S 21 SB 1168/14

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
21
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 21 SB 1168/14
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der 1960 geborene Kläger begehrt von dem Beklagten die Feststellung der Voraussetzungen des Merkzeichens aG und des Merkzeichens RF jeweils ab dem 28. März 2013.

Im Rahmen einer Begutachtung im gerichtlichen Verfahren S 26 RA 45/03 vor dem Sozialgericht Düsseldorf stellte der gerichtlich bestellte Sachverständige S in einem nervenfachärztlichen Gutachten vom 31. Januar 2005 unter anderem fest:

"Der Kläger wurde nicht operiert, er ist auch nicht ins Erwerbsleben zurückgekehrt, die psychische Symptomatik hat sich weiterhin vertieft. Eine von Herrn W vorgeschlagene ambulante psychologische Betreuung und Begleitung scheitert letztlich daran, daß der Kläger im Rahmen seiner Persönlichkeitsveränderung mit einer völligen Fehleinschätzung über keine entsprechende Krankheitseinsicht verfügt und nicht zu einer solchen Behandlung zu motivieren ist."

In Rahmen einer Begutachtung im gerichtlichen Verfahren S 31 SB 130/06 vor dem Sozialgericht Düsseldorf stellte der gerichtlich bestellte Sachverständige T1 in seinem fachchirurgisch-orthopädischen Gutachten am 13. Januar 2007 unter anderem fest:

"Außerdem pendelt der große Bruch zwischen beiden Oberschenkelbereichen, sodass es dadurch zu erheblicher Einschränkung des Gehvermögens kommt, beim Gehen (vorwärts- und Rückwärtsführen der Beine pendelt der große Bruch zwischen den Beinen hin und her, was einmal zum Zug auch der Gewebe, Gefäße und Nerven im Oberschenkelbereich führt, die Beschwerden im Beinbereich sind sicher darauf zurückzuführen, ebenfalls die Gefühlsstörung im inneren rechten Beinbereich, die durch den Zug verursacht werden."

Der Sachverständige T1 ging dabei von einem Grad der Behinderung von 20 auf orthopädischem Gebiet aus.

Mit bestandskräftigem Bescheid vom 9. November 2007 stellte der Beklagte nach dem Rechtsstreit einen Grad der Behinderung von 80 und das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen G fest.

In dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein-Westfalen 8 A 2038/12 schlossen der Kläger und die Stadt I im Jahr 2013 einen Vergleich, in dem sich die Stadt I verpflichtete, erneut über die Bewilligung einer Ausnahmegenehmigung von Parkerleichterungen für Schwerbehinderte unter der Rechtsauffassung des Senats des Oberverwaltungsgerichts des Landes Nordrhein-Westfalen zu entscheiden. Der Senat führte in dem Vergleich zugrunde liegenden Beschluss vom 9. September 2013 unter anderem aus:

"Der Kläger hat bereits im Klageverfahren mit Schriftsatz einer Prozessbevollmächtigten vom 25. Mai 2012 angegeben, er könne keine 100 m ohne Pause zu Fuß zurücklegen. Dieser Vortrag ist nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen (vgl. fachchirurgisch-orthopädisches Gutachten des T1 vom 13. Januar 2007, 17 f.). Der Kläger hat seinen Vortrag im Zulassungsverfahren mit Schriftsatz vom 24. September 2012 konkretisiert, indem er dargelegt hat, dass bei ihm eine ins Detail gehende Auseinandersetzung mit seinem Gesundheitszustand erforderlich gewesen wäre, um beurteilen zu können, welches Gehleistungsvermögen unter Berücksichtigung der Hernie, der Hautirritation und der Wirbelsäulenschädigung tatsächlich noch vorhanden ist. Diese Tatsachenlage ist im anhängigen Verfahren von Relevanz, da für die gerichtliche Entscheidung der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgeblich ist."

