S 1 U 88/02

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 1 U 88/02
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beklagte trägt die Kosten des Klägers.

Gründe:

Der Kläger erlitt im Rahmen seines Arbeitsunfalles vom 09.12.2000 eine Quetschung des rechten Handgelenkes mit Diskusriss, der operativ versorgt wurde. An der verletzten Hand bestand als Vorschaden ein Zustand nach geburtstraumatischer Schädigung der rechten Schulter mit verbliebener deutlicher Bewegungseinschränkung von Schulter- und Ellenbogengelenk sowie eine Tendovaginitis stenosans D 3-5 rechts. Der Kläger bezog wegen der Folgen des Unfalles vom 09.12.2000 bis zum 30.11.2001 wegen unfallbedingter Arbeitsunfähigkeit Verletztengeld. Am 26.11.2001 beantragte der Kläger sinngemäß die Gewährung von Verletztenrente und wies auf die Notwendigkeit hin, ein Rentengutachten in Auftrag zu geben. Am 03.12.2001 teilte der behandelnde Chirurg W der Beklagten mit Vordruck "Veränderungen besonderer Heilbehandlung" mit, die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage nach vorläufiger Schätzung über die 26. Woche nach dem Unfall hinaus 20 v. H. Am 13.12.2001 wiederholte der Kläger den Inhalt seines Schreibens vom 26.11.2001 und beantragte nochmal ausdrücklich die Zahlung von Verletztenrente. Zur Bescheidung setzte er eine Frist zum 22.12.2001. Gleichzeitig wies er darauf hin, die Beklagte habe sich "bereits in die Untätigkeit begeben". Am 17.12.2001 setzte die Beklagte den Kläger-Bevollmächtigten davon in Kenntnis, dass sie beabsichtige, ein Rentengutachten einzuholen, sobald die beigefügte Gutachterauswahl getroffen werde. Der Kläger entschied sich am 03.01.2002 für den Gutachter O. Am 28.01.2002 lud. O den Kläger für den 11.03.2002 zur Untersuchung ein. Das Rentengutachten vom 13.03.2002 ging am 05.04.2002 bei der Beklagten ein. O bewertete die MdE mit 20 v.H. Siebeneinhalb Wochen später am 28.05.2002 holte die Beklagte hierzu eine Stellungnahme ihres fachärztlichen Beraters T ein. T empfahl, keine Unfallrente zu gewähren (vgl. Stellungnahme vom 28.05.2002). Weder vom Eingang des Gutachtens noch von der Einholung der Stellungnahme setzte die Beklagte den Kläger in Kenntnis. Am 11.06.2002 forderte der Kläger-Bevollmächtigte die Beklagte auf, bis zum 25.06.2002 einen Bescheid zu erteilen. Ansonsten werde Untätigkeitsklage erhoben. Daraufhin teilte die Beklagte dem Kläger-Bevollmächtigten am 17.06.2002 mit, das Gutachten liege ihr vor; es sei vorgesehen, den Rentenausschuss mit der Beschlussfassung im Juli 2002 zu befassen. Am 24.07.2002 schrieb die Beklagte nochmals den Gutachter O an und forderte ihn auf, zur Höhe der unfallbedingten MdE unter Berücksichtigung des Vorschadens Stellung zu nehmen. Gleichzeitig erteilte sie dem Kläger-Bevollmächtigten Zwischenmitteilung, es habe sich die Notwendigkeit einer Rückfrage bei Herrn O zu seinem Gutachten ergeben. Mit dem sich kreuzenden Schreiben vom 22.07.2002 bat der Kläger-Bevollmächtigte um Akteneinsicht. Auf diesen Wunsch reagierte die Beklagte nicht. Zwischen dem Eingang der Stellungnahme von.T am 28.05.2002 und dem erneuten Tätigwerden der Beklagten am 24.07.2002 in Form einer weiteren Anfrage bei O und entsprechender Mitteilung an den Kläger-Bevollmächtigten lagen wiederum acht Wochen. Am 14.10.2002 ging die ergänzende Stellungnahme von. O ein, nachdem die Beklagte ihn am 24.09.2002 erinnert hatte.

Am 00.00.0000 hat der Kläger-Bevollmächtigte Untätigkeitsklage erhoben. Der Kläger-Bevollmächtigte hat geltend gemacht, der Kläger habe am 11.03.2002 den Termin zur Untersuchung bei dem Gutachter O wahrgenommen. Am 17.06.2002 habe die Beklagte mitgeteilt, sie werde die Angelegenheit dem Rentenausschuss vorlegen. Bis zum Tage der Klageerhebung sei ein Bescheid jedoch nicht ergangen.

