S 39 RJ 28/01

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
39
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 39 RJ 28/01
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 RJ 112/04
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 28.01.2004 verurteilt, der Klägerin eine Altersrente unter Berücksichtigung einer Beitragszeit vom 01.11.1940 bis 31.01.1943 und Ersatzzeiten nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen nach dem ZRBG ab dem 01.07.1997 zu gewähren. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin Anspruch auf Altersrente aus der deutschen Rentenversicherung hat. Hierbei ist nunmehr umstritten, ob der Klägerin aufgrund ihrer Beschäftigung in Bendzin vom November 1940 bis Januar 1943 eine Beitragszeit nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto vom 20. Juni 2002 (ZRBG) anzuerkennen ist.

Die am 00.00.0000 in C/Q geborene Klägerin ist jüdischer Abstammung und als Verfolgte im Sinne des § 1 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) anerkannt. Im Entschädigungsverfahren wurde der Klägerin mit Bescheid vom 19. Juni 1969 eine Entschädigung für den erlittenen Freiheitsschaden in der Zeit vom 01.01.1941 bis zum 05.05.1945 gewährt. Nach ihren Angaben im Entschädigungsverfahren hielt die Klägerin sich von Ende 1940 bis Anfang 1943 im "Ghetto Bendzin" auf. Anschliessend wurde sie Anfang 1943 bis Anfang 1944 in das Lager Gogolin verbracht und von dort in das Lager Langen-Bielau. Dort wurde die Klägerin im Mai 1945 befreit. Nach der Befreiung kehrte sie zunächst nach Bendzin zurück und siedelte von dort nach Dzierzonow über. Von dort wanderte sie im Jahre 1957 nach Israel aus und besitzt die israelische Staatsangehörigkeit.

Am 27. Mai 1998 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Altersrente unter Berücksichtigung von Fremdbeitragszeiten nach § 17 a FRG. In dem von der Beklagten übersandten Fragebogen gab sie unter dem 09.07.1998 an, sie habe von Ende 1940 bis Anfang 1943 im Ghetto Bendzin gearbeitet.

Die Beklagte zog die Entschädigungsakte der Klägerin bei und nahm hieraus Fotokopien zur Akte. In einer eidestattlichen Versicherung vom 12.02.1967 gab die Klägerin dort an, sie habe nach der Besetzung ihrer Geburtsstadt C den Judenstern tragen müssen und Zwangsarbeiten verrichten müssen. Sie habe in der Fabrik "F bei der Herstellung von Büroartikeln gearbeitet. Als das Ghetto in Bendzin errichtet worden sei, sei sie dort bis Anfang 1943 geblieben; wegen der Einzelheiten wird auf die genannte Erklärung Bezug genommen. Diese Angabe wurde in einer eidesstattlichen Versicherung durch die Erklärung der Zeugin L vom 28.03.1967 sowie der weiteren Zeugin O1 vom 12.02.1967 bestätigt; wegen der Einzelheiten wird auf die genannten Zeugenerklärungen ebenfalls Bezug genommen. Die Beklagte veranlasste im Verwaltungsverfahren die Durchführung einer Sprachprüfung zur Feststellung der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis der Klägerin. Die Klägerin nahm an einer solchen Sprachprüfung jedoch nicht teil.

Mit Bescheid vom 03. November 2000 lehnte die Beklagte die Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen zur deutschen Rentenversicherung und die Zahlung eines Altersruhegeldes nach dem Zusatzabkommen zum Abkommen vom 17. Dezember 1973 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über soziale Sicherheit (DISVA) ab. Zur Begründung führte sie aus, die Klägerin erfülle nicht die Voraussetzungen des § 17 a FRG, da sie das 16. Lebensjahr erst am 12. November 1940 vollendet habe. Zu diesem Zeitpunkt habe sich der nationalsozialistische Einflussbereich auf die eingegliederten deutschen Ostgebiete bereits am 18. September 1939 erstreckt. Ferner sei die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis nicht glaubhaft, da sie trotz Aufforderung keine Sprachprüfung abgelegt habe. Schliesslich seien die behaupteten Beschäftigungen im Ghetto Bendzin von Dezember 1940 bis Januar 1943 als Zwangsarbeiten im Rahmen von Verfolgungsmaßnahmen zu beurteilen, für die keine Versicherungspflicht weder nach deutschen noch nach polnischen Rechtsvorschriften bestehen würde.

