S 73 KR 176/18

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
73
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 73 KR 176/18
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Erhalten Waisen sowohl eine Waisenrente nach § 48 SGB VI als auch Versorgungsbezüge einer berufsständischen Versorgungseinrichtung und wird die Versicherungspflicht nur über die Rente nach § 48 SGB VI begründet, besteht dennoch auch für die Versorgungsbezüge der berufsständischen Versorgungseinrichtung Beitragsfreiheit.
Die Bescheide vom 14.08.2019, geändert durch die Bescheide vom 05.09.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids 03.01.2018 werden aufgehoben. Es wird festgestellt, dass auch die Versorgungsbezüge der Berliner Ärzteversorgung bis zum Erreichen der Altersgrenze nach § 10 Abs. 2 SGB V beitragsfrei sind.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Beitragspflicht im Rahmen der Versicherungspflicht für Waisen gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11b Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V).

Der Vater der Kläger verstarb am.2017. Die Mutter der Kläger beantragte am 19.06.2017 für die Kläger die Waisenrenten. Ab dem 28.05.2017 erhielten die Kläger eine Halbwaisenrente nach § 48 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) i.H.v. 27,55 Euro (bis zum 30.06.2017) und i.H.v. 28,07 Euro ab dem 01.07.2017. Beide Kläger erhielten zudem ab dem 01.06.2017 jeweils eine monatliche Waisenleistung in Höhe vom 398,25 Euro aus der Berliner Ärzteversorgung.

Mit Bescheiden vom 14.08.217 teilte die Beklagte den Klägern mit, dass die Versorgungsbezüge der Ärzteversorgung Berlin den monatlichen Mindestbetrag in Höhe von 148,75 Euro überstiegen und deshalb ab dem 01.06.2017 daraus Beiträge zu zahlen seien.

Mit Schreiben vom 21.08.2017 legten die Kläger Widerspruch ein und beantragten die Aufnahme in die Familienversicherung rückwirkend zum 01.06.2017.

Mit Bescheiden vom 07.09.2017 wurde der Antrag auf Aufnahme in die Familienversicherung abgelehnt. Da die Halbwaisenrentenanträge am 19.06.2017 gestellt worden seien, bestehe ab diesem Zeitpunkt eine Versicherungspflicht, die eine Familienversicherung ausschließe. Die Kläger legten gegen die Bescheide Widerspruch ein.

Mit Bescheiden vom 05.09.2017 teilte die Beklagte den Klägern mit, dass aufgrund der Versorgungsbezüge der Berliner Ärzteversorgung am dem 19.06.2017 Beiträge zu zahlen seien.

Mit Widerspruchsbescheid vom 03.01.2018 wies die Beklagte die Widersprüche zurück. Seit dem 01.01.2017 seien Waisen und Halbwaisen, die einen Anspruch auf eine Waisenrente nach § 48 SGB VI hätten, ohne Berücksichtigung einer Vorversicherungszeit versicherungspflichtig in der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 5 Abs. 1 Nr. 11b SGB V) und in der sozialen Pflegeversicherung (§ 20 Abs. 1 S. 2 Nr. 11 Sozialgesetzbuch Elftes Buch, SGB XI). Nach § 237 SGB V würde der Beitragsmessung der Zahlbetrag der gesetzlichen Rentenversicherung, der der Rente vergleichen Einnahmen und das Arbeitseinkommen zugrunde gelegt. Die Renten aus Versicherungs- und Versorgungseinrichtungen stellten gemäß § 229 SGB V der Rente vergleichbare Einnahmen dar. Da vorliegend der verstorbene Vater der Kläger zwar Mitglied in eine berufsständischen Versorgungseinrichtung gewesen sei, jedoch zuletzt nicht abhängig beschäftigt gewesen sei, könne über die Versorgungsbezüge der Berliner Ärzteversorgung keine Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 11b SGB V begründet werden. Auf Grund der Waisenrente nach § 48 SGB VI bestehe Versicherungspflicht in der Krankenversicherung der Rentner und die Versorgungsbezüge seien beitragspflichtig.

