S 8 KR 148/16

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 8 KR 148/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 28.08.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.01.2016 verur-teilt, die Kosten einer stationären Liposuktion an Oberschenkel, Unterschenkel und Gesäß zu übernehmen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Der Beklagten werden die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auferlegt.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Kostenübernahme für eine Liposuktion an Oberschen-kel, Unterschenkel und Gesäßregion bei einer Lipohypertrophia dolorosa und Lipödem.

Bei der 1980 geborenen Klägerin besteht ein Zustand nach Gewichtsreduktion von 150 kg auf 93 kg nach der Durchführung einer Gastroplastik im Jahr 1999 sowie ein Zustand nach Fettschürzenoperation 2002 und einer Oberschenkelstraffung an den Innenseiten im Jahr 2002. Aktuell besteht eine Lipohypertrophia dolorosa Grad II - III sowie ein Lipö-dem bei einem BMI 36 (109 kg, 1,74 m).

Am 02.08.2014 beantragte die Klägerin unter Vorlage eines Arztbriefes die Übernahme der Kosten für eine Liposuktion. Nach Anhörung des Medizinischen Dienstes der Kran-kenversicherung (MDK) lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 28.08.2014 ab. Es bestehe kein Anspruch auf Durchführung einer Liposuktion. Vorliegend handele es sich um eine ästhetische Maßnahme beim Vorliegen einer Lipohypertrophie.

Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin Widerspruch unter Vorlage einer weiteren medizinischen Bescheinigung. Eine erneute Begutachtung durch den MDK erfolgte aufgrund einer Untersuchung der Klägerin. Anschließend wies der Widerspruchsaus-schuss den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21.01.2016 zurück. Bei einer Lipohypertrophie ohne Lipödem handele es sich um eine ästhetische Maßnahme, wenn auch möglicherweise eine Vorstufe zum Lipödem gegeben sei.

Die Klägerin hat gegen diese Bescheide Klage erhoben, mit der sie weiterhin die Kos-tenübernahme für eine Liposuktion im Bereich der Oberschenkel, Unterschenkel und dem Gesäß mit anschließender Oberschenkelstraffung weiterhin geltend macht. Bei Schmerzhaftigkeit und Bewegungsbehinderungen sei diese Maßnahme medizinisch notwendig.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 28.08.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.01.2016 zu verurteilen, die Kosten einer statio-nären Liposuktion an Oberschenkel, Unterschenkel und Gesäß sowie einer Ober-schenkelstraffung zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält die angefochtenen Bescheide aus den dort ausgeführten Gründen für rechtmä-ßig. Die konservativen Behandlungsmöglichkeiten seien nicht ausgeschöpft und eine ambulante Liposuktion ohne Genehmigung des Gemeinsamen Bundesausschusses nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen erfasst.

Das Gericht hat zur weiteren Ermittlung des Sachverhalts Befundberichte des Chirurgen U des Arztes für Allgemeinmedizin H, des L1 von der Klinik für Venerologie der I1 T. F Klinik P sowie der M von der L2 E1 E2 eingeholt. Des Weiteren hat es das Gutachten des Chirurgen, Gefäßchirurgen, Phlebologen – Lymphologie -, I, vom 15.09.2016 einge-holt. Zur weiteren Sachdarstellung wird auf diese Unterlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist überwiegend begründet. Die Klage ist insoweit begründet, als eine Liposuktion von Oberschenkel, Unterschenkel und Gesäßregion geltend gemacht wird. Hinsichtlich der Oberschenkelstraffung ist die Klage unbegründet.

I. Die Klage ist bezüglich der geltend gemachten Liposuktion von Oberschenkel, Unter-schenkel und Gesäßregion begründet. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind insoweit rechtswidrig. Der Klägerin steht ein Anspruch auf diese Behandlungsmaßnahme als stationäre Maß-nahme zu, §§ 11, 27 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V).

Dieser Anspruch ergibt sich als Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere den Aus-führungen des Gerichtssachverständigen I. Nach seinen Feststellungen liegt bei der Klägerin entgegen den Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden eine behand-lungsbedürftige Erkrankung vor. I stellte eine schmerzhafte Fettverteilungsstörung, eine Lipohypertrophie dolorosa, besonders der Gesäßregion, der Oberschenkel und Unter-schenkel beidseits i.V.m. einem Lipödem mit Bewegungsbehinderungen und sog. Pseu-do-X-Beinstellung vor. Das Vorliegen einer Krankheit wird nunmehr auch von der Beklagten nicht mehr in Fra-ge gestellt.

Nach den weiteren Ausführungen des Gerichtssachverständigen sind die konservativen Behandlungsmöglichkeiten bei dem vorliegenden Befund ausgeschöpft worden bzw. waren erfolglos. Dennoch war das Leiden progredient. Selbst eine stationäre Rehabilita-tionsmaßnahme würde erfahrungsgemäß nur vorübergehend zu einer Umfangsreduzie-rung der Beine und Beschwerdelinderung führen, dagegen nicht zu einem dauerhaften Erfolg. Dies deckt sich mit Erfahrungen der Vorsitzenden in Parallelverfahren. Nachvollziehbar und überzeugend hat der Gerichtssachverständige dargelegt, dass eine Liposuktion als einzige dauerhaft wirksame Therapie medizinisch indiziert sei.

