufenden Hauptsache-

Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Anordnungsanspruch nach dem Wortlaut des geltenden Rechts nicht besteht und nach summarischer Prüfung ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsanspruch des Art. 3 des Grundgesetzes (GG) nicht erkennbar ist.

§ 145 Abs. 1 Satz 5 Nr. 2 SGB IX stellt ausdrücklich darauf ab, dass die Wertmarke an diejenigen schwerbehinderten Menschen ausgegeben wird, die für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem Zwölften Buch erhalten. Hier ist nur die Ehegattin des Klägers die Leistungsberechtigte im Sinne des § 41 SGB XII. Zwar liegt dem Gericht derzeit nur die Kopie eines Bescheids vor, der Grundsicherung vom 01.03.2005 bis 30.06.2005 gewährt. Im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutz kann jedoch unterstellt werden, dass sich diese Situation ab 01.07.2005 nicht ändert. Nach dem Berechnungsblatt beträgt die monatliche Hilfe für den Antragsteller 0,00 EUR. Dass das Einkommen und Vermögen des Ehegatten nach §§ 43, 19 SGB XII zu berücksichtigen ist und daher das den Bedarf übersteigende Einkommen des Antragstellers als Verteilungsmasse angerechnet wird, macht nicht beide Mitglieder der Einsatzgemeinschaft zu Leistungsberechtigten. Anders als § 7 Abs. 2 und 3 SGB II sieht § 19 SGB XII keine Bedarfsgemeinschaft vor, sondern nur die gemeinsame Berücksichtigung des Einkommens. Eine solche Auslegung im Sinne des Individualisierungsgrundsatzes liegt grundsätzlich im Interesse des Einzelnen, als Rechtssubjekt in individueller Not wahrgenommen zu werden (Schoch, Lehr- und Praxiskommentar SGB XII, 7. Auflage, § 19 Rn. 26 ff), und vermeidet es, den Personen mit bedarfsdeckendem Einkommen die Kehrseiten der Sozialhilfe (sozialhilferechtliche Obliegenheiten) aufzuerlegen.

Dass andere Vorschriften ausdrücklich auf die Hausgemeinschaft (so für die Rundfunkgebührenbefreiung § 6 Abs. 1 Satz 2 Rundfunkgebührenstaatsvertrag in der seit 01.04.2005 geltenden Fassung) abstellen bzw auf die Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt Angehörigen (so für die Ermittlung der Belastungsgrenze für Zuzahlungen nach § 62 Abs. 2 SGB V), verdeutlicht nur, dass unterschiedliche Ansätze vorliegen. Es führt aber nicht zu einer Angleichung des § 145 SGB IX. Eine solche Ausweitung des Kreises der Begünstigten wäre dem Gesetzgeber vorbehalten.

Ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 GG ist dabei nicht erkennbar. Dass die Begünstigung des § 145 Abs. 1 Satz 5 SGB IX pauschalierend an eine bestimmte Leistungsberechtigung (z.B. auf Grundsicherung) anknüpft, die sich wesentlich von anderen Leistungen (z.B. einer Versichertenrente) unterscheidet, und nicht auf die Höhe eines bestimmten zur Verfügung stehenden Finanzvolumens abstellt, erscheint verfassungsrechtlich nicht bedenklich.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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