Am 31.01.2018 haben die Kläger Klage erhoben. Am 29.11.2018 wurde die Klage begründet. Es bestünde Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 11a SGB V. Zudem bestehe auch eine Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 11b SGB V. Gemäß § 237 S. 2 SGB V seien bei Versicherungspflichtigen nach § 5 Abs. 1 Nr. 11b SGB V die dort genannten Leistungen bis zum Erreichen der Altersgrenze des § 10 Abs. 2 SGB V beitragsfrei. Nicht nur die Waisenrenten nach § 48 SGB VI sei deshalb beitragsfrei, sondern auch die Versorgungsbezüge der Berliner Ärzteversorgung.

Die Kläger beantragen sinngemäß,

die Bescheide vom 14.08.2019, geändert durch die Bescheide vom 05.09.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.03.2018 werden aufgehoben. Es wird festgestellt, dass auch die Versorgungsbezüge der Berliner Ärzteversorgung bis zum Erreichen der Altersgrenze nach § 10 Abs. 2 SGB V beitragsfrei sind.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist sie auf den Inhalt der Verwaltungsakte. Sie – die Beklagte – sei der Auffassung, dass die zum 01.01.2017 eingefügte Regelung in § 237 Satz 2 SGB V in Bezug auf § 5 Abs. 1 Nr. 11b SGB V vorliegend nicht einschlägig sei, weil der verstorbene Vater zuletzt nicht als Beschäftigter von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung wegen einer Pflichtmitgliedschaft in einer berufsständischen Versorgungseinrichtung nach § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI befreit gewesen sei. Er sei als niedergelassener Arzt selbstständig gewesen. Die Berliner Ärzteversorgung habe die Fortführung als freiwillige Mitgliedschaft bestätigt. Die Versicherungspflicht der Kläger richte sich nach § 5 Abs. 1 Nr. 11b Buchst. a) SGB V. Das Privileg der Beitragsfreiheit nach § 237 S. 2 SGB V erstrecke sich deshalb nicht auf die Hinterbliebenenversorgung.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung der Kammer ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die dem Gericht vorgelegen hat und Gegenstand der Beratung geworden ist.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hiermit ihr Einverständnis erklärt haben.

Die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs. 1, § 55 SGG) ist begründet. Die Bescheide vom 14.08.2019, geändert durch die Bescheide vom 05.09.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 01.03.2018, sind rechtswidrig und verletzten die Kläger in ihren Rechten. Es besteht keine Beitragspflicht für die Versorgungsbezüge der Berliner Ärzteversorgung.

Die Kläger sind versicherungspflichtig nach § 5 Abs. 1 Nr. 11b SGB V. Ohne diesen mit Wirkung zum 01.01.2017 eingeführten neuen Pflichtversicherungstatbestand, wären sie weiter – beitragsfrei – gemäß § 10 SGB V über ihre Mutter familienversichert geblieben.

§ 5 Abs. 1 Nr. 11b SGB V lautet wie folgt:

"Personen, die die Voraussetzungen für den Anspruch

a) auf eine Waisenrente nach § 48 des Sechsten Buches oder

b) auf eine entsprechende Leistung einer berufsständischen Versorgungseinrichtung, wenn der verstorbene Elternteil zuletzt als Beschäftigter von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung wegen einer Pflichtmitgliedschaft in einer berufsständischen Versorgungseinrichtung nach § 6 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 des Sechsten Buches befreit war,

erfüllen und diese beantragt haben; dies gilt nicht für Personen, die zuletzt vor der Stellung des Rentenantrags privat krankenversichert waren, es sei denn, sie erfüllen die Voraussetzungen für eine Familienversicherung mit Ausnahme des § 10 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 oder die Voraussetzungen der Nummer 11".

