S 17 (12) SB 148/01

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
17
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 17 (12) SB 148/01
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 22.03.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.05.2001 verurteilt, beim Kläger die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches mit dem Merkzeichen "G" ab September 2000 festzustellen. Der Beklagte hat die Kosten des Klägers dem Grunde nach zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darum, ob der Kläger erheblich gehbehindert ist.

Der Beklagte stellte bei dem am 00.00.1952 geborenen Kläger mit Bescheid vom 04.05.1994 einen Grad der Behinderung (i.F.: GdB) von 30 aufgrund einer Funktionseinschränkung der unteren Gliedmaßen (Einzel-GdB 30) sowie einer Funktionsbeeinträchtigung von Herz und Kreislauf (Einzel-GdB 20) fest.

Am 14.09.2000 beantragte der Kläger die Anhebung des GdB sowie die Zuerkennung des Nachteilsausgleiches mit dem Merkzeichen "G" aufgrund des Zustands nach einer Fraktur im Bereich des rechten Fußes, Knie- und Sprunggelenksarthrose, Lendenwirbelsäulensyndrom, Gleichgewichtsstörungen sowie Funktionseinschränkungen in beiden Händen.

Der Beklagte veranlasste eine sozialmedizinische Begutachtung durch den Orthopäden I und stellte mit Bescheid vom 22.03.2001 einen GdB von 50 fest. Den begehrten Nachteilsausgleich lehnt er ab. In dem zugrunde liegenden versorgungsärztlichen Gutachten bewertete I die Funktionseinschränkung der unteren Gliedmaßen sowie von Herz und Kreis lauf weiterhin mit Einzel-Graden von 30 und 20 und stellte zusätzlich eine Funktionsstörung der oberen Extremitäten (Einzel-GdB 30) sowie einen Wirbelsäulenschaden mit geringen funktionellen Auswirkungen (Einzel-GdB 10) fest. Den Widerspruch des Klägers vom 17.04.2001 wies der Beklagte mit Bescheid vom 29.05.2001 zurück.

Hiergegen richtet sich die am 28.06.2001 erhobene Klage.

Beide Beteiligte wiederholen und vertiefen ihr bisheriges Vorbringen.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 22.03.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.05.2001 zu verurteilen, bei ihm die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches mit dem Merkzeichen "G" ab September 2000 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Orthopäden D vom 08.11.2001 sowie eines Zusatzgutachtens des Internisten C vom 17.09.2001. C stellt eine leichtgradige Funktionsstörung von Herz und Kreislauf sowie eine Funktionsstörung der Lunge bei leichtgradiger kombinierter Ventilationsstörung fest und bewertet diese mit Einzelgraden der Behinderung von 10 und 20; eine Einschränkung des Gehvermögens vermag er aus seiner fachärztlichen Sicht nicht festzustellen. D bewertet Funktionseinschränkungen der unteren und oberen Gliedmaßen mit Einzelgraden der Behinderung von jeweils 30, eine Funktionseinschränkung der Wirbelsäule mit einem Einzel-GdB von 20 und übernimmt im Übrigen die Feststellungen des Zusatzgutachters. Die Voraussetzungen des begehrten Nachteilsausgleiches bejaht er unter Verweis auf die Veränderungen im Bereich des linken Kniegelenks und des rechten oberen Sprunggelenks.

Der Beklagte ist den Gutachten unter Verweis auf eine Stellungnahme des Chirurgen X entgegengetreten und hat das Fehlen einer detailliert beschriebenen Untersuchung des einfachen Gangbildes sowie differenzierter Gangbilder gerügt. Zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhaltes hat das Gericht eine ergänzende Stellungnahme von D, der bei seinen bisherigen Feststellungen geblieben ist, sowie ein weiteres Gutachten des Orthopäden T vom 14.08.2002 nebst radiologischem Zusatzgutachten von G vom 24.05.2002 eingeholt. T bestätigt die Diagnosen und Einschätzungen von D und bejaht die gesundheitlichen Voraussetzungen des begehrten Nachteilsausgleiches.

Während der Kläger angesichts des Ergebnisses der medizinischen Beweisaufnahme an seinem Antrag auf Höherbewertung des GdB nicht festgehalten und die Klage auf den Nachteilsausgleich beschränkt hat, ist der Beklagte dem Gutachten von T unter Verweis auf eine erneute Stellungnahme von X entgegengetreten. Er führt aus, der Einzel-GdB für das Funktionssystem "Beine" von 30 erfülle nicht die Voraussetzungen von Ziffer 30 Abs. 3 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit, so dass gerade nicht von einer erheblichen Gehbehinderung ausgegangen werden könne.

Das Gericht hat eine ergänzende Stellungnahme von T vom 13.01.2003 zu den Einwänden des Beklagten eingeholt. Der Sachverständige ist bei seinen Feststellungen geblieben und hat ausgeführt, im vorliegenden Fall bedingten die Behinderungen der unteren Extremitäten sowie der Wirbelsäule zwar keine Einzelgrade der Behinderung von 50, wirkten sich aber derart auf die Gehfähigkeit aus, dass eine erhebliche Gehbehinderung vorliege.

Zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt der genannten Unterlagen verwiesen. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger ist durch die angefochtenen Entscheidungen im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, da er einen Anspruch auf Zuerkennung des Nachteilsausgleiches mit dem Merkzeichen "G" hat.

Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX), das mit Wirkung zum 01.07.2001 an die Stelle des aufgehobenen Schwerbehindertengesetzes getreten ist, werden schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, von Unternehmen, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 SGB IX im Nahverkehr unentgeltlich befördert. In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist gemäß § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Gemäß Ziffer 30 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 (herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, i.F.: Anhaltspunkte), die der medizinischen Beurteilung im Schwerbehindertenrecht verbindlich zugrunde zu legen sind (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 06.06.2002 - L 7 SB 193/00 - und Urteile vom 12.06.2002 - L 7 SB 65/02 und 39/02), gilt als ortsübliche Wegstrecke im Sinne von § 146 Abs. 1 SGB IX eine Strecke von etwa 2 Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird.

Der Kläger ist nicht in der Lage, eine Strecke von ungefähr 2 Kilometern während ungefähr einer halben Stunde zurückzulegen.

Dies entnimmt das Gericht den orthopädischen Sachverständigengutachten von D und T nebst den jeweiligen ergänzenden Stellungnahmen der Sachverständigen. D bewertet die Angaben des Klägers, er müsse nach ungefähr 400 Metern stehen bleiben und eine Pause einlegen, vom orthopädischen Gesichtspunkt her als glaubhaft. Zur Begründung verweist er auf Erkrankungen des linken Knie- und des rechten oberen Sprunggelenkes, eine unter anderem hierdurch bedingte Fehlbelastung der Wirbelsäule sowie periphere arterielle Durchblutungsstörungen unter anderem der Füße.

T schätzt die maximal mögliche Gehstrecke auf ungefähr 500 Meter und verweist zur Begründung auf die von ihm durchgeführten Untersuchungen des Gangbildes.

Beide orthopädische Sachverständigengutachten sind überzeugend. Hinweise darauf, dass Befunde nicht oder unzureichend erhoben oder gewürdigt worden sind, liegen nicht vor. Dass der internistische Sachverständige das Vorliegen einer Gehbehinderung aus seiner fachärztlichen Sicht verneint hat, steht angesichts der Ausführungen, mit denen die orthopädischen Sachverständigen ihr Ergebnis begründen, dem Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme nicht entgegen. Der Beklagte hat zwar hinsichtlich des Gutachtens von D gerügt, die Feststellungen bezüglich des Gehvermögens seien mit den erhobenen Befunden nicht in Einklang zu bringen, dem Gutachten von T hat sich der medizinische Sachverständige des Beklagten jedoch gerade hinsichtlich der Befunddokumentation ausdrücklich angeschlossen.

Den Gründen, aus denen der Beklagte dem Kläger den begehrten Nachteilsausgleich gleichwohl verweigert, vermag sich die Kammer nicht anzuschließen. Der Beklagte führt unter Verweis auf die zweite Stellungnahme von X aus, eine erhebliche Gehbehinderung aufgrund einer Erkrankung der unteren Gliedmaßen könne nur dann vorliegen, wenn diese Behinderung einen Einzel-GdB von mindestens 40 bedinge. Hiergegen sprechen im Wesentlichen zwei Überlegungen.

Auch unter ausschließlicher Zugrundelegung von Ziffer 30 Abs. 3 Satz 2 der Anhaltspunkte hat der Beklagte das Vorliegen einer erheblichen Gehbehinderung zu Unrecht verneint. Nach der genannten Vorschrift können die Voraussetzungen einer erheblichen Gehbehinderung bei Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben sein, wenn diese Behinderungen sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z.B. bei Versteifung des Hüftgelenks, Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung, arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40.

