S 2 KA 27/17

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
Abteilung
2
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 2 KA 27/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid der Beklagten vom 10.01.2017 wird in Höhe von 4.611,78 EUR aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens zu 1/3, die Beklagte zu 2/3.

Tatbestand:

Streitig ist ein Regress wegen der Verordnung von Heilmitteln.

Die Klägerin ist eine Berufsausübungsgemeinschaft zweier Fachärzte für Orthopädie (und Unfallchirurgie), der bis Ende des Quartals 3/2015 mit I ein weiterer Facharzt für Orthopädie angehörte. Mit dem Facharzt für Orthopädie T1 bildet die Klägerin eine Praxisgemeinschaft.

Zwischen dem 05.11.2012 und dem 22.03.2016 verordneten die Mitglieder der Klägerin für die bei der Beigeladenen zu 1) Versicherte L T2, geb. 00.00.1968, unter dem Indikationsschlüssel EX3d insgesamt 31-mal standardisierte Heilmittelkombinationen (D1) außerhalb des Regelfalls, davon 21 Verordnungen über 6 Einheiten und 10 Verordnungen über 10 Einheiten.

Unter dem 19.07.2016 beantragte die Beigeladene zu 1) die Prüfung dieser Heilmittelverordnungen. Es seien dauerhaft standardisierte Heilmittelkombinationen verordnet worden. Im Rahmen eines Regelfalls seien innerhalb der Diagnosegruppe EX3 maximal 10 Einheiten für standardisierte Heilmittelkombinationen zulässig. Seien standardisierte Heilmittelkombinationen nicht innerhalb des Regelfalls verordnet worden, könnten sie außerhalb des Regelfalls einmalig bis zu der im Regelfall vorgesehenen Gesamtverordnungsmenge verordnet werden.

Im Rahmen der Anhörung schilderten die Mitglieder der Klägerin den gesundheitlichen Zustand der Patientin, der aus ihrer Sicht eine medizinische Notwendigkeit für weitere krankengymnastische Verordnungen begründet habe. Aufgrund eines dreimonatigen behandlungsfreien Intervalls sei ab dem 17.07.2015 von einem neuen Behandlungsfall auszugehen. Ihrer Pflicht zur Begründung der Verordnungen außerhalb des Regelfalls und der weiterführenden Diagnostik seien sie nachgekommen. Auf eine Prüfung und Genehmigung der Verordnungen habe die Beigeladene zu 1) verzichtet, so dass die Verordnungen als genehmigt gegolten hätten. Mit Schreiben vom 23.08.2016 habe die Beigeladene zu 1) der Patientin versprochen, die Kosten der bisher von ihnen verordneten Heilmittel außerhalb des Regelfalls auch weiterhin übernehmen zu wollen. Es könne nicht sein, dass die Krankenkasse der Patientin die Kostenübernahme verspreche und sich dieselben durch einen Regressantrag von ihnen bezahlen lasse.

Mit Bescheid vom 10.01.2017 setzte die Beklagte für die Verordnungen der Patientin L einen Regress in Höhe von 7.217,84 EUR netto fest. Dabei akzeptierte sie eine Verordnungsmenge von 10 Einheiten, die sie auf die Verordnungen vom 05.11.2016 (6-mal D1) und 03.12.2012 (4-mal D1) anrechnete. Alle darüber hinaus gehenden Verordnungen wurden regressiert. Die nachgereichte Genehmigung vom 23.08.2016 habe keine Berücksichtigung finden können.

Hiergegen richtet sich die am 07.02.2017 erhobene Klage.

Die Klägerin nimmt Bezug auf ihren Vortrag im Verwaltungsverfahren und hält es für treuwidrig, dass die Beigeladene zu 1) auf Genehmigungsverfahren verzichte und der Patientin mit Schreiben vom 23.08.2016 sogar ausdrücklich die streitigen Heilmittelverordnungen außerhalb des Regelfalls zugesichert habe, gleichzeitig aber die Verordnungen gegenüber der Beklagten beanstande. Gänzlich außer Betracht gelassen habe die Beklagte, dass durch das - seitens der Klägerin - behandlungsfreie Intervall von Februar bis Juli 2015 ein neuer Behandlungsfall zu unterstellen gewesen sei, bei dem in jedem Falle auch weitere standardisierte Heilmittelkombinationen hätten verordnet werden können.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 10.01.2017 ersatzlos aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verteidigt ihren Bescheid.

Soweit die Gesamtverordnungsmenge über 10 Einheiten außerhalb des Regel-falls hinausgegangen sei, hätten die weiteren Verordnungen einer vorherigen Genehmigung durch die Krankenkasse bedurft. Eine Gestattung in diesem Sin-ne sei aus dem Schreiben der Beigeladenen zu 1) vom 23.08.2016 nicht abzuleiten, denn es betreffe nur etwaige künftige Verordnungen. Im Übrigen habe die Krankenkasse mit weiterem Schreiben vom 23.08.2016 gegenüber der Ver-sicherten Zweifel an der Therapieentscheidung der Kläger geäußert.

Die Beigeladenen stellen keine Prozessanträge.

Die Beigeladene zu 1) teilt mit, sie verzichte zwar auf ein Genehmigungsverfah-ren. Es gelte jedoch auch hier die Heilmittel-Richtlinie. Verordnungen von Leis-tungen, die deren Bestimmungen nicht entsprächen und/oder nicht im Heilmit-tel-Katalog genannt seien, seien unzulässig. Es sei auch nicht von einem be-handlungsfreien Intervall auszugehen. Die Verordnungen vom 06.02.2015, 11.03.2015 und 13.05.2015 seien durch T1 ausgestellt worden. Dessen Praxis sei Bestandteil der Praxisgemeinschaft. Zudem handele es sich durchgängig um Verordnungen außerhalb des Regelfalls.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Dieser ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist zum Teil begründet.

Die Klägerin ist durch den Regressbescheid der Beklagten in Höhe von 4.611,78 EUR beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), weil der Bescheid insoweit rechtswidrig ist. Im Übrigen ist der Bescheid rechtmäßig.

Die Gremien der Wirtschaftlichkeitsprüfung und damit auch die Beklagte sind befugt, Regresse wegen unzulässiger Verordnung von Heilmitteln festzusetzen. Dies ergibt sich aus § 16 Ziffer 1 c der Prüfvereinbarung (Rhein. Ärzteblatt 12/2007, S. 69). Die Ermächtigungsgrundlage hierfür findet sich in § 106 Abs. 2 Satz 4 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V), nach dem die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit den Kassenärztlichen Vereinigungen über die in § 106 Abs. 2 Satz 1 SGB V vorgesehenen Prüfungen hinaus andere arztbezogene Prüfungsarten vorsehen können. Demgemäß ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass den Prüfgremien die Zuständigkeit für Regresse wegen unzulässiger Arznei- und Heilmittelverordnung durch gesamtvertragliche Ver-einbarung übertragen werden darf (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 05.05.2010 - B 6 KA 6/09 R - m.w.N.).

Der von der Beklagten ausgesprochene Regress ist materiell-rechtlich nur zum Teil begründet.

Im Rahmen eines Regelfalls sind innerhalb der Diagnosegruppe EX3 maximal 10 Einheiten für standardisierte Heilmittelkombinationen zulässig. Sind standardisierte Heilmittelkombinationen nicht innerhalb des Regelfalls verordnet worden, könnten sie außerhalb des Regelfalls einmalig bis zu der im Regelfall vorgesehenen Gesamtverordnungsmenge verordnet werden (§ 12 Abs. 5 der Heilmittel-Richtlinien). Im Ansatz zutreffend ist die Beklagte deshalb von einer Verordnungsmenge von 10 Einheiten ausgegangen, die sie auf die Verordnungen vom 05.11.2016 (6-mal D1) und 03.12.2012 (4-mal D1) angerechnet hat. Alle darüber hinaus gehenden Verordnungen wären deshalb nach dem normati-ven Schadensbegriff (vgl. dazu z.B. BSG, Beschluss vom 02.04.2014 - B 6 KA 49/13 B -) zu regressieren gewesen. Denn die Heilmittel-Richtlinien sind gemäß § 91 Abs. 6 SGB V für den Vertragsarzt verbindlich. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) darf in Richtlinien Empfehlungen zur wirtschaftlichen Verord-nung von Heilmitteln und insbesondere zu Gesamtverordnungsmengen und Anwendungsfrequenzen geben. Vorgaben zur Anwendungsfrequenz eines Heilmittels rechnen zum Kernbereich von Regelungen zur Gewährleistung einer wirtschaftlichen Versorgung mit dem entsprechenden Behandlungsverfahren (BSG, Urteil vom 29.11.2006 - B 6 KA 7/06 R -; vgl. auch BSG, Urteil vom 12.11.2013 - B 1 KR 27/12 R - zur Leistungsverpflichtung der Krankenkassen nach den Heilmittel-Richtlinien).

Zutreffend ist die Beklagte auch davon ausgegangen, dass der im Juli 2016 gestellte Prüfantrag der Beigeladenen zu 1) Regressfestsetzungen bis zum ersten Verordnungsdatum (05.11.2012) zulässt. Arzneimittelregresse und Heilmittelre-gresse unterliegen einer vierjährigen Ausschlussfrist, die mit Ablauf des Quartals beginnt, dem die (potenziell) in Regress genommenen Verordnungen zuzu-rechnen sind; diese Frist wird durch einen Prüfantrag der betroffenen Krankenkasse gehemmt (BSG, Urteil vom 15.08.2012 - B 6 KA 27/11 R -).

Allerdings führt dies vorliegend nicht dazu, dass die Beigeladene zu 1) vier Jahre lang ihrer Versicherten hat Heilmittel gewähren dürfen, die dieser nach dem Heilmittel-Katalog wegen Überschreitung der Höchstgrenzen nicht zugestanden hatten, und sich die als unwirtschaftlich anzusehenden Kosten anschließend von den verordnenden Vertragsärzten über einen Verordnungsregress erstatten lässt. Denn insofern verstößt die Krankenkasse gegen ihre Schadensminderungspflicht (§ 254 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB)). Das Bundessozialgericht hat aus dem Sozialrechtsverhältnis die Pflicht der Beteiligten hergeleitet, "sich gegenseitig vor vermeidbarem, das Versicherungsverhältnis betreffenden Schaden zu bewahren" (BSG, Urteile vom 23.03.1972 - 5 RJ 63/70 -; vom 14.12.1995 - 11 Rar 75/95 -; vgl. auch: Krause, Das Sozialrechts-verhältnis, Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes Bd. XVIII (1980), 12, 25). Das gilt in dem Mehreckverhältnis Krankenkasse - Versicherter - Heilmittelerbringer - Vertragsarzt auch im Hinblick auf den Schutz des verordnenden Vertragsarztes.

Der Vergütungsanspruch des Heilmittelerbringers setzt voraus, dass ihm ein Versicherter eine vertragsärztliche Heilmittelverordnung zwecks Versorgung vorlegt. Die ordnungsgemäße vertragsärztliche Verordnung eines Heilmittels, der - wie hier - keine Genehmigungsentscheidung der Krankenkasse folgt, legitimiert den Versicherten, sich frei einen der zugelassenen Leistungserbringer auszusuchen und nach dessen Überprüfung die verordnete Leistung in An-spruch zu nehmen. Sie ist Grundvoraussetzung für einen Vergütungsanspruch des Heilmittelerbringers, der den Anspruch des Versicherten gegen seine Krankenkasse auf Versorgung mit einem Heilmittel erfüllen soll. Als Hilfeleistung einer nichtärztlichen Person darf die Leistung nur erbracht werden, wenn sie ärztlich angeordnet und verantwortet ist (§ 15 Abs. 1 Satz 2 SGB V). Der Vertragsarzt erklärt mit der Heilmittelverordnung in eigener Verantwortung gegenüber dem Versicherten, dem nichtärztlichen Leistungserbringer und der Krankenkasse, dass alle Anspruchsvoraussetzungen des Versicherten (§ 15 Abs. 2 SGB V) auf das verordnete Heilmittel nach allgemein anerkanntem Stand der medizini-schen Erkenntnisse aufgrund eigener Überprüfung und Feststellung erfüllt sind: Das verordnete Heilmittel ist danach nach Art und Umfang geeignet, ausreichend, notwendig und wirtschaftlich, um die festgestellte Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder die festgestellten Krankheitsbeschwer-den zu lindern (vgl. § 27 Abs 1 SGB V). Welche Heilmittel in diesem Sinne nach Art und Umfang geeignet, ausreichend, notwendig und wirtschaftlich sind, hat der G-BA in den für alle Systembeteiligten verbindlichen Heilmittel-Richtlinien festgelegt.

Weiterhin setzt ein Vergütungsanspruch des Heilmittelerbringers voraus, dass er aus seiner professionellen Sicht ebenfalls die Anspruchsvoraussetzungen für die Versorgung des Versicherten mit dem verordneten Heilmittel überprüft und bejaht hat. Heilmittelerbringer sind verpflichtet, die ärztliche Verordnung auf Vollständigkeit und Plausibilität zu überprüfen. Denn nach § 2 Abs. 4 SGB V sowie § 12 Abs 1 Satz 2 SGB V haben auch Leistungserbringer - neben Krankenkassen und Versicherten - darauf zu achten, dass die Leistungen wirksam und wirtschaftlich erbracht und nur im notwendigen Umfang in Anspruch genommen werden. Die Regelung trifft keine Ausnahme für Heilmittelerbringer. Da seine Leistung durch die ärztliche Verordnung veranlasst wird, hat er diese Verordnung auf aus seiner professionellen Sicht zumutbar erkennbare Fehler, also auf Vollständigkeit und Plausibilität, zu überprüfen. Stellt er dabei die Unzulässigkeit der Verordnungen fest, muss er sich mit dem Vertragsarzt oder der Krankenkasse in Verbindung setzen (BSG, Urteile vom 15.11.2007 - B 3 KR 4/07 R -; vom 13.09.2011 - B 1 KR 23/10 R -).

Vor allem hat aber die gesetzliche Krankenkasse als primäre Adressatin des Wirtschaftlichkeitsgebotes die Pflicht, die von dem Heilmittelerbringer eingereichten Rechnungen nebst der ärztlichen Verordnungen sogleich auf eventuelle Fehler zu prüfen und namentlich bei Überschreiten der nach dem Heilmittel-Katalog zulässigen Verordnungsmengen je Diagnose die Vergütungsansprüche des Heilmittelerbringers zurückzuweisen. So hätte vorliegend der Beigeladenen zu 1) zeitnah auffallen müssen, dass in dichter Folge, z.T. mehrfach im Monat, standardisierte Heilmittelkombinationen verordnet und vom Heilmittelerbringer abgerechnet worden sind. Das hätte angesichts ihrer besonderen Sach- und Fachkenntnis im Umgang mit Heilmittel-Verordnungen nach dem Heilmittel-Katalog dazu führen müssen, dass sie entweder ihren Verzicht auf das Genehmigungserfordernis (§ 8 Abs. 4 Heilmittel-Richtlinien) zurücknimmt oder jedenfalls dem Heilmittelerbringer die weitere Vergütung versagt, damit dieser sich mit der Klägerin in Verbindung setzt, um deren Verordnungsentscheidun-gen einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.

Die Kammer lässt sich von der Überlegung leiten, dass spätestens bis zum Jahresende 2013 eine Überprüfung des Sachverhalts und entsprechende Reaktion durch die Beigeladene zu 1) geboten war. Dann war für die Krankenkasse das Haushaltsjahr 2013 abgeschlossen und es hatte seit der ersten Verordnung am 05.11.2012 über ein Jahr lang hinreichend Gelegenheit bestanden, den Schaden zu begrenzen und weitere unwirtschaftliche Verordnungen abzuwehren. Die Kammer hat deshalb aus dem Gesichtspunkt der unterlassenen Scha-densminderungspflicht die Regresse wegen der Verordnungen ab dem 13.01.2014 aufgehoben. Diese belaufen sich auf einen Betrag in Höhe von 4.611,78 EUR. Auf die Rechtswirkungen des Schreibens der Beigeladenen zu 1) an ihre Versicherte vom 23.08.2016, mit welchem sie die Kosten der Heilmittelverordnung außerhalb des Regelfalls auch ohne Genehmigung übernimmt, kommt es angesichts dessen nicht an. Gleiches gilt für die Frage, ob durch das - seitens der Klägerin - behandlungsfreie Intervall von Februar bis Juli 2015 ein neuer Behandlungsfall entstanden war, bei dem auch weitere standardisierte Heilmittelkombinationen hätten verordnet werden können.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 SGG in Verbindung mit §§ 155 Abs. 1 Satz 1, 162 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
Rechtskraft
Aus
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