Die Kläger erhalten sowohl eine Waisenrente gemäß § 48 SGB VI (28,07 Euro) als auch eine entsprechende Leistung einer berufsständigen Versorgungseinrichtung, der Berliner Ärzteversorgung (398,25 Euro). Sie waren vor Stellung des Rentenantrages nicht privat krankenversichert. Der Vater der Kläger war jedoch nicht "zuletzt als Beschäftigter von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung wegen einer Pflichtmitgliedschaft in einer berufsständischen Versorgungseinrichtung nach § 6 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 des Sechsten Buches befreit". Dabei geht das Gericht zunächst davon aus, dass die Formulierung "zuletzt" nicht bedeutet, dass die Befreiung wegen der Beschäftigung – also eine Pflichtmitgliedschaft – unmittelbar vor dem Tod des Elternteils bestanden haben muss. Der Begriff "zuletzt" ist im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 13 a) SGB V ("zuletzt gesetzlich krankenversichert") durch den Gesetzgeber bewusst statt des Begriffs "unmittelbar" eingeführt worden (vgl. BT-Drucks. 18/1657, S. 62f). Das BSG folgt dem und verneint ausdrücklich, dass die private Absicherung unmittelbar vorangegangen sein muss (BSG, Urteil vom 21. Dezember 2011 – B 12 KR 13/10 R). Es ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber innerhalb einer Norm gleichlautende Begriffe auch gleich auslegt. Es geht bei der in § 5 Abs. 1 Nr. 11b Buchst. b) SGB V verwendeten Formulierung vielmehr darum, dass der verstorbene Elternteil während seines Erwerbslebens zuletzt aufgrund einer wegen einer abhängigen Beschäftigung dem Grunde nach bestandenen Versicherungspflicht Pflichtmitglied in der Versorgungseinrichtung war (BT-Drucks. 18/6905 S. 75f). Dies war hier nicht gegeben, weil der Vater der Kläger zuletzt während seines Erwerbslebens selbstständig tätig war.

Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Versicherungspflicht der Kläger aufgrund ihres Bezuges der Rente nach § 48 SGB VI aus § 5 Abs. 1 Nr. 11b Buchst. a) SGB V. Diese Versicherungspflicht ist aber nach Auffassung der Kammer auch hinsichtlich der Leistungen der Berliner Ärzteversorgung beitragsfrei und zwar bis zum Erreichen der Altersgrenze nach § 10 Abs. 2 SGB V.

Bei versicherungspflichtigen Rentnern werden grundsätzlich gemäß § 327 Satz 1 SGB V der Beitragsbemessung der Zahlbetrag der Rente der gesetzlichen Rentenversicherung (Nr. 1), der Zahlbetrag der der Rente vergleichbaren Einnahmen (Nr. 2) und das Arbeitseinkommen (Nr. 3) zugrunde gelegt. Die – hier nicht streitige – Halbwaisenrente nach § 48 SGB VI wäre demnach grundsätzlich beitragspflichtig. Jedoch ist die Rente so gering (unter 148,75 Euro), dass gemäß § 226 Abs. 2 SGB V keine Beiträge darauf erhoben würden. Die diesen Betrag übersteigenden Versorgungsbezüge der Berliner Ärzteversorgung stellen gemäß § 229 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB V als der Rente vergleichbare Einnahmen (Versorgungsbezüge) dar und unterlägen grundsätzlich der Beitragspflicht.

Vorliegend greift jedoch die ebenfalls mit Wirkung zum 01.01.2017 geschaffene Regelung zur Beitragsfreiheit nach § 237 S. 2 SGB V: "Bei Versicherungspflichtigen nach § 5 Absatz 1 Nummer 11b sind die dort genannten Leistungen bis zum Erreichen der Altersgrenzen des § 10 Absatz 2 beitragsfrei". Unstreitig handelt es sich auch bei den Leistungen der Berliner Ärzteversorgung um "dort genannte" Leistungen ("entsprechende Leistung einer berufsständischen Versorgungseinrichtung"). Dass diese nicht "versicherungsbegründend" sind, ändert daran entgegen der Auffassung der Beklagten nichts. Denn das weitere Tatbestandsmerkmal in § 5 Abs. 1 Nr. 11b Buchst. b) SGB V ("wenn der verstorbene Elternteil zuletzt als Beschäftigter von der ") betrifft allein die Versicherungspflicht und nicht den Leistungstypus. Die Einbeziehung auch der nicht versicherungsbegründenden "dort genannten" Leistungen, also hier der Leistungen der Berliner Ärzteversorgung, trägt der vorliegenden Sondersituation Rechnung. Die Kammer geht davon aus, dass der Gesetzgeber durch die Neuregelungen in § 5 SGB V und § 237 SGB V keine Schlechterstellung der Waisenrentner herbeiführen, sondern ihrer besonderen Lebenssituation Rechnung tragen wollte. Die Möglichkeit der beitragsfreien Familienversicherung ist den Klägern hier aber aufgrund des Bezuges der (sehr geringen) Rente nach § 48 SGB VI seit dem 31.12.2016 verwehrt.