Der Kläger stellte am 28. März 2013 bei dem Beklagten einen Änderungsantrag und begehrt die Feststellungen der Voraussetzungen des Merkzeichens aG und des Merkzeichens RF. Mit Bescheid vom 31. Juli 2013 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Gegen diesen ablehnenden Bescheid legte der Kläger am 23. August 2013 Widerspruch ein. Im Widerspruchsverfahren ging der Beklagte von dem Vorliegen der folgenden Gesundheitsstörungen aus:

• Psychische Fehlhaltung mit chronischer Persönlichkeitsveränderung; Sensibilitätsstörung der rechten Körperhälfte: Einzel-GdB 50 • Hüftgelenkverschleiß beidseitig: Einzel-GdB 30 • Wiederholt operierter Leistenbruch mit Rezidiv; Narbenbeschwerden: Einzel-GdB 20 • Chronische Bronchitis: Einzel-GdB 10 • Beginnende koronare Herzerkrankung: Einzel-GdB 10 • Chronische Herzerkrankung; Allergie: Einzel-GdB 10

Insgesamt ging der Beklagte im Widerspruchsverfahren von einem Grad der Behinderung von 80 und dem Vorliegen der Voraussetzungen des Merkzeichen G aus. Den Widerspruch vom 23. August 2013 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 2014 als unbegründet zurück.

Am 20. Juni 2014 hat der Kläger Klage erhoben.

Der Kläger trägt vor, dass er aufgrund der Hernie in seiner Bewegung erheblich eingeschränkt sei und bezweifelt die Ergebnisse der gerichtlichen Beweisaufnahme.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 31. Juli 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 2014 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, das Vorliegen der Voraussetzungen der Merkzeichen "aG" und "RF" ab dem 28. März 2013 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte trägt vor, dass die Voraussetzungen für die Gewährung der Merkzeichen aG und G bei dem Kläger nicht vorliegen.

Das Gericht hat im Rahmen der Amtsermittlung zunächst Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt. Mit Beschluss vom 23. Februar 2015 und vom 14. Oktober 2015 hat das Gericht T2 und X zu Sachverständigen bestellt. Der Sachverständige X führt in seinem allgemein-chirurgischen Gutachten vom 2. Dezember 2015 unter anderem aus:

"Bei dem Patienten befindet sich nach mehrfachen Eingriffen ein Leistenbruch von ca. Kindskopfgrösse. Der Bruch ist nicht eingeklemmt, die Hautverhältnisse sind reizlos. [ ] Die angegebene Gefühlsminderung ist keiner anatomischen Struktur zuzuordnen. [ ] Das Risiko einer Einklemmung des Bruchs liegt in der Literatur bei ca. 1 %. In diesem Falle ist das Einklemmrisiko wegen des grossen Defektes deutlich geringer einzuschätzen, sicherlich nicht auszuschließen."

Der Sachverständige T2 führt in seinem Gutachten vom 4. Dezember 2015 unter anderem aus:

"Bei vorliegender großer Leistenhernie ist der Bruchsack sicherlich in gewissem Maße hinderlich, jedoch auch nicht wenigstens im Ansatz zu vergleichen mit den großen körperlichen Anstrengungen, die beispielsweise ein Doppeloberschenkelamputierter leisten muss oder ein einseitig Oberschenkelamputierter, der nicht im Stande ist, ein Kunstbein tragen. [ ] Der Kläger ist in einer Gehfähigkeit nicht in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt. Der Kläger betrat die Praxis ohne Hilfsmittel, auch zur Begutachtung bei Herrn X. Er bewegt sich nicht mit Hilfe eines Gehstockes fort, trägt keine orthopädischen Schuhe, und das Gangbild kann nicht als schleppend, kleinschrittig oder deutlich verlangsamt bezeichnet werden. Das Gangbild wurde oben genannt. [ ] Die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs Rf sind nicht erfüllt. [ ] Der Kläger leidet nicht an schweren Bewegungsstörungen, auch nicht an inneren Leiden mit der Folge, dass öffentliche Veranstaltungen selbst mit Hilfe von Begleitpersonen oder technischen Hilfsmitteln nicht besucht werden können. Der Kläger wirkt auf die Umgebung trotz der vorliegenden Gesundheitsstörungen nicht unzumutbar abstoßend und auch nicht störend."

Die Sachverständigen haben ergänzende Stellungnahmen abgegeben.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 30. August 2016 und der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist unbegründet.

Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist der Bescheid des Beklagten vom 31. Juli 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 2014 mit der Einschränkung, dass der Kläger sein Klagebegehren auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des Merkzeichens aG und des Merkzeichens RF beschränkt hat.

Der Bescheid des Beklagten vom 31. Juli 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Mai 2014 verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten; § 54 Abs. 1 SGG. Die ablehnenden Bescheide sind formell und materiell rechtmäßig.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen für das Merkzeichen aG. Rechtsgrundlage für die Feststellung eines GdB ist § 69 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 SGB IX. Nach § 69 Abs. 1, S 1 SGB IX stellen die für die Durchführung zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Nach § 69 Abs. 4 SGB IX treffen die zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach § 69 Abs. 1 SGB IX, wenn neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind.

Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX). Dabei gelten die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes – BVG – und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnung entsprechend (vgl. § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX). Somit ist entsprechend § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG der GdB nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Im Interesse einer einheitlichen und gleichmäßigen Behandlung hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf Grund der Ermächtigung in § 69 Abs. 1 Satz 5 und § 30 Abs. 17 BVB a.F. (entspricht § 30 Abs. 16 BVG der aktuellen Fassung) die Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 – VersMedV – erlassen, nach deren § 2 Satz 1 die Grundsätze unter anderem für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG und Kriterien in der Anlage hierzu festgelegt werden. Die Anlage wird gemäß § 2 Satz 2 VersMedV auf der Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellt und fortentwickelt. Diese "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" – VmG – ersetzen die bis zum 31.12.2008 anzuwendenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (letzte Ausgabe 2008).

Gemäß Teil D Ziffer 3 a VmG ist für die Gewährung von Parkerleichterungen für schwerbehinderte Menschen nach dem Straßenverkehrsgesetz (StVG) die Frage zu beurteilen, ob eine außergewöhnliche Gehbehinderung vorliegt. Als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauerhaft nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich Unterschenkel- oder Armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehend aufgeführten Personenkreis gleichzustellen sind (Teil D Ziffer 5 b VmG).

Zwar fällt der Kläger – was zwischen den Beteiligten unstreitig ist – zum Personenkreis der schwerbehinderten Menschen im Sinne des § 2 Abs. 2 SGB IX, da bei ihm ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und er seinen Wohnsitz im Geltungsbereich des SGB IX hat, doch gehört er nicht zu dem vorstehenden im Einzelnen aufgeführten Personenkreis des Teil D Ziffer 5 b VmG.

Der Kläger ist auf Grund seiner Erkrankungen auch nicht dem aufgeführten Personenkreis gleichzustellen. Nach Teil D Ziffer 5 c VmG darf die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden. Bei der Frage der Gleichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an den unteren Gliedmaßen ist zu beachten, dass das Gehvermögen auf das Schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am Ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist. Dies gilt auch, wenn Gehbehinderte einen Rollstuhl benutzen: es genügt nicht, dass ein solcher verordnet wurde; die Betroffenen müssen vielmehr ständig auf den Rollstuhl angewiesen sein, weil sie sich sonst nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen können. Als Erkrankungen der inneren Organe, die eine solche Gleichstellung rechtfertigen, sind beispielsweise Herzschäden mit schweren Dekompressionserscheinungen oder Ruheinsuffizienz sowie Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkungen der Lungenfunktion schweren Grades anzusehen.

Gründe die gemäß Teil D Ziffer 5 c VmG die Gleichstellung mit den konkret benannten Personenkreisen rechtfertigen, liegen beim Kläger nicht vor. Nach der Beweisaufnahme – insbesondere der Begutachtung durch die Sachverständigen T2 und X – ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass die Voraussetzungen für das Vorliegen des Merkzeichens aG nicht vorliegen. Nach den umfangreichen medizinischen Feststellungen der Sachverständigen ist der Kläger in der Lage, mittlere Strecken ohne Gehhilfen ohne Einschränkungen zu gehen. Das Gehvermögen muss – für die begehrte Gleichstellung – jedoch bereits ab dem ersten Schritt außergewöhnlich beeinträchtigt sein. Wegstrecken von 30 bis 50 Metern sprechen gegen eine solche Beeinträchtigung (Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, Urteil vom 16. Juni 2015 – L 7 SB 12/14). Sind Wegstrecken von 50 bis 100 Metern mit Gehhilfen noch möglich und ist eine Fortsetzung der Wegstrecke über 100 Meter hinaus bei Einlegung von Pausen noch möglich, so ist eine Zuerkennung des Merkzeichens "aG" ausgeschlossen. Im Übrigen nimmt das Gericht auf das Gutachten Bezug, dem sich das Gericht nach einer Überprüfung anschließt. Das Gericht folgt vollumfänglich dem Gutachten, es ist nachvollziehbar, folgerichtig und überzeugend. Das Ergebnis trägt auch dem Untersuchungsverlauf vorliegend Rechnung. Die vom Kläger vorgetragenen Einwände gegen die Begutachtungen können nicht überzeugen. Aus den vorliegenden Gutachten und den ergänzenden Stellungnahmen ergeben sich keine objektiven Anhaltspunkte, die Zweifel an dem ordnungsgemäßen Ablauf der Untersuchung, der Begutachtung und den medizinischen Feststellungen hervorrufen.

Auch die – von dem Kläger behaupteten – Einklemmungen können nicht zu einer anderen Beurteilung führen. Selbst nach eigenem Vortrag bestehen die Einklemmungen nur zeitweise. Voraussetzung für das Merkzeichen aG ist, dass der Behinderte praktisch ab den ersten Schritten die für das Merkzeichen aG erforderlichen ganz erheblichen Beeinträchtigungen der Gehfähigkeit hat und es sich dabei um einen dauerhaften Zustand handelt. Nicht ausreichend ist, wenn die massive Beeinträchtigung der Gehfähigkeit nur zeitweise vorliegt (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 28. Februar 2013 – L 15 SB 113/11).

Desweiteren begründen auch die Feststellungen von T1 vom 13. Januar 2007 nicht das Vorliegen der Voraussetzungen des Merkzeichens aG. Die von T1 – im Jahr 2007 und nicht im streitgegenständlichen Zeitraum – festgestellten Gesundheitsstörungen sind nicht ausreichend schwer, um das Vorliegen der Voraussetzungen des Merkzeichens aG anzunehmen. T1 geht nach seinen eigenen Feststellungen von einem – eher niedrigen – Grad der Behinderung von 20 aus. Gegen das Merkzeichen aG sprechen aus medizinischer Sicht zudem die Feststellungen von S vom 31. Januar 2005. S sieht die wesentliche Ursache für die Beschwerden des Klägers in einer Persönlichkeitsveränderung und einer Fehleinschätzung der gesundheitlichen Situation.

Im Übrigen kann auch der in dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren geschlossene Vergleich nicht das Vorliegen der Voraussetzungen des Merkzeichens aG begründen. Streitigkeiten zu den Voraussetzungen für eine Parkerleichterung zu VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 obliegen den Verwaltungsgerichten. Die für Versorgungsfragen zuständigen Behörden stellen gemäß § 69 Abs. 1 und Abs. 4 SGB IX auf Antrag des behinderten Menschen lediglich das Vorliegen einer Behinderung, den Grad der Behinderung und weitere gesundheitliche Merkmale fest (Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23. August 2011 – 8 A 2247/10; SG Chemnitz, Beschluss vom 15. Dezember 2015 – S 16 SB 613/15; SG Chemnitz, Beschluss vom 26. August 2015 – S 16 SB 458/15). Insoweit geht aus dem verwaltungsgerichtlich geschlossenen Vergleich keine Bindungswirkung zur Feststellung nach § 69 Abs. 1 und Abs. 4 SGB IX aus. Im Übrigen ist der klägerische Vortrag im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, der Kläger könne keine 100 Meter ohne Pause zu Fuß zurücklegen, nicht geeignet, die Voraussetzungen des Merkzeichens aG zu begründen. Die Beeinträchtigung muss ab dem ersten Schritt gegeben sein (vgl. Landessozialgericht Sachsen-Anhalt a.a.O).

Die Voraussetzungen für das Merkzeichen RF liegen nicht vor.

Zu diesen Nachteilsausgleichen nach §§ 69 Abs. 1, Abs. 4 SGB IX gehört das hier streitige Merkzeichen "RF", das nach § 3 Abs. 1 Nr. 5 Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) auf der Rückseite des Schwerbehindertenausweises einzutragen ist, wenn der schwerbehinderte Mensch die landesrechtlich festgelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erfüllt. Nach § 4 Abs. 2 Satz 1 RBStV wird der Rundfunkbeitrag auf ein Drittel ermäßigt für (1.) blinde oder nicht nur vorübergehend wesentlich sehbehinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von wenigstens 60 vom Hundert allein wegen der Sehbehinderung, (2.) hörgeschädigte Menschen, die gehörlos sind oder denen eine ausreichende Verständigung über das Gehör auch mit Hörhilfen nicht möglich ist, und (3.) behinderte Menschen, deren Grad der Behinderung nicht nur vorübergehend wenigstens 80 vom Hundert beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können. (zum Merkzeichens RF BSG Urteil vom 16.02.2012 - B 9 SB 2/11 R = juris Rn. 22,24). Öffentliche Veranstaltung ist dabei jede grundsätzlich jedermann uneingeschränkt oder bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen (z.B. Eintrittsgeld) zugänglich gemachte Veranstaltung im Sinne einer Organisation von Darbietungen verschiedenster Art; dazu zählen Veranstaltungen politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender oder wirtschaftlicher Art, wobei es auf das tatsächliche Angebot von Veranstaltungen im örtlichen Einzugsbereich des Behinderten ebenso wenig ankommt wie auf seine persönlichen Vorlieben, Bedürfnisse, Neigungen oder Interessen (Bayerisches LSG Urteil vom 25.09.2012 - L 3 SB 15/12 = juris Rn. 27 unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BSG; auch BSG Urteil vom 10.08.1993, 9/9a RVs 7/91; Urteil vom 16.03.1994, 9/9a RVs 3/83; Urteil vom 12.02.1997, 9/9a RVs 2/93; LSG NRW Urteil vom 18.01.2006; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom15.03.2012 - L 11 SB 105/09 = juris Rn. 41). Dazu gehören nicht nur Theater-, Oper-, Konzert- und Kinovorstellungen, sondern auch Veranstaltungen wie etwa Ausstellungen, Messen, Museen, Märkte, Gottesdienste, Volksfeste, Sportveranstaltungen, Tier- und Pflanzengärten sowie letztlich auch öffentliche Gerichtsverhandlungen. Maßgeblich ist allein die Möglichkeit der körperlichen Teilnahme, gegebenenfalls mit technischen Mitteln (z.B. Rollstuhl) und/oder mit Hilfe einer Begleitperson (Bayerisches LSG Urteil vom 25.09.2012 - L 3 SB 15/12 = juris Rn. 27 unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 11.09.1991 - 9/9a RVs 15/98 = juris Rn. 9). Die Unmöglichkeit zur Teilnahme an solchen Veranstaltungen ist nur dann gegeben, wenn der Schwerbehinderte wegen seines Leides ständig, d.h. allgemein und umfassend, vom Besuch ausgeschlossen ist (SG Aachen, Urteil vom 15.04.2014 - S 18 SB 564/12).

Der Kläger fällt nicht unter eine der drei Fallgruppen, die das Vorliegen des Merkzeichens RF begründen könnten. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme geht die Kammer insbesondere davon aus, dass der Kläger in der Lage ist, trotz seiner – unstreitigen – Schwerbehinderung öffentliche Veranstaltungen jeglicher Art zu besuchen. Insoweit wird vollumfänglich auf die medizinischen Feststellungen sowie auf die – auch für das Merkzeichen RF zutreffenden - Ausführungen zum Merkzeichen aG verwiesen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 183, 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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