Die beispielhafte Aufzählung von Erkrankungen, die keinen Einzel-GdB von wenigstens 50 bedingen, aber dennoch zu einer erheblichen Gehbehinderung führen können, ist offensichtlich nicht abschließend. Auch kann ihr nicht entnommen werden, dass eine solche Erkrankung insbesondere der unteren Gliedmaßen zwingend einen Einzel-GdB von wenigstens 40 bedingen muss, um zu einer erheblichen Gehbehinderung zu führen. Denn dem Wortlaut der Vorschrift nach bezieht sich das letztgenannte Merkmal allein auf die arteriellen Verschlusskrankheiten, nicht aber auch auf die übrigen beispielhaft genannten Leiden. Ein körperlicher Zustand, der sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirkt im Sinne von Ziffer 30 Abs. 3 Satz 2 der Anhaltspunkte liegt im vorliegenden Fall jedoch vor. Er besteht darin, dass der Kläger - wie insbesondere im Gutachten von D anschaulich geschildert wird - an erheblichen Einschränkungen beider unterer Extremitäten leidet. Angesichts des Hinzutretens einer Wirbelsäulenfehlhaltung erscheint nachvollziehbar, dass trotz der vergleichsweise niedrigen Einzelgrade der Behinderung das Gehvermögen des Klägers ähnlich eingeschränkt ist wie beispielsweise bei der Versteifung eines Hüftgelenks. Denn es kommt für eine Gleichstellung mit den in Ziffer 30 Abs. 3 der Anhaltspunkte genannten Regelbeispielen nicht auf die allgemeine Vergleichbarkeit der Auswirkungen der jeweiligen Gesundheitsstörungen an, wie sie sich letztlich in der Höhe des GdB manifestiert: Entscheidend ist vielmehr allein, dass die Auswirkungen funktional im Hinblick auf die Fortbewegung gleichzuarten sind (Bundessozialgericht, Urteil vom 12.02.1997 - 9 RVs 11/95). Weiterhin erscheint es der Kammer zumindest zweifelhaft, wenn der Beklagte - gerade in Fällen wie dem vorliegenden - vornehmlich oder sogar ausschließlich auf Ziffer 30 Abs. 3 der Anhaltspunkte abstellt. Auch wenn die Kammer die Bedenken, die insbesondere das Sozialgericht Düsseldorf in neuer Zeit gegen die Verbindlichkeit der Anhaltspunkte vorgebracht hat, nicht zu teilen vermag (vgl. die oben zitierte Rechtsprechung des LSG Nordrhein-Westfalen), so bleibt doch festzustellen, dass die Anhaltspunkte im Rang unterhalb des formellen Gesetzes stehen (vgl. BSG, Urteil vom 09.04.1997 - 9 RVs 4/95 m.w.N.). Hieraus ergibt sich, dass sie bei Verstoß gegen höherrangiges Recht, also insbesondere gegen das SGB IX, nicht anzuwenden oder doch zumindest gesetzeskonform und somit restriktiv auszulegen sind (vgl. LSG NRW, Urteil vom 06.06.2002 - L 7 SB 193/00). Wenn nun § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX das Vorliegen einer erheblichen Gehbehinderung lediglich davon abhängig macht, dass Wegstrecken, die üblicherweise im Ortsverkehr noch zu Fuß zurückgelegt werden, nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere zurückgelegt werden können, so darf die dort formell gesetzlich festgeschriebene Anspruchsvoraussetzung für den Nachteilsausgleich mit dem Merkzeichen "G" durch die Anhaltspunkte zwar näher konkretisiert, aber nicht wesentlich beschnitten werden. Eine solche Konkretisierung erfahren die gesetzlichen Voraussetzungen in den Anhaltspunkten etwa dadurch, dass Ziffer 30 Abs. 3 Satz 1 in bestimmten Fällen die Zuerkennung des Nachteilsausgleiches ohne nähere Prüfung der tatsächlichen Gehfähigkeit anordnet.

Auch ist es rechtlich nicht zu beanstanden, wenn Ziffer 30 Abs. 3, 4 und 5 Vergleichsmaßstäbe für bestimmte Fallkonstellationen setzen (Bundessozialgericht, Urteil vom 27.08.1998 - B 9 SB 137/97 R). Untergesetzliche Vorschriften, die derartige Regelbeispiele und Vergleichsmaßstäbe enthalten, dürfen jedoch nicht dahingehend ausgelegt werden, dass durch höherrangiges Recht vorgegebene Tatbestandsmerkmale einer Anspruchsnorm eine substantielle Beschneidung ihres Anwendungsbereiches erfahren.

Demnach darf der Beklagte in Fällen wie dem vorliegenden auch bei der Prüfung des medizinischen Sachverhaltes anhand der genannten Vergleichsmaßstäbe die grundsätzlichen (und - wie dargelegt - wesentlich weiteren) Vorgaben von § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX nicht außer Acht lassen. Er hat sich - wie ebenfalls bereits dargelegt - daher nicht an der Klassifizierung der das Gehvermögen beeinträchtigenden Behinderung und dem hierdurch bedingten Einzel-GdB, sondern vielmehr daran zu orientieren, in welchem Ausmaß eine oder mehrere Behinderungen die Gehfähigkeit des Betroffenen beschränken.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Ausschlaggebend für die volle Kostenlast des Beklagten ist insofern, dass der Beklagte durch seine Ablehnung auch des begehrten Nachteilsausgleiches Anlass zur Klage gegeben hat und durch die Zuvielforderung des Klägers Mehrkosten nicht entstanden sind.
Rechtskraft
Aus
Saved