Hiergegen legte die Klägerin am 17.11.2000 Widerspruch ein, welcher ohne Begründung blieb. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15.03.2001 zurück.

Hiergegen wandte sich die Klägerin mit der Klage vom 00.00.0000. Sie begehrt weiterhin die Anerkennung von Beitragszeiten in Bendzin, zunächst von Januar 1940 bis März 1943. Zur Glaubhaftmachung reichte sie Erklärungen der Zeugin O2 und N vom Mai 2002 ein. Die genannten Zeuginnen bestätigten, dass die Klägerin von Januar 1940 bis März 1943 im Ghetto Bendzin in der Herstellung für Büroartikel gearbeitet habe. Für ihre Arbeit in der Werkstätte habe sie ein Gehalt erhalten sowie auch für ihre Arbeit im Ghetto Bendzin; wegen der Einzelheiten wird auf die genannten Erklärungen Bezug genommen.

Mit Bescheid vom 28.01.2004 erteilte die Beklagte im Klageverfahren einen Bescheid nach dem ZRBG. Sie lehnte den Antrag auf Bewilligung einer Altersrente nach dem ZRBG ab. Zur Begründung führte sie aus, die behauptete Beschäftigungszeit im Ghetto Bendzin vom 01.12.1940 bis zum 31.12.1942 könne nicht berücksichtigt werden. Nach den vorliegenden Unterlagen sei das Ghetto Bendzin erst im Januar 1943 errichtet worden; wegen der Einzelheiten wird auf den genannten Bescheid Bezug genommen.

Gegen diesen Bescheid wendet sich die Klägerin im anhängigen Klageverfahren. Sie ist der Ansicht, das Ghetto Bendzin habe spätestens ab dem 01.07.1940 bestanden. Dies ergebe sich aus zahlreichen historischen Werken. Hinzuweisen sei insbesondere auf das Werk von Frau T, Die nationalsozialistischen Lager, G 1997, Seite 137, welche den 01.07.1940 als Tag der Ghetto-Einrichtung nenne. Ferner bezeichne die Datenbank von Keom den 01.07.1940 als den Tag der Ghetto-Eröffnung. Ferner sei in Weinmann, Martin, Das nationalsozialistische Lagersystem, 4. Auflage, Frankfurt am Main, 2001, Seite 684 das Errichtungsdatum des Ghetto Bendzin bereits mit dem Monat Januar 1940 beschrieben; wegen der Einzelheiten wird auf den Schriftsatz der Klägerbevollmächtigten vom 26.02.2004 Bezug genommen.

Schliesslich sei auch auf die Ausführungen von Frau Steinbacher, Sybille, "Musterstadt" Auschwitz - Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostoberschlesien, München 2002, hinzuweisen. Frau Steinbauer habe auf Seite 121 ausgeführt, dass die Judenviertel Ostoberschlesiens keine geschlossenen Ghettos waren. Die großen Judenviertel in Bendzin, Sosnowitz und Dombrowa seien als "offene Ghetto" weder eingezäunt noch bewacht gewesen.

Unter Berücksichtigung dieser historischen Kenntnisse sowie der bisherigen Rechtsprechung zum "Ghetto" Bendzin und der seinerzeitigen Praxis der Entschädigungsbehörden könne der Ghetto-Begriff des ZRBG nicht im Sinne der Beklagten ausgelegt werden. Vielmehr sei ein Ghetto im Sinne des ZRBG dann anzunehmen, wenn eine jüdische Selbstverwaltung eingerichtet worden sei, die auch für die Arbeitsbeschaffung zuständig gewesen sei. Das ZRBG habe bei der Verwendung des Begriffs "Ghetto" auf die bisherige Praxis zur Auslegung von Beschäftigungen innerhalb und außerhalb eines Ghettos Bezug nehmen wollen; wegen der Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 30.03.2004 Bezug genommen.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 28.01.2004 zu verurteilen, ihr - der Klägerin - Altersrente unter Berücksichtigung einer glaubhaft gemachten Beitragszeit von November 1940 bis zum 31.01.1943 und Ersatzzeiten nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie vertritt weiterhin die Auffassung, von einer Ghetto-Bildung in Ostoberschlesien könne erst ab Herbst 1942 gesprochen werden. Zur Begründung stützt sie sich auf das Gutachten des Historikers Bodek vom 31.12.2002, eingeholt im Verfahren L 3 RJ 69/99 vor dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen und dort auf die Ausführungen Blatt 32 ff ... Das ZRBG enthalte für den Begriff "Ghetto" keine Legal-Definition. Nach dem Verständnis der NS-Machthaber sei mit dem Begriff "Ghetto" eine vollständige hermetische Abriegelung der jüdischen Bevölkerung von der nichtjüdischen Umgebung gemeint (geschlossene Ghettos). Das wichtigste Merkmal eines Ghettos im Sinne des ZRBG sei demnach das Nichtvorhandensein einer nichtjüdischen Bevölkerung in dem betreffenden Wohngebiet. Ein zwangsweiser Aufenthalt in einem (offenen) Ghetto liege daher erst ab dem Zeitpunkt vor, in dem das Ghetto von den NS-Machthabern in den eingegliederten und besetzten Gebieten erstmals errichtet worden sei mit dem Ziel, die Juden örtlich zu konzentrieren. Im gesamten Gebiet von Ostoberschlesien sei mit der Errichtung von Ghettos erst im Herbst 1942 begonnen worden. Für Bendzin gelte der Zeitpunkt Januar 1943.

Zur weiteren Sachverhaltsdarstellung und bezüglich des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf die Rentenakte der Beklagten, die beigezogene Entschädigungsakte der Klägerin, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen. Darüberhinaus wird auf die geschichtswissenschaftlichen Gutachten des Andrzej Bodek vom 25.07.1997, eingeholt im Verfahren S 4 (3) J 105/93 vor dem Sozialgericht Düsseldorf (im folgenden: Gutachten I), das weitere Gutachten des Herrn Bodek, eingeholt im Verfahren L 14 RJ 74/01 vor dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen vom September 2002 (im folgenden: Gutachten II) und das weitere Gutachten des Historikers Bodek vom 31.12.2002, eingeholt im Verfahren L 3 RJ 69/99 vor dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (im folgenden: Gutachten III), welche ebenfalls Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und hinsichtlich des noch streitigen Anspruchs auf Altersrente nach dem ZRBG begründet.

Die Klägerin wird durch den Bescheid vom 28.01.2004, der gemäß § 96 SGG Gegenstand des anhängigen Verfahrens geworden ist, beschwert, da dieser rechtswidrig ist. Die Klägerin hat Anspruch auf Gewährung von Altersrente wegen Vollendung des 65. Lebensjahres ab dem 01. Juli 1997 unter Berücksichtigung einer Beitragszeit vom 01.11.1940 bis zum 31.01.1943 sowie anzurechnenden Ersatzzeiten.

Nach § 35 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) haben Versicherte Anspruch auf Altersrente, wenn sie das 65. Lebensjahr vollendet und die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Gemäß § 54 Abs. 1 und Abs. 4 SGB VI werden auf die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren Kalendermonate mit Beitragszeiten und Ersatzzeiten angerechnet. Beitragszeiten sind gemäß § 55 SGB VI Zeiten, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind, sowie Zeiten für die Pflichtbeiträge nach besonderen Vorschriften als gezahlt gelten. Dies ist für die hier streitigen Ghetto-Beitragszeiten der Fall. Nach Art. 1 § 2 Abs. 1 Nr. 1 ZRBG gelten Ghetto-Beitragszeiten für die Berechnung der Rente als Beiträge nach den Reichsversicherungsgesetzen für eine Beschäftigung außerhalb des Bundesgebiets.

Diese Regelung findet auf die Klägerin Anwendung, da sie die Voraussetzungen des § 1 ZRBG in der streitigen Zeit vom 01.11.1940 bis zum 31.01.1943 erfüllt.

Gemäß § 1 Abs. 1 ZRBG gilt das Gesetz für Zeiten der Beschäftigungen von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zu Stande gekommen ist, gegen Entgelt ausgeübt wurde und das Ghetto sich in einem Gebiet befand, das vom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedert war. Diese Voraussetzungen sind im Falle der Klägerin im streitigen Zeitraum erfüllt.

Die Klägerin ist Verfolgte im Sinne des § 1 BEG. Sie war von November 1940 bis Januar 1943 im Ghetto Bendzin in einer Werkstätte zur Herstellung und Reparatur von Büroartikeln beschäftigt. Ihre Beschäftigung im Ghetto Bendzin erfüllte zur Erzeugung der Kammer alle Anforderungen, die an ein freiwilliges Beschäftigungsverhältnis gegen Entgelt in einem Ghetto nach dem ZRBG zu stellen sind.

Bei der von der Klägerin geleisteten Arbeit in Bendzin hat es sich um eine Beschäftigung in einem Ghetto im Sinne des § 1 ZRBG gehandelt.

Entgegen der Auffassung der Beklagten setzt der Anwendungsbereich des § 1 ZRBG nicht voraus, dass im Falle eines "offenen Ghettos" dieses von den NS-Machthabern in den eingegliederten und besetzten Gebieten erstmals mit dem Ziel errichtet wurde, Juden örtlich zu konzentrieren. Auch für das weitere von der Beklagten postulierte "wichtigste Merkmal eines Ghettos im Sinne des ZRBG", dem Nichtvorhandensein einer nichtjüdischen Bevölkerung in den betreffenden Wohngebieten, lässt sich weder im Wortlaut, der Entstehungsgeschichte noch nach Sinn und Zweck des ZRBG eine Stütze finden.

Beizupflichten ist der Beklagten allein darin, dass das ZRBG zum Begriff "Ghetto" keine Legal-Definition enthält. Im Hinblick auf die fehlende Legal-Definition hält es die Kammer nicht für sachgerecht bei der Definition und Beschreibung des Begriffs "Ghetto" im Sinne des ZRBG an die Vorstellungen und Definitionen der NS-Machthaber anzuknüpfen. Eine solche Beschreibung der NS-Machthaber findet sich unter anderem in der Verfügung des Regierungspräsidenten in Kattowitz vom 18.01.1941 (zitiert im Gutachten des Historikers Bodek vom 31.12.2002, Seite 32). Dort fasste der zuständige Regierungspräsident in Kattowitz Anfang 1941 in einer Verfügung an die Oberbürgermeister der Stadt Sosnowitz, den Polizeipräsidenten in Sosnowitz sowie den Landrat in Bendzin das Ergebnis der vorherigen Debatte zwischen den Polizeiorganen und der Zivilverwaltung um die Bildung von Ghettos in seinem Regierungsbezirk wie folgt zusammen:"Es herrschte Übereinstimmung darin, dass die Unterbringung von Juden in einem Ghetto, d.h. in einem räumlich von anderen Stadtgebieten abgegrenzten und auch entsprechend äußerlich gesicherten Stadtbezirk, nicht in Frage kommt."

An dieser Definition bzw. Beschreibung eines Ghetto als einen räumlich abgegrenzten Stadtbezirk, welcher auch nach außen gesichert ist, orientiert sich auch der Historiker Bodek in sämtlichen der drei zitierten Gutachten zu Ostoberschlesien (vgl. insbesondere G III, Seite 32 ff.). Unter Zugrundelegung der obigen Ghetto-Definition bejaht er den Beginn einer Ghetto-Errichtung in Bendzin erst im Herbst 1942 (vgl. Bodek G III, Seite 34 ff.; Bodek G I, Seite 6 und 88 ff., insbesondere Seite 113), ebenso die Errichtung eines Ghetto in Sosnowitz im Herbst 1942. Gleichfalls ist den Ausführungen des Historikers Bodek jedoch zu entnehmen, dass vor der behördlichen Organisation der Ghetto-Errichtung im Sinne der NS-Machthaber jüdische Wohnbezirke bzw. Judenviertel sowohl in Bendzin als auch in Sosnowitz bestanden (vgl. Gutachten III, Seite 35 zu Bendzin und Gutachten I, Seite 113 zu Sosnowitz). Diese jüdischen Wohnbezirke existierten zum Teil schon vor der deutschen Besetzung Ostoberschlesiens im Sinne einer selbst gewählten Separierung der jüdischen Bevölkerung in Ostoberschlesien. Die selbstgewählte Separierung in Judenwohnbezirken änderte sich jedoch mit der deutschen Besetzung Ostoberschlesiens durch die zunehmende Beschränkung der Bewegungsfreiheit der jüdischen Bevölkerung (Einführung des sogenannten Judenbands Anfang 1941 sowie die "Anordnung über den Aufenthalt der Juden" vom 31.07.1941). Diese behördlichen Beschränkungen der Bewegungsfreiheit, zunehmende Verdrängungsmaßnahmen und der Zustrom weiterer Juden aufgrund von Vertreibungsaktionen in anderen Orten Ostoberschlesiens führten zu einer Ghettoisierung in den Judenwohnbezirken. Es entstand zunehmend eine aufgezwungene und kontrollierte Separierung der jüdischen Bevölkerung, mit der Folge, dass diese die Lebenssituation in den Judenwohnbezirken als Ghetto wahrgenommen haben. Dies beschreibt auch Bodek, indem er ausführt, die so entstehenden Judenviertel seien zwar "de jure" keine Ghettos gewesen, aber viele jüdische Menschen hätten diesen Zustand "de fakto" als Ghettoisierung empfunden (vgl. Bodek, Gutachten III, Seite 35). Das genannte Fazit Bodeks offenbart, dass er sich bei der Frage der Ghetto-Errichtung ausschliesslich an der Definition und Zielsetzung der NS-Behörden in Ostoberschlesien orientiert und nicht an der tatsächlichen Lebenssituation der jüdischen Bevölkerung. Die Definition und Zielsetzung der NS-Behörden in der Frage der Ghetto-Errichtung, die zudem im Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen stand (vgl. Bodek, Gutachten I, Seite 93, 96, 100) ist zur Überzeugung der Kammer für die Ermittlung eines Zeitpunktes der Ghetto-Errichtung im Sinne des ZRBG ungeeignet.

Für eine solche Auslegung bietet weder der Wortlaut, die Entstehungsgeschichten noch Sinn und Zweck des ZRBG einen Anhaltspunkt. Abzustellen ist vielmehr auf die tatsächliche Lebenssituation der jüdischen Beschäftigten in Ostoberschlesien in Abgrenzung zur Beschäftigung in Zwangsarbeits- und Konzentrationslagern. Der Begriff "Ghetto" im ZRBG ist als Abgrenzungsmerkmal zu Beschäftigungen in Zwangsarbeitslagern und Konzentrationslagern zu verstehen. Er unterstreicht, dass den Verfolgten als der mit dem Begriff "Ghetto" beschriebenen Lebenssituation ein Mindestmaß an Freiheit verblieben sein muss, dass es ihnen ermöglicht hat, aus eigenem Willensentschluss Arbeitsverhältnisse einzugehen (vgl. so auch Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 26.03.2004, Az.: S 11 RJ 182/02).

Speziell für die hier streitige Stadt Bendzin hat Bodek zum Beispiel dargelegt, dass dort trotz der behördlichen Beschränkungen der Bewegungsfreiheit, den Judenwohnbezirken und noch im Zeitpunkt der Judenumsiedlung im Frühjahr 1943 eine Lebenssituation bestand, in der der jüdischen Bevölkerung die freiwillige Aufnahme eines Beschäftigungsverhältnisses gegen Entgelt möglich war (vgl. Bodek, G II, Seite 24 ff., 31 ff.).

Angesichts der unter anderem durch die genannten Bodek-Gutachten gesicherten Beschäftigungssituation der jüdischen Bevölkerung in Bendzin ab 1940 (vgl. bereits Gutachten I, Seite 69 ff.) mutet die Festlegung der Ghetto-Errichtung für die Stadt Bendzin erst im Herbst 1942 oder Januar 1943 durch die Beklagte befremdlich an. Ab dem Herbst 1942 waren die ostoberschlesischen Juden einem permanentem Selektionsprozess ausgesetzt. Neben der Zusammenfassung von Fachkräften an den Produktionsstandorten wurden tausende von jüngeren arbeitsfähigen Juden in Zwangsarbeitslager verschickt. Der Rest der jüdischen Bevölkerung wurde in mehreren Deportationswellen zwischen Mai 1942 und August 1943 in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau abtransportiert und dort umgebracht (vgl. Bodek, Gutachten I, Seite 112, Bodek, Gutachten III, Seite 31 ff.). Mithin hätte die Auslegung der Beklagten zur Folge, dass erst mit der Implementierung der Vernichtungsprogramme und den einsetzenden Deportationen für jüdische Verfolgte in Bendzin die Aufnahme eines freiwilligen Beschäftigungsverhältnisses in einem "Ghetto" im Sinne des ZRBG und damit eine Rentengewährung in Betracht käme. Demgegenüber blieben jüdische Verfolgte, die von 1940 bis Ende 1942 (bei dem von der Beklagten angenommenen Zeitpunkt Januar 1943), in Bendzin in Sammelwerkstätten, privaten Einzelbetrieben, jüdischen Unternehmensbetrieben, jüdischen Einmann-Betrieben sowie Behörden gearbeitet haben (vgl. Bodek, Gutachten II, Seite 30 unter Hinweis auf die Anforderung von Arbeitsausweisen durch den Sonderbeauftragten Schmelt vom Dezember 1941 für seinerzeit ca. 17.000 Juden, die organisatorisch im Arbeitseinsatz erfasst waren) von der Rentengewährung nach dem ZRBG ausgeschlossen. Das ZRBG fände damit auf die Beschäftigungsverhältnisse jüdischer Verfolgter in Ostoberschlesien und speziell in Bendzin für einen Zeitraum keine Anwendung, in der die Zentralisierung des jüdischen Arbeitseinsatzes in Ostoberschlesien von hoher Produktivität für die Ziele der Kriegswirtschaft, hohen Beschäftigungsquoten der jüdischen Bevölkerung und einer Lebenssituation geprägt war, die der jüdischen Bevölkerung noch eine freiwillige Beschäftigungsaufnahme ermöglichte, gekennzeichnet war (vgl. Bodek, Gutachten I, Seite 69 ff.).

Nach alledem setzt die Anwendbarkeit des § 1 ZRBG keinesfalls die Unterbringung in einem räumlich von anderen Stadtgebieten abgrenzten und entsprechend äußerlich gesicherten Stadtbezirken im Sinne der NS-Machthaber voraus. Der Begriff "Ghetto" ist unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck des ZRBG vielmehr als Abgrenzungsmerkmal zu Beschäftigungen in Zwangsarbeitslagern und Konzentrationslagern zu verstehen. Ob ein Beschäftigungsverhältnis in einem "Ghetto" im Sinne des ZRBG vorliegt, ist unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung zur Annahme eines freiwilligen Beschäftigungsverhältnisses zum Beispiel für das "Ghetto Bendzin" zu ermitteln (zum Beispiel BSG - B 13 RJ 67/98 R; LSG NRW, L 8 RJ 52/97 und zahlreichen erstinstanzlichen Entscheidungen des Sozialgerichts Düsseldorf). Der Gesetzgeber hat in Kenntnis der genannten Rechtsprechung in § 1 ZRBG den Begriff "Ghetto" verwandt. Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber von der bisherigen Auslegung der Rechtsprechung für die Annahme einer Beschäftigung in einem Ghetto abweichen wollte, sind nicht ersichtlich.

Nach alledem steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass das ZRBG auf die Beschäftigung der Klägerin im Ghetto Bendzin von November 1940 bis Ende Januar 1943 Anwendung findet. Sie war von November 1940 bis Ende Januar 1941 im Ghetto Bendzin in der Fertigung und Reparatur von Büroartikeln beschäftigt. Ihre Beschäftigung im Ghetto Bendzin erfüllte zur Überzeugung der Kammer alle Anforderungen, die an ein freiwilliges Beschäftigungsverhältnis gegen Entgelt in einem Ghetto nach dem ZRBG zu stellen sind.

Dass die Klägerin im streitigen Zeitraum im Ghetto Bendzin als Arbeiterin in einer Werkstätte für Büroartikel eine fremdnützige Arbeitsleistung erbracht hat, unterliegt nach Auffassung der Kammer im Hinblick auf die übereinstimmenden Angaben der Klägerin im seinerzeitigen Entschädigungsverfahren sowie im jetzigen Rentenverfahren keinem ernsthaften Zweifel. Die Klägerin gab bereits im seinerzeitigen Entschädigungsverfahren an, dass sie in Bendzin bei der Firma "F" bei der Herstellung von Büroartikeln gearbeitet habe. Diese Beschäftigung habe sie bis Anfang 1943 ausgeübt. Diese Angabe wurde im Entschädigungsverfahren bestätigt durch die Erklärung der Zeugin L. Darüberhinaus bestätigen die im Klageverfahren eingereichten Erklärungen der Zeuginnen N und O2 die vorgetragene Beschäftigung im Ghetto Bendzin.

Die Kammer hält es ferner für glaubhaft, dass die Klägerin die Beschäftigung im Ghetto Bendzin aus freiem Willensentschluss aufgenommen hat. Der Annahme eines freiwilligen Beschäftigungsverhältnisses steht nicht entgegen, dass sie im Entschädigungsverfahren in der Erklärung vom 12.02.1967 auch von "Zwangsarbeiten" gesprochen hat. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Furcht vor Deportation und die wirtschaftliche Not auf die jüdische arbeitsfähige Bevölkerung einen massiven mittelbaren Druck ausübten. Sie befanden sich in einer Zwangslage, die es begreiflich erscheinen lässt, dass im Entschädigungsverfahren zum Teil von Zwangsarbeiten berichtet wurde. Darüberhinaus ist mittlerweile historisch umfangreich gesichert, dass jedenfalls im streitigen Zeitraum die Beschäftigungssituation der jüdischen Bevölkerung in Bendzin in Werkstätten oder anderen Betrieben nicht als Zwangsarbeit charakterisiert werden kann (vgl. Bodek, Gutachten II, Seite 15 ff., 31).

Darüberhinaus ist glaubhaft gemacht, dass die Klägerin im streitigen Zeitraum die Beschäftigung gegen Entgelt ausgeübt hat. Es ist historisch gesichert, dass die jüdischen Arbeitskräfte für ihre Arbeit in den Werkstätten in Bendzin bezahlt wurden (vgl. Steinbacher, a.a.O., Seite 152; Bodek, Gutachten I, Seite 57, 72, 105). Diese historischen Erkenntnisse über eine entgeltliche Beschäftigung in den Werkstätten des Ghetto Bendzin stimmen zudem überein mit den vorliegenden Erklärungen der Zeugen N und O2. Diese haben in den eingereichten Erklärungen bestätigt, dass die Klägerin für ihre Arbeit in der Herstellung von Büroartikeln ein Gehalt in Form deutscher Währung erhalten habe. Dies stimmt mit den Feststellungen des Historikers Bodek (vgl. Gutachten I, Seite 84 ff., Seite 120) überein, wonach jüdische Arbeitskräfte regelmäßig in Reichsmark entlohnt wurden. Es existierten Richtlinien zur Entlohnung der jüdischen Arbeitskräfte bei privaten Arbeitgebern, Sammelwerkstätten, Behörden bzw. öffentlichen Betrieben. In diesen Vorschriften war im Einzelnen aufgeführt, welche Abzüge vom Arbeitslohn der jüdischen Arbeitskräfte zu machen waren. Es ist daher grundsätzlich von einer Entlohnung für die geleistete Arbeit der jüdischen Arbeitskräfte in Ostoberschlesien auszugehen.

Als Ersatzzeiten sind unter Berücksichtigung der Feststellungen im Entschädigungsverfahren ferner die Zeit der Freiheitsentziehung und anschliessenden Arbeitslosigkeit bzw. Arbeitsunfähigkeit bis November 1945 nach § 250 Abs. 1 Nr. 4 anzurechnen. Addiert man die 27 Kalendermonate an Beitragszeiten nach dem ZRBG mit den anzurechnenden Ersatzzeiten im Umfange von 34 Kalendermonaten so ist die allgemeine Wartezeit (60 Kalendermonate) erfüllt. Die Klägerin hat daher Anspruch auf Gewährung einer Altersrente ab dem 01.07.1997.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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