Die Sondersituation der Kläger liegt vorliegend darin, dass sie durch den Bezug von zwei unterschiedlichen Hinterbliebenenversorgungen sozusagen "Doppelrentner" sind. Sie werden einerseits als Bezieher einer gesetzlichen Rente nach § 48 SGB VI aufgrund der Einbeziehung ihres verstorbenen Elternteils in die gesetzliche Rentenversicherung in diesem Versicherungssystem als schutzbedürftig anerkannt. In der Gesetzesbegründung zu § 5 Abs. 1 Nr. 11b Buchst. a) SGB V heißt es: "Waren die Eltern hingegen sowohl in der gesetzlichen Rentenversicherung als auch in der GKV versicherungsfrei oder nicht versicherungspflichtig und haben ihre Absicherung für den Fall der Krankheit sowie für das Alter bzw. ihre Hinterbliebenen regelmäßig eigenverantwortlich bzw. über ein anderes System sichergestellt, besteht auch keine hinreichende Rechtfertigung, ihre Kinder als Waisen in die Pflichtversicherung der GKV einzubeziehen" (BT-Drucks. 18/6905, S. 75). Anders als bei § 5 Abs. 1 Nr. 11b Buchst. b) SGB V schließt der Gesetzgeber allein aus dem Bezug der Rente nach § 48 SGB VI, dass der verstorbene Elternteil versicherungspflichtig war und u.a. die Hinterbliebenenabsicherung nicht eigenverantwortlich geregelt hat. Die Kläger erhalten jedoch zum anderen (und insbesondere) auch Leistungen der Berliner Ärzteversorgung. Hier werden sie aber dem nicht schutzbedürftigen Kreis zugeordnet, weil ihr verstorbener Vater nicht zuletzt Pflichtmitglied in der Versorgungseinrichtung war. Es besteht deshalb nach der Vorstellung des Gesetzgebers keine Notwendigkeit, sie wie die Rentenbezieher nach § 48 SGB VI "in dieser besonderen Lebenssituation mit in die neue Versicherungspflicht als Waisenrentner einzubeziehen" (BT-Drucks. 18/6905, S. 76). Die Kläger können jedoch nicht beides in einer Person sein: Schutzbedürftig und doch nicht in den Schutzbereich einbezogen.

Beide Kläger wären – wenn sie nur die Leistungen der Berliner Ärzteversorgung erhielten – weiterhin über ihre Mutter familienversichert. Allein die Anerkennung ihrer Schutzbedürftigkeit über den Bezug der (hier sogar nur sehr geringen und wegen § 226 Abs. 2 SGB V in keiner Versicherungskonstellation beitragspflichtigen) Rente nach § 48 SGB V führte, folgt man der Auffassung der Beklagten, zu der Situation, dass sie letztlich doch in eine beitragspflichtige Pflichtversicherung "hereingezogen" werden. Dies entspräche jedoch nach Auffassung der Kammer nicht der Intention des Gesetzgebers, die Waisenrentner in ihrer besonderen Lebenssituation zu schützen. Durch die hier vorgenommene Auslegung des § 237 S. 2 SGB V wird die Schlechterstellung der auch als schutzwürdig angesehenen "Doppelwaisenrentner" vermieden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved