S 10 RJ 57/03

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 10 RJ 57/03
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 RJ 42/04 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Sprungrevision wird zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob das Altersruhegeld der Klägerin nach den Vorschriften des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) neu zu berechnen ist.

Die am 00.00.1924 in Lodz/Polen geborene Klägerin ist Verfolgte des Nationalsozialismus. Sie befand sich während der Verfolgung von September 1940 bis August 1944 im Ghetto Lodz und war dort im Schneider-Ressort tätig.

Am 30.11.1991 beantragte sie bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) die Gewährung eines Altersruhegeldes. Auf diesen Antrag gewährte die hier beklagte Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz - an die der Vorgang zwischenzeitlich zuständigkeitshalber abgegeben worden war - mit Bescheid vom 16.06.1999 Altersruhegeld in Höhe von 128,29 DM monatlich ab 01.12.1991. Dabei erkannte die Beklagte u.a. glaubhaft gemachte Pflichtbeitragszeiten vom 01.09.1940 bis 31.08.1944 an. Dagegen legte die Klägerin keine Rechtsmittel ein.

Am 25.07.2002 beantragte die Klägerin bei der Beklagten, ihre Rente neu festzustellen. Die Rente sei nach dem ZRBG auf der Grundlage der bereits anerkannten Versicherungszeiten "voll zu zahlen".

Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 24.10.2002 ab. Der begehrten Neufeststellung der Rente stünde die Vorschrift des § 306 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) entgegen, weil Rechtsänderungen - wie das ZRBG - auf Bestandsrenten keine Auswirkung hätten.

Dagegen erhob die Klägerin Widerspruch. Das ZRBG selbst verbiete weder eine Neufeststellung noch enthalte dieses Gesetz Übergangsvorschriften. Das ZRBG ergänze aber das Gesetz zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts (WGSVG), das Übergangsvorschriften in Art. 4 § 2 Abs. 1 enthalte, wonach Neufeststellungen auch bei Bestandsrenten vorzunehmen seien. Zudem beziehe sich die Ausschlussregelung in § 306 SGB VI nur auf die Vorschriften des SGB VI und nicht auf andere rentenrechtliche Vorschriften wie z.B. das ZRBG.

Diesen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20.02.2003 zurück. § 306 SGB VI beziehe sich auf alle rentenrechtlichen Vorschriften - auch das ZRBG - und nicht nur auf solche des SGB VI. Auch sei hier die Übergangsvorschrift in Art. 4 § 2 Abs. 1 WGSVG nicht einschlägig, da sich diese Bestimmung nur auf das WGSVG selbst beziehe, nicht aber auf das ZRBG, welches zwar das WGSVG ergänze, nicht aber Bestandteil des WGSVG sei.

Hiergegen hat die Klägerin am 05.03.2003 Klage erhoben.

Die Klägerin ist ergänzend der Auffassung, dass der begehrten Neufeststellung § 306 SGB VI nicht entgegenstehe, da § 306 SGB VI eine Ausnahmevorschrift zu § 300 SGB VI sei, wobei sich letztere Norm nur auf Vorschriften des SGB VI beziehe. Daraus folge, dass auch § 306 SGB VI nur Anwendung auf Vorschriften des SGB VI finde, und damit nicht auf das hier in Streit stehende ZRBG. Hierfür spreche auch die Entstehungsgeschichte des ZRBG. Dieses Gesetz habe das Ziel, im Ghetto zurückgelegte Beschäftigungszeiten zur deutschen Rentenversicherung zu berücksichtigen. Dieses Ziel würde aber unterlaufen, wenn solche Bestandsrentner, deren Rentenzahlung auf eigener Beitragsleistung - Nachentrichtung, DP-Lager, freiwillige Beiträge - oder auf der Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten beruhe, vom Anwendungsbereich des ZRBG ausgeschlossen seien. Das entspräche nicht dem Willen des Gesetzgebers. Zudem könnten sich Leistungseinschränkungen im Rahmen einer gesetzlichen Neuregelung nur aus Übergangsvorschriften ergeben, so dass bei fehlender Übergangsvorschrift stets eine Neufeststellung von Leistungen zugunsten der Versicherten stattfinden müsse.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 24.10.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.02.2003 zu verpflichten, den Rentenbescheid vom 16.06.1999 abzuändern und der Klägerin ab 01.07.1997 höheres Altersruhegeld unter Berücksichtigung des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren, hilfsweise die Sprungrevision zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hält an der getroffenen Entscheidung fest. Sie ist weiterhin der Auffassung, dass § 306 SGB VI einen Anspruch auf Neufeststellung der vor Inkrafttreten des ZRBG bereits bestehenden Renten ausschließe.

Im Übrigen wird wegen des weiteren Sach- und Streitstandes auf die Gerichts- und beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten hingewiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 24.10.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.02.2003 beschwert die Klägerin nicht nach § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Diese Bescheide sind rechtmäßig. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Neufeststellung ihres Altersruhegeldes unter Berücksichtigung der Vorschriften des ZRBG. Ein solcher Anspruch folgt nicht aus § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), der einzig als Anspruchsgrundlage in Betracht kommt. Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Eine solche wesentliche Änderung in den rechtlichen Verhältnissen ist hier nicht eingetreten. Das ZRBG vom 20.06.2002 stellt keine Rechtsänderung im vorgenannten Sinne dar. Denn nach § 306 Abs. 1 SGB VI werden aus Anlass von Rechtsänderungen die einer Rente zugrundegelegten persönlichen Entgeltpunkte nicht neu bestimmt, soweit Anspruch auf Leistung einer Rente schon vor dem Zeitpunkt eine Änderung rentenrechtlicher Vorschriften bestand (BSG, Urteil vom 23.05.1995 - 13/4 RA 35/94 -).

§ 306 Abs. 1 SGB VI ist hinsichtlich der Vorschriften des ZRBG einschlägig. Denn § 306 SGB VI bezieht sich auf alle rentenrechtlichen Vorschriften und damit auch auf die Vorschriften des ZRBG. § 1 Abs. 2 ZRBG bestimmt ausdrücklich, dass die Regelungen dieses Gesetzes die rentenrechtlichen Vorschriften des WGSVG ergänzen.

In diesem Zusammenhang folgt nichts anderes aus Art. 4 § 2 Abs. 1 WGSVG. Danach ist auf Antrag die Rente neu festzustellen, wenn aufgrund dieses Gesetzes ein Anspruch auf eine höhere Rente begründet wird. Diese Vorschrift ist in Bezug auf das ZRBG nicht einschlägig. Art. 4 § 2 Abs. 1 WGSVG bezieht sich nur auf die Vorschriften "dieses Gesetzes", also auf das WGSVG selbst. Das ZRBG ist aber - worauf die Beklagte zu Recht hinweist - nicht Bestandteil des WGSVG; es ergänzt nach § 1 Abs. 2 ZRBG nur die Vorschriften des WGSVG. Im Übrigen bezieht sich Art. 4 § 2 Abs. 1 WGSVG nur auf die am 01.02.1971 in Kraft getretene ursprüngliche Fassung des WGSVG vom 22.12.1970. Diese Übergangs- und Schlussvorschrift hat deswegen weitgehend wegen Zeitablaufs ihre Bedeutung verloren (Verbandskommentar, § 1 WGSVG, Rn. 1).

Letztlich sprechen gegen den Ausschluss des Neufeststellungsanspruchs nach § 306 SGB VI auch nicht die von der Klägerin geltend gemachten systematischen Erwägungen. §§ 300 und 306 SGB VI sind nicht dahingehend deckungsgleich auszulegen, dass beide Vorschriften nur für Vorschriften des SGB VI und damit nicht auf andere Rentenvorschriften - wie beispielsweise das ZRBG - Anwendung finden. Dagegen spricht bereits - wie erwähnt - der Wortlaut von § 306 SGB VI, der allgemein auf eine Änderung rentenrechtlicher Vorschriften abstellt, während § 300 Abs. 1 SGB VI ausdrücklich nur auf Vorschriften dieses Gesetzbuches, also des SGB VI Bezug nimmt. Hätte der Gesetzgeber gewollt, dass § 306 SGB VI einer Neufeststellung von Bestandsrenten nur bei Änderungen der Vorschriften des SGB VI entgegensteht, so hätte er einen anderen Wortlaut von § 306 SGB VI gewählt, beispielsweise durch die Formulierung "bei Änderung einer Vorschrift des SGB VI".

Die von der Klägerin geltend gemachte systematische Auslegung von § 306 SGB VI verfängt aber auch aus teleologischen Gründen nicht. Zwar trifft es zu, dass § 306 SGB VI eine Ausnahme von dem "Grundsatz" des § 300 Abs. 1 SGB VI begründet, wonach das neue Recht vom Zeitpunkt seines Inkrafttretens an auf bestehende Ansprüche für danach beginnende Leistungsabschnitte anzuwenden ist (BSG, Urteil vom 09.04.2002 - B 4 RA 58/01 R -). Das Regelungsziel von § 306 SGB VI geht aber nach der Gesetzesbegründung weiter. Danach sollen die für die Feststellung der Rente maßgeblichen persönlichen Entgeltpunkte nicht aus Anlass einer Rechtsänderung jeweils neu bestimmt werden, weil eine solche Neubestimmung schon aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität nicht in Betracht kommt (BT-Drcks. 11/4124, S. 207). Diesem Gesetzeszweck - Verwaltungspraktikabilität, zumal im Rahmen einer Massenverwaltung - stünde es aber entgegen, Bestandsrenten nach Maßgabe des ZRBG neu festzustellen. Dies war - soweit dies jetzt noch nachvollziehbar ist - zumindest auch der Bundesregierung als derjenigen Stelle, von der die Gesetzesinitiative zum ZRBG ausging, bewusst. Dies erklärte sie zumindest auf die kleine Anfrage von Abgeordneten der Fraktion der CDU/CSU in ihrer Antwort vom 08.08.2003 (BT-Drcks. 15/1475, S. 4): "Soweit durch das ZRBG keine besonderen rentenrechtlichen Regelungen getroffen werden, gelten die allgemeinen Regelungen des WGSVG und des SGB VI. Zu den geltenden Regelungen gehört damit auch die Vorschrift des § 306 SGB VI, die sicherstellt, dass Rechtsänderungen nicht zur Neufeststellung von Bestandsrenten und damit weder zur Rentenminderung noch zu Rentenerhöhungen führen. Eine Änderung des ZRBG mit dem Ziel, die Regelung des § 306 SGB VI nicht mehr anzuwenden, würde zu einer großen Zahl von Überprüfungsanträgen führen, wobei aber nur ein sehr kleiner Teil der Antragsteller mit einem höheren Rentenanspruch rechnen könnte ...".

Gegen die hier vertretene Auffassung ist einzig der Hinweis der Klägerin auf Sinn und Zweck des ZRBG beachtlich, greift aber auch im Ergebnis nicht durch. Die Klägerin weist zu Recht darauf hin, dass Bestandsrenten, die allein aufgrund eigener Beitragsleistung (Nachentrichtung) oder aufgrund der Anerkennung von Kindererziehungszeiten geleistet werden, nicht von den neuen Regelungen des ZRBG profitieren. Dadurch finden Beschäftigungen in einem Ghetto, die die Voraussetzungen des ZRBG erfüllen, trotz der hier getroffenen Neuregelungen keine Anerkennung, wenn bereits eine Rente aus nachentrichteten Beiträgen oder Kindererziehungszeiten gezahlt wird. Dies schließt eine gewisse Zahl von Versicherten hinsichtlich der Rentenzahlung aufgrund dieser Beschäftigung aus. Vordringliches Ziel der Erschaffung des ZRBG war es jedoch, Versicherten, die trotz einer freiwilligen und entgeltlichen Beschäftigung in einem Ghetto gar keine Leistungen erhielten, die Auszahlung einer Rente zu ermöglichen. Dieses Ziel wird auch mit der hier vorgenommenen Auslegung des § 306 Abs. 1 SGB VI erreicht. Denn im Sinne des Wiedergutmachungsgedankens, den das WGSVG und das ZRBG verfolgen, trifft den oben beschriebenen Personenkreis keine besondere Härte. Denn die von ihnen erlittenen Verfolgungsmaß- nahmen werden im Rahmen der schon bestehenden Rentenleistung - bei Anwendbarkeit des SGB VI - durch die Anerkennung der Verfolgungszeit als Ersatzzeit gemäß § 250 SGB VI berücksichtigt (SG Düsseldorf, Urteil vom 30.10.2003 - S 15 RJ 43/04 -).

Schließlich gibt es entgegen der Auffassung der Klägerin keinen Grundsatz, dass sich Leistungseinschränkungen im Rahmen einer gesetzlichen Neuregelung nur aus Übergangsvorschriften ergeben können und damit bei fehlenden Übergangsvorschriften stets eine Neufeststellung von Leistungen zugunsten der Versicherten stattfinden müsse. Dies würde dazu führen, dass § 306 Abs. 1 SGB VI nur dann anzuwenden wäre, wenn sich eine Neuberechnung der Rente zu Ungunsten eines Versicherten auswirken würde. Dies ist jedoch unter Berücksichtigung des eindeutigen Wortlauts der Vorschrift, der Entstehungsgeschichte und des Regelungszwecks nicht der Fall (SG Düsseldorf, a.a.O.).

Letztlich kann es zur Überzeugung der Kammer hinsichtlich der hier in Streit stehenden Problematik nur zu einer Neufeststellung der Rente kommen, wenn die maßgeblichen Rechtsvorschriften (§ 306 SGB VI bzw. das ZRBG) geändert werden. Dies ist dem Gesetzgeber vorbehalten.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Die Sprungrevision war nach §§ 161 Abs. 2, 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Die Rechtsfrage, ob § 306 SGB VI eine Neufeststellung von Bestandsrenten nach den Vorschriften des ZRBG ausschließt, ist sicher höchstrichterlich noch nicht geklärt. Gleichzeitig ist eine große Anzahl von Bestandsrentnern durch die Klärung dieser Frage betroffen.
Rechtskraft
Aus
Saved