Das Gericht hat der Beklagten eine Frist von zwei Wochen gesetzt, innerhalb der sie darlegen möge, warum bisher nicht entschieden worden sei. Die Stellungnahme der Beklagten ist am 04.11.2002 eingegangen. Mit Bescheid vom 28.10.2002 hat die Beklagte Rente als vorläufige Entschädigung nach einer MdE von 20 v. H. gewährt.
Der Kläger-Bevollmächtigte hat den Rechtsstreit am 06.11.2002 für erledigt erklärt.

Gleichzeitig hat er beantragt,

der Beklagten die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen.

Die Beklagte hat beantragt,

den Kostenantrag zurückzuweisen.

Der Kläger sei über das laufende Verwaltungsverfahren benachrichtigt worden. Es seien mehrere Rückfragen beim Gutachter erforderlich geworden. Diese hätten einer umfassenden Klärung der Angelegenheit gedient. Der Kläger sei darüber hinaus informiert worden, dass eine Bescheiderteilung nach Vorlage der Stellungnahme des Gutachters erfolgen werde. Ein Versäumnis der Beklagten habe daher nicht vorgelegen.

Gemäß § 193 Abs. 1 2. Halbsatz SGG entscheidet das Gericht auf Antrag über die Kostenerstattungspflicht, sofern sich das Verfahren auf andere Art als durch Urteil erledigt hat, unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen, wobei der Grund für die Klageerhebung und für die Erledigung des Streitverfahrens sowie die Erfolgsaussichten des Begehrens im Zeitpunkt der Erledigung zu berücksichtigen sind. Bei einer Erledigung einer Untätigkeitsklage im Sinne des § 88 SGG fallen die Kosten in der Regel der Beklagten zur Last, wenn der Kläger nach den ihn bekannten Umständen mit seiner Bescheidung vor Klageerhebung rechnen durfte (Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 6. Aufl., § 193 Anm. 13).

Die am 00.00.0000 erhobene Untätigkeitsklage war zulässig. Da der Kläger am 26.11.2001 Antrag auf Rente gestellt hatte, war im Zeitpunkt der Erhebung der Untätigkeitsklage die in § 88 Abs. 1 Satz 1 geregelte Frist von sechs Monaten bereits am 26.05.2002 abgelaufen.

Die Klage war auch begründet, denn zwischen dem Untersuchungstermin am 11.03.2002 und der Zwischennachricht vom 17.06.2002 konnte der Kläger mit einer Bescheiderteilung rechnen. Dem Kläger war nicht bekannt, dass die Beklagte seit dem 05.04.2002 im Besitz des Gutachtens von O war. Vielmehr ließ die Beklagte den Kläger über einen Zeitraum von über drei Monaten in Unkenntnis darüber, dass zwischenzeitlich das Gutachten von. O eingegangen war und weitere Ermittlungen für erforderlich gehalten wurden. Auch hat sie in diesem Zeitraum nicht etwa eine Zwischennachricht an den Kläger gesandt, dass sie dem Gutachten des O noch eine beratungsärztliche Stellungnahme folgen lassen wollte, was nahegelegen hätte, zumal der Kläger seit seiner Untersuchung am 11.03.2002 nichts von der Beklagten gehört hatte. Der Kläger konnte demnach nach den ihm bekannten Umständen - und diese endeten mit seinem Aufsuchen des Gutachters O am 11.03.2002 - damit rechnen, innerhalb der Sechs-Monats-Frist bis zum 28.05. eine Entscheidung über seinen Rentenantrag zu erhalten. Zwar war ihm seit dem 24.07.2002 bekannt, dass die Beklagte noch eine Stellungnahme von O angefordert hatte, so dass eine Klage unmittelbar danach möglicherweise rechtsmissbräuchlich gewesen wäre. Am 14.10. konnte der Kläger jedoch längst wieder mit einer Bescheiderteilung rechnen.

Die nach Ablauf der Frist des § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG ab dem 24.07.2002 erneut eingeleiteten Ermittlungen der Beklagten vermögen die gesetzliche Frist auch nicht zu verlängern. Die Entscheidungsfristen des § 88 SGG verlängern sich jeweils um diejenigen Zeiträume, die im konkreten Fall zu einer vom Normalfall abweichenden Sachbehandlung geführt haben und einen zureichenden Grund darstellen, "noch" nicht zu entscheiden. Ein solcher die der Behörde verbleibende Bearbeitungszeit verlängernder Zeitraum mag in dem Abwarten auf die ergänzende Stellungnahme des O vom 24.07. bis 02.10.2002 zu erblicken sein. Jedoch wäre dieser Zeitraum nur dann geeignet, die gesetzliche Frist zu verlängern, wenn die Beklagte ansonsten nach Antragstellung das Verfahren angemessen gefördert hätte. Das ist jedoch nicht der Fall. So hat die Beklagte den Zeitraum vom 26.11. bis 17.12.2001 nicht genutzt, um die Rentenbegutachtung einzuleiten (3 Wochen). Weiterhin hat sie nach Mitteilung des Kläger-Bevollmächtigten vom 07.01.2002, die Begutachtung möge durch O durchgeführt werden, erst am 18.01.2002 die entsprechende Verfügung veranlasst (11 Tage). Während sodann die Zeit vom 18.01. bis zum Eingang des Gutachtens am 05.04.2002 nicht in den Verantwortungsbereich der Beklagten fällt, vergingen zwischen dem 05.04.2002 und 28.05.2002, als sie sich entschlossen hatte, zu dem Gutachten eine Stellungnahme ihres beratenden Arztes einzuholen, siebeneinhalb Wochen, ohne dass die Beklagte in diesem Zeitraum irgendwie erkennbar die Angelegenheit gefördert hätte. Nach Eingang der Stellungnahme vergingen wiederum 8 Wochen bis sie sich entschied, nochmal O zu hören. Die Beklagte hat daher von sich aus nicht alles getan, um das Verfahren in der maßgeblichen Zeit zum Abschluss zu bringen.

Nach alledem ist das Gericht zu dem Schluss gekommen, dass die Beklagte von sich aus nicht alles getan hat, um das Verfahren in der maßgeblichen Zeit zum Abschluss zu bringen, und dass der Kläger nach den ihm bekannten Umständen damit rechnen durfte, eine Entscheidung innerhalb von sechs Monaten nach Rentenantragstellung bzw. Einstellung des Verletztengeldes zu erhalten (zu diesen Voraussetzungen vergleiche: LSG NRW Beschluss vom 21.02.1996 - L 10 SVs 2/96 -). Gelingt es dem Leistungsträger - wie hier der Beklagten durch ihre Entscheidung, zu dem Gutachten von.O eine beratungsärztliche Stellungnahme einzuholen - erkennbar oder voraussichtlich nicht, das Verfahren fristgerecht zu beenden, ist er gehalten, dem Betroffenen eine - wenn auch nur kurze - Zwischennachricht zu erteilen (vgl. auch LSG NRW Beschluss vom 03.07.1997 - L 10 SVs 6/97 -). Die erste Zwischennachricht, die die Beklagte dem Kläger nach seiner Untersuchung am 11.03.2002 erteilt hat, war die Zwischennachricht vom 17.06.2002, die wiederum offensichtlich zu diesem Zeitpunkt nur deshalb veranlasst wurde, weil sie am 12.06.2002 von dem Kläger-Bevollmächtigten aufgefordert worden war, zur Vermeidung einer Untätigkeitsklage bis zum 25.06.2002 zu entscheiden. Dass der Kläger-Bevollmächtigte sodann, nachdem er mehrfach eine Untätigkeitsklage angedroht hatte und nach der letzten Zwischennachricht der Beklagten vom 24.07.2002 erneut fast drei Monate gewartet hatte, ohne weitere Ankündigung Untätigkeitsklage erhob, kann ihm nicht zum Nachteil gereichen. Der Beklagten hätte es nach dem auch im Verfahrensrecht geltenden Grundsatz der gegenseitigen Rücksichtnahme und der fairen Verfahrensführung wenig Mühe gekostet, mit der Erinnerung des Gutachters an die Fertigstellung der Stellungnahme auch dem Kläger eine kurze Zwischenmitteilung über den Stand des Verfahrens, verbunden mit der Bitte weiter Geduld haben zu wollen, zukommen zu lassen. Dies vor allem vor dem Hintergrund der vorangegangenen eher zähen und unschlüssigen Verfahrensführung.
Rechtskraft
Aus
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