Dem klägerischen Anspruch stand nicht der Vorhalt der Beklagten entgegen, dass die Maßnahme hätte ambulant durchgeführt werden können und gemäß § 135 SGB V ohne Erlaubnis des Gemeinsamen Bundesausschuss nicht in die Leistungspflicht der gesetz-lichen Krankenversicherung falle.

Denn insoweit ist das Gericht der Operateurin des G O Krankenhauses (L E1 E2 ) davon ausgegangen, dass die Maßnahme stationär durchzuführen war. Hinsichtlich der Abgrenzung der medizinischen Notwendigkeit einer Liposuktion als am-bulante oder stationäre Maßnahme folgt das Gericht den vom Hessischen Landessozial-gericht als maßgeblich erachteten Kriterien der Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Ästhetische Chirurgie zur Liposuktion (Urteil vom 05.02.2013 – L 1 KR 391/12 -, Rn. 18; juris.de):

"Ausweislich der ärztlichen Stellungnahme von Dr. QQ. und des beigezogenen Gutachtens von Prof. ÜÜ., Universitätsmedizin ND., vom 5. November 2012 bemisst sich die Frage der Notwendigkeit einer ambulanten bzw. stationären Liposuktion nach den Mengen des abzusaugenden Fettgewebes und den damit zusammenhängenden spezifischen Komplikationsmöglichkeiten (z.B. Fettem-bolie). Diese Differenzierung entspricht den GÄCD-Leitlinien zur Liposuktion, die im ambulanten Bereich eine maximale Aspirationsmenge von 2.000 ml rei-nem Fettgewebe vorsehen und bis 4.000 ml Aspirationsmenge eine gewährleis-tete postoperative Nachbetreuung bis 24 Stunden für notwendig erachten. Die im Rahmen dieser Leitlinien genannten Kriterien sind nach der Auffassung des Senats trotz der Tatsache, dass sie für den außerhalb des Leistungsspektrums der GKV liegenden Anwendungsbereich der ästhetischen Chirurgie entwickelt worden sind, als Grundlage für die Abgrenzung zwischen ambulanter und stati-onärer Behandlungsbedürftigkeit vorliegend heranzuziehen, da sie eine umfas-sende medizinische Relevanz besitzen. Nach Dr. QQ. ist bei der Klägerin dem-entsprechend aufgrund der Menge der abzusaugenden lipödem-typischen Fettmassen (je Sitzung zwischen 3 bis 4 Liter Fett) eine stationäre Behandlung notwendig. Ergänzend weist Dr. OO. im Rahmen seiner Stellungnahme vom 13. August 2012 darauf hin, dass aufgrund der Adipositas der Klägerin zudem ein erhöhtes Operationsrisiko besteht. Die Notwendigkeit einer stationären Kran-kenhausbehandlung - die obigen Kriterien unterstellt - bestätigt im Ergebnis auch die MDK-Gutachterin, Frau Dr. PP., im Rahmen ihres Gutachtens vom 20. August 2012."

Vorliegend war die bei einem rein ambulanten Eingriff mögliche Aspirationsmenge von max. 2000 ml überschritten, da vorliegend bei der Klägerin 6000 ml Fettgewebe pro Sit-zung entfernt werden muss. Bestätigt sieht sich die Kammer in dieser Einschätzung zudem durch den Umstand, der sich in mehreren anderen Klageverfahren ergeben hat, dass selbst Therapeuten im Raum Düsseldorf Köln sich auf die Liposuktion bzw. Liposkulptur spezialisiert haben (I2 D), ihren Patientinnen lediglich formal eine ambulante Behandlung anbieten bzw. Be-handlungen als ambulant bezeichnen. Denn regelmäßig bleiben ihre Patientinnen nach dem Eingriff auch während der nächsten Nacht noch zur Beobachtung.

Zu einer anderen Entscheidung konnten auch nicht die von der Beklagten in Bezug ge-nommenen Urteile verschiedener Landessozialgerichte aus den Jahren 2015 und 2014 führen. Bereits in diesen Jahren war diese Rechtsprechung nach Auffassung der er-kennenden Kammer nicht mehr von den gesetzgeberischen Maßgaben der §§ 135, 137c SGB V gedeckt. So bestimmte § 137c Abs. 1 S. 2 SGB V: "Ergibt die Überprüfung, dass der Nutzen einer Methode nicht hinreichend belegt ist und sie nicht das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative bietet, erlässt der Gemeinsame Bundesausschuss eine entsprechende Richtlinie " Hiermit hatte der Gesetzgeber bereits im Jahr 2013 ausdrücklich klargestellt, dass die Auswertung wissenschaftlicher Erkenntnisse allein dem fachkompetenten Gemeinsa-men Bundesausschuss überlassen bleibt und nicht der Rechtsprechung (so wie es auch die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers für die Einführung der §§ 135, 137c SGB V gewesen ist). So braucht, kann und darf im vorliegenden Fall auch nicht durch die Rechtsprechung entschieden zu werden, welche der unterschiedlichen Bewertungen zur Liposuktion zu-treffend(er) ist: die des MDK einerseits oder der Deutschen Fachgesellschaft für Phlebo-logie (DGPI) andererseits (Nachweise hierzu beim LSG NRW, Urteil vom 16.1.2014 - L 16 KR 558/13 –, veröffentlicht unter www.sozialgerichtsbarkeit.de, Stichwort: Entscheidun-gen, Rn. 43,44). Die von Landessozialgerichten selbst vorgenommene bzw. vom MDK übernommene Be-urteilung, dass keine ausreichenden Studien im Sinne eines Wirksamkeitsnachweises vorlägen, und die Schlussfolgerung, dass damit ein Anspruch auf stationäre Behand-lung ausscheide, erschien vor allem im Hinblick auf die in § 137c Abs. 1 S. 2 SGB V vom Gesetzgeber ausdrücklich eingeräumte Möglichkeit, dass eine im Krankenhaus ange-wandte Behandlungsmethode (lediglich) das "Potenzial einer erforderlichen Behand-lungsalternative bietet", als mit dem Gesetz nicht mehr vereinbar. Erst wenn auch diese Möglichkeit des "Potenzials einer erforderlichen Behandlungsal-ternative" kumulativ auszuschließen war, war vom Gesetzgeber ein Ausschluss der Be-handlungsmethode im stationären Bereich durch den Gemeinsamen Bundesausschuss vorgesehen. Diese Möglichkeit wurde in den abschlägigen Entscheidungen der Landessozialgerichte nicht berücksichtigt. Sie führten vielmehr entgegen der Intention des Gesetzgebers, die fachlichen Entscheidungen aus der Rechtsprechung auf den Gemeinsamen Bundes-ausschuss zu übertragen, zu der Notwendigkeit, wissenschaftliche Bewertungen wieder durch die Gerichte durchführen zu lassen, was vorliegend ggf. das Einholen einer Stel-lungnahme der Fachgesellschaft für Phlebologie zu ihrer Leitlinie geboten hätte. Darüber hinaus erscheint die von der Beklagten in Bezug genommene höhergerichtliche Rechtsprechung jedenfalls seit dem Inkrafttreten des GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) vom 16.7.2015 nicht mehr maßgeblich. Denn mit der durch dieses Gesetz erfolgten Einführung des § 137c Abs. 3 SGB V hat der Gesetzgeber in Reaktion auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (und gegebenenfalls auch der Landessozi-algerichte) ausdrücklich klargestellt, dass die "jüngste höchstrichterliche Rechtsprechung (vgl. etwa BSG, Urteil vom 21.März.2013, Az. B 3 KR 2/12 R) mit dem in § 137c SGB V zum Ausdruck gebrachten Regelungsgehalt in einem Wertungswiderspruch steht" (BT-Drucks. 18/4095, S. 121). Es erfolgte durch den Gesetzgeber eine "gesetzliche Konkreti-sierung und Klarstellung". "Eine Methode, deren Nutzen nach Feststellung des Ge-meinsamen Bundesausschusses zwar noch nicht hinreichend belegt ist, die aber das Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative bietet, kann nach den gesetzli-chen Vorgaben im Rahmen der Krankenhausbehandlung weiterhin zu Lasten der Kran-kenkassen erbracht werden." (BT-Drucks. a.a.O., Unterstreichung durch die Autorin).

Vorliegend ist hinsichtlich der streitigen Behandlung der Liposuktion auch von einem Potenzial einer erforderlichen Behandlungsalternative auszugehen. Dies ergibt sich aus dem Gutachten des Sachverständigen, der im vorliegenden Fall neben wirkungslosen und erfolglosen konservativen Behandlungsmethoden die Liposuktion als einzige Be-handlungsmöglichkeit zur Entfernung des schmerzenden Fettgewebes sieht. Hier findet sich der Gerichtssachverständige in Übereinstimmung mit den Einschätzungen von Sachverständigen in anderen Verfahren (siehe z.B. die rechtskräftigen Urteile Sozialge-richts Düsseldorf S 8 KR 1051/12, S 8 KR 449/13, S 8 KR 825/12, S 8 KR 528/12).

II. Im Übrigen und hinsichtlich der Oberschenkelstraffung ist die Klage unbegründet. Nach den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen kann über die Frage einer medizinischen Notwendigkeit und Indikation für eine Oberschenkelstraffung erst nach Abschluss des erfolgten Begriffs der Liposuktion beurteilt werden. Der Sachver-ständige ist nicht von einer zwangsläufig eintretenden Indikation ausgegangen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved