S 17 SO 37/19 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
17
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 17 SO 37/19 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 12. Februar 2019 gegen den Bescheid vom 17. Januar 2019 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

Gründe:

I.

Zwischen den Beteiligten ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Rücknahme- und Erstattungsbescheides vom 17. Januar 2019 streitig.

Der 1931 geborene Antragsteller beantragte am 6. September 2012 bei der Antragsgegnerin Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, da sich seine monatlichen Renteneinnahmen auf 485,36 EUR beliefen. In dem Antrag gab er an, dass für seine Wohnung von 80 qm Größe eine monatliche Kaltmiete von 280 EUR anfiele. Des Weiteren erklärte er unter Punkt 7 "Vermögensübertragung", dass in den letzten zehn Jahren vor der Antragstellung kein Vermögen übertragen worden sei. Mit seiner Unterschrift bestätigte der Antragsteller, dass er den Antrag wahrheitsgemäß ausgefüllt habe. Wenn und solange er Grundsicherungsleistungen erhalte, werde er Änderungen der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (Familien-, Wohn-, Einkommens-, Vermögens- und Aufenthaltsverhältnisse) sowie der Verhältnisse, über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden seien, unverzüglich und unaufgefordert mitteilen. Dem Antrag beigefügt war ein Mietvertrag zwischen seiner Tochter L.L. und dem Antragsteller über die Wohnung im Vorderhaus des Anwesens L-Straße in B-Stadt, wonach die Miete auf monatlich 280 EUR (Kaltmiete) festgesetzt werde. Dieser Mietvertrag ist im Original unterschrieben von der Tochter des Antragstellers als Vermieterin sowie dem Antragsteller selber. Zudem legte der Antragsteller eine Vollmacht vom 3. September 2012 für seine Tochter L.L. bei, wonach diese bevollmächtigt werde, sämtliche Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Antrag auf Grundsicherung bei der Antragsgegnerin in seinem Namen zu erledigen.

Mit Bescheid vom 12. September 2012 bewilligte die Antragsgegnerin dem Antragsteller Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für den Zeitraum 1. September 2012 bis 31. August 2013 in Höhe von 755,69 EUR. Dabei berücksichtigte die Antragsgegnerin eine Grundmiete in Höhe von 280,00 EUR bei den Kosten der Unterkunft sowie zusätzlich Neben- und Heizkosten. Gleiches galt für die Änderungsbescheide vom 1. Oktober 2012 und 18. Juni 2013.

Mit Bescheid vom 4. September 2013 bewilligte die Antragsgegnerin Leistungen der Grundsicherung für die Zeit vom 1. September 2013 bis 31. August 2014 in Höhe von monatlich 777,07 EUR unter Berücksichtigung einer Grundmiete von 280 EUR.

Mit Bescheid vom 29. November 2013 bewilligte die Antragsgegnerin Leistungen vom 1. Januar 2014 bis 31. August 2014 in Höhe von monatlich 785,15 EUR, ebenfalls unter Berücksichtigung der Grundmiete von 280 EUR, die auch in den Änderungsbescheiden vom 29. November 2013 und 1. Juli 2014 zugrunde gelegt wurde.

Mit Schreiben vom 5. Juli 2014 legte der Antragsteller die Abrechnung der Strom- und Gasversorger vor, nicht hingegen die auch als beigefügt benannte Betriebskostenabrechnung. Deswegen bat die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 11. Juli 2014 um Vorlage der Betriebskostenabrechnung des Vermieters, die dem Schreiben nicht beigelegen habe. Daraufhin wandte sich Herr M.L., der Schwiegersohn des Antragstellers, am 2. September 2014 an die Antragsgegnerin per E-Mail. In dieser heißt es:
"Ich bin der Schwiegersohn und Vermieter des Herrn A. und bin sehr enttäuscht von ihrer Arbeitsweise.
Begründung:
Am 11.07.14 erhielt Herr A. einen Brief von Herrn N. mit der Bitte eine Betriebskostenabrechnung bezüglich der Heizkosten vorzulegen.
Da ich als Vermieter im Mietvertrag (dieser liegt Ihnen vor) eine Heizkostenpauschale angegeben habe und somit keine Betriebskosten abgerechnet werden, teilte ich diesen Umstand am 25.07.14 Herrn N. mit.
Nach dem kurzen Telefongespräch erklärte er mir, dass die Sache damit erledigt sei.
Nun erhielt Herr A. am 22.08.14 einen erneuten Brief, diesmal von Frau O., wo er erneut aufgefordert wurde eine Betriebskostenabrechnung vorzulegen.
Diesmal wurden sogar Konsequenzen bezüglich der Weiterzahlung der Leistungen angekündigt. ( ... )"

Mit Bescheid vom 3. September 2014 bewilligte die Antragsgegnerin dem Antragsteller Grundsicherungsleistungen für September 2014 in Höhe von 807,02 EUR, wiederum unter Berücksichtigung der Grundmiete von 280 EUR. Gleiches galt für den Bescheid vom 16. September 2014, mit dem die Antragsgegnerin für die Zeit vom 1. Oktober 2014 bis 31. August 2015 monatliche Leistungen der Grundsicherung bewilligte, sowie die diesbezüglichen Änderungsbescheide vom 26. Januar 2015, 10. April 2015 und 17. Juni 2015.

Mit Bescheid vom 27. Juli 2015 bewilligte die Antragsgegnerin für die Zeit vom 1. September 2015 bis 31. August 2016 Grundsicherungsleistungen in Höhe von monatlich 764,83 EUR wiederum unter Berücksichtigung einer Grundmiete von 280 EUR, die auch den Änderungsbescheiden vom 3. Dezember 2015, 4. April 2016 und 17. Juni 2016 zugrunde gelegt wurde.

Mit Bescheid vom 23. August 2016 bewilligte die Antragsgegnerin Grundsicherungsleistungen für den Bewilligungszeitraum 1. September 2016 bis 31. August 2017 in Höhe von monatlich 759,27 EUR, wobei auch hier eine Grundmiete von 280 EUR berücksichtigt wurde, wie dies auch in den Änderungsbescheiden vom 22. September 2015, 12. Dezember 2016, 2. Mai 2017 und 22. Juni 2017 geschah.

Mit Schreiben vom 24. Juli 2017 leitete die Antragsgegnerin eine Prüfung ein, ob die Voraussetzungen zur Leistungsgewährung im Hinblick auf das einzusetzende Vermögen noch vorliegen, ein. Dazu verneinte der Antragsteller im Fragebogen "Nachfrage über die Vermögensverhältnisse" am 27. Juli 2017 die Frage, ob er "irgendwann Vermögenswerte abgegeben" habe. Die Richtigkeit seiner Angaben bestätigt er mit seiner Unterschrift.

Mit Bescheid vom 31. Juli 2017 bewilligte die Antragsgegnerin Leistungen der Grundsicherung für den Zeitraum vom 1. September 2017 bis 31. August 2018 in Höhe von monatlich 754,61 EUR, wiederum unter Berücksichtigung einer Grundmiete von 280 EUR.

Am 22. Januar 2018 teilte die Tochter des Antragstellers telefonisch der Antragsgegnerin, Abteilung Altenhilfe, mit, dass der Antragsteller stationär in die Pflegeeinrichtung des P. Senioren-Zentrum A-Stadt aufgenommen worden sei. Am 25. Januar 2018 zeigte das Pflegeheim die Heimaufnahme zum 24. Januar 2018 an.

Am 30. Januar 2018 ging der am 26. Januar 2018 von der Tochter des Antragstellers unterschiebene Antrag auf Übernahme der ungedeckten Heimpflegekosten nach dem vierten bis siebten Kapitel des SGB XII bei der Antragsgegnerin ein. Grund für die Pflegebedürftigkeit sei eine starke Demenz. In dem Antrag wurde die Frage, ob vertragliche Rechte (z.B. Nießbrauch, Wohnrecht) vereinbart worden seien, bejaht und der Übergabevertrag vom 28. Juni 1999 vorgelegt. Des Weiteren gab die Tochter des Antragstellers auf die Frage nach den Unterkunftskosten in EUR (ohne Heizkosten und Strom) im Heimaufnahmemonat an: "280,- EUR". Mit ihrer Unterschrift bestätigte die Tochter des Antragstellers, dass die vorstehenden Angaben vollständig und richtig seien und der Wahrheit entsprechen. Bevollmächtigte sei sie als Tochter des Antragstellers. Dazu legte sie eine Generalvollmacht mit Betreuungsverfügung vom 2. Januar 2014 vor. Zu diesem Zeitpunkt war der Antragsteller nach Überzeugung des Notars geschäftsfähig. Der Antragsteller erteilte darin seiner Tochter, ersatzweise seinem Schwiegersohn und Frau R.L., geb. 1983, Generalvollmacht, um ihn in allen persönlichen und vermögensrechtlichen Angelegenheiten umfassend zu vertreten.

Aus Nr. 5 des "Übergabevertrag und Auflassung im Wege vorweggenommener Erbfolge" vom 28. Juni 1999, Nr. 125 der Urkundsrolle für 1999 des Notars S., ergibt sich, dass dem Antragsteller von seiner Tochter aufgrund der durchgeführten Eigentumsübertragung an diese ein lebenslängliches und unentgeltliches Wohnungsrecht gemäß § 1093 BGB an der übertragenen Wohnungseigentumseinheit eingeräumt wird.

Aus den beigefügten Kontoauszügen von November 2017 bis Januar 2018 ist ersichtlich, dass ein Dauerauftrag des Antragstellers an seinen Schwiegersohn M.L. über 200,00 EUR im Monat eingerichtet war.

Mit Änderungsbescheid vom 24. Januar 2018 änderte die Antragsgegnerin, Abteilung Soziale Hilfen, die Bewilligungshöhe für die Zeit vom 1. März 2018 bis 31. August 2018 ab und zahlte monatlich 759,22 EUR unter Berücksichtigung einer Grundmiete von 280 EUR, da die Information hinsichtlich der Heimaufnahme diese Abteilung der Antragsgegnerin noch nicht erreicht hatte. Nach Kenntnis davon stellte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 6. März 2018 die Leistungen der Grundsicherung mit Wirkung ab dem 1. April 2018 ein, da der Antragsteller vollstationär in ein Pflegeheim aufgenommen worden sei.

Mit Schreiben vom 21. November 2018 hörte die Antragsgegnerin die Tochter des Antragstellers als dessen Bevollmächtigte dazu an, dass Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Höhe der monatlichen Grundmiete von 280 EUR zu Unrecht erbracht worden seien. Wäre der Übergabevertrag von 1999 vorgelegt worden und die Frage in Punkt 7 des Antrags nicht fälschlicherweise verneint worden, wäre aufgrund des festgelegten unentgeltlichen Wohnungsrechts keine Kaltmiete von monatlich 280 EUR anerkannt und gezahlt worden.

Mit Schreiben vom 12. Dezember 2018 wies der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers darauf hin, dass der Antragsteller den Antrag auf Grundsicherung im Jahr 2012 selber gestellt habe. Er sei zu diesem Zeitpunkt noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und in keiner Weise eingeschränkt gewesen. Den Antrag habe er auch selbst unterzeichnet. Die Frage 7 sei von dem Antragsteller wahrheitsgemäß beantwortet worden, da nur nach Übergabeverträgen der letzten zehn Jahre gefragt worden sei. Der Übergabevertrag sei aber 1999 geschlossen worden, sodass die Zehnjahresfreist bereits verstrichen gewesen sei.

In ihrer Erwiderung vom 12. Dezember 2018 bestätigte die Antragsgegnerin, dass es zutreffe, dass der Übergabevertrag mehr als zehn Jahre zurückgelegen habe bei Antragstellung. Es bleibe aber der Vorwurf, dass der Antragsteller den Nachrang gegenüber vorrangigen Ansprüchen nicht beachtet habe und damit dem Steuerzahler in diesem Fall unnötige Mehrkosten von der Kaltmiete verursacht habe. Der Antragsteller habe gewusst, dass er ein lebenslanges kostenloses und unentgeltliches Wohnungsrecht in dem Haus habe und somit keine Verpflichtung in Form eines Mietvertrages mit Kaltmiete hätte eingehen dürfen. Es werde deshalb weiterhin nach erfolgter Anhörung eine Rückforderung über den Gesamtbetrag von 18.200 EUR geprüft. Dies sei die monatliche Kaltmiete in dem Zeitraum von September 2012 bis einschließlich Januar 2018.

Mit Bescheid vom 17. Januar 2019 nahm die Antragsgegnerin die im einzelnen bezeichneten Leistungsbescheide betreffend den Zeitraum 1. September 2012 bis 31. Januar 2018 teilweise in Höhe von 280 EUR pro Leistungsmonat gemäß § 45 Abs. 2 Nr. 3 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X) zurück. Gleichzeitig forderte die Antragsgegnerin die Erstattung in Höhe von 18.200 EUR und ordnete die sofortige Vollziehung des Bescheides an. Durch die Rücknahmeentscheidung werde der Antragsteller nicht persönlich betroffen. Er lebe in einem Pflegeheim und erhalte weiterhin Leistungen der Hilfe zur Pflege, die durch die Rücknahmeentscheidung nicht tangiert seien. Die aus der Rücknahme folgende staatliche Erstattungsforderung nach § 50 SGB X werde erst nach seinem Tod als Erblasserschuld von dem oder den Erben beglichen werden müssen. Mit Blick auf die drohende Verjährung der Rücknahme gemäß § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X habe die Rücknahme zum jetzigen Zeitpunkt erfolgen müssen. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides begründete die Antragsgegnerin damit, dass mit Blick auf die u.U. jahrelange sozialgerichtliche Verfahrensdauer im Falle der Anfechtung des Bescheides es geboten sei, dass die Forderung sofort fällig werde. Aus fiskalischen Gründen sei zu verhindern, dass die berechtigte Rückforderung bis zu ihrer rechtskräftigen Feststellung suspendiert werde. Umstände, die es gebieten würden, den Ausgang eines eventuellen Rechtsbehelfs- und Rechtsmittelverfahrens abzuwarten, seien weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Dagegen legte der Antragsteller am 12. Februar 2019 (bei der Antragsgegnerin eingegangen am 14. Februar 2019) durch seinen Prozessbevollmächtigten Widerspruch ein. Mit diesem erhob der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers die Einrede der Verjährung. Weiter machte er geltend, dass der Antragsteller bei Beantragung der Leistungen nach dem SGB XII von der Antragsgegnerin beraten worden sei und in gutem Glauben den Angaben des Mitarbeiters der Antragsgegnerin gefolgt sei. Dieser habe ihn nach einem Mietvertrag gefragt. Zu keinem Zeitpunkt habe der Antragsteller mit seiner Tochter über ein Mietverhältnis gesprochen. Der Antragsteller habe die Beträge auch selbst vereinnahmt. Sie seien auf sein Konto gegangen. Der Antragsteller habe insoweit gutgläubig gehandelt. Es sei ihm nicht bewusst gewesen, dass er hier zu Unrecht Leistungen beantragt habe und diese auch bewilligt bekommen habe. Erst viele Jahre später habe der Antragsteller seiner Tochter erzählt, dass er einen Mietvertrag gefertigt habe und diesen bei der Antragsgegnerin vorgelegt habe. Zu keinem Zeitpunkt habe der Antragsteller an seine Tochter Mietzahlungen erbracht. Seine Tochter habe lediglich 200 EUR/Monat für Kost und sonstige Versorgungsleistungen erhalten. Diese Ausgaben seien tatsächlich auch für den Antragsteller verausgabt worden. Darüber habe die Tochter des Antragstellers ein Haushaltsbuch geführt, dass jederzeit vorgelegt werden könne. Zu keinem Zeitpunkt sei von dem Antragsteller Geld für die Unterkunft verlangt worden.

Am 19. Februar 2019 hat der Antragsteller einstweiligen Rechtsschutz beim Sozialgericht Darmstadt beantragt. Zur Begründung trägt der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers im Wesentlichen vor, über kein Vermögen zu verfügen. Darüber hinaus sei mit dem Widerspruch die Einrede der Verjährung erhoben worden. Zudem sei der Antragsteller seinerzeit noch im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Kräfte gewesen und habe den Antrag auf SGB XII-Leistungen selber gestellt und sei dabei in gutem Glauben gewesen. Dieser habe den Antrag unmittelbar bei der Sozialbehörde gestellt und sich von dem zuständigen Sachbearbeiter beraten lassen. Dieser habe ihm wohl erklärt, er möge einen Mietvertrag vorlegen. Dann könnten auch die Kosten der Unterkunft übernommen werden und dem Antragsteller stünde ein höherer monatlicher Betrag zur Verfügung. Der Antragsteller habe aufgrund dieses Ratschlags in gutem Glauben einen Mietvertrag zwischen sich und seiner Tochter behauptet. Der Antragsteller habe seinerzeit nicht erwähnt, dass er ein lebenslanges Wohnrecht in seinem früheren Hauseigentum vereinbart hatte. Es gebe keinen begründeten Anlass für die Anordnung des Sofortvollzugs des Rücknahmebescheides vom 17. Januar 2019. Die unter Umständen jahrelange sozialgerichtliche Verfahrensdauer, die die Antragsgegnerin anführe, reiche für die Anordnung des sofortigen Vollzugs des Bescheides nicht aus.

Der Antragsteller beantragt schriftlich,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 12. Februar 2019 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 17. Januar 2019 wiederherzustellen.

Die Antragsgegnerin beantragt schriftlich,
den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung trägt die Antragsgegnerin vor, dass der Aufhebungsbescheid vom 17. Januar 2019 innerhalb der Jahresfrist des § 45 Abs. 4 SGB X ab Kenntnis der die Rechtswidrigkeit begründenden Tatsache, dass ein unentgeltliches Wohnrecht bestehe, erlassen worden sei. Der Übergabevertrag, der dieses Wohnrecht regele, sei der Antragsgegnerin erst anlässlich der Beantragung von Hilfe zur Pflege mit Formantrag vom 26. Januar 2018, der am 30. Januar 2018 bei der Antragsgegnerin eingegangen sei, bekannt geworden. Die Behauptung, bei der Beantragung von Grundsicherungsleistung im September 2012 sei der Antragsteller von der Sachbearbeitung falsch beraten worden, sei nicht nachvollziehbar. Möglicherweise sei ihm zwar die – zweifellos richtige – Auskunft gegeben worden, dass für die Anerkennung von Unterkunftskosten die Vorlage eines Mietvertrages erforderlich sei. Selbstverständlich wäre damit aber nicht die Aufforderung verbunden gewesen, einen fingierten Mietvertrag vorzulegen, um eine höhere Leistung zu erhalten. Die fälschliche Angabe zu den Unterkunftskosten sowie die Vorlage des Mietvertrages seien damit bewusst geschehen in Vorspiegelung falscher Tatsachen. Vertrauensschutz in das Behaltendürfen der unrechtmäßig gewährten Leistungen genieße der Antragsteller damit nicht. Dabei werde nicht übersehen, dass er zwischenzeitlich nicht mehr geschäftsfähig sei und unter Betreuung stehe. Die Betreuung erfolge durch jene Tochter, mit der er seinerzeit den Mietvertrag abgeschlossen haben wolle und der bekannt gewesen sei, dass der Antragsteller zu keinem Zeitpunkt Mietzahlungen an sie geleistet habe. Die Umstände, die die Rechtswidrigkeit des aufgehobenen Bescheides bedingten, seien also lückenlos über den gesamten Zeitraum von September 2012 bis Januar 2018 dem Antragsteller und auch seiner Betreuerin bekannt gewesen. Auch der Anordnung des Sofortvollzugs begegneten keine rechtlichen Bedenken, da mit Blick auf das hohe Lebensalter und den schlechten Gesundheitszustand des Antragstellers mit seinem Ableben gerechnet werden müsse. Die Erstattungspflicht werde letztlich seine Erben treffen, die dann unmittelbar in Anspruch genommen werden könnten.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Akten S 28 SO 78/18 und S 28 SO 81/18 ER, sowie der beigezogenen Verwaltungsakten der Antragsgegnerin (Akte Grundsicherung, Blatt 1 - 155, Akte Altenhilfe, Blatt 1 - 40) Bezug genommen.

II.

Der Antrag nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG ist zulässig, insbesondere besteht ein Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers.

Nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Der Antrag nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG ist schon vor Klageerhebung zulässig (§ 86b Abs. 3 SGG). Gemäß § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung entfällt jedoch nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten ist und die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, die sofortige Vollziehung mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung angeordnet hat.

Der Widerspruch des Antragstellers vom 12. Februar 2019 gegen den Bescheid vom 17. Januar 2019 hat keine aufschiebende Wirkung, nachdem die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehung im Bescheid vom 17. Januar 2019 angeordnet hat.

Der Antragsteller hat auch ein Rechtsschutzbedürfnis, obwohl er keinen Antrag nach § 86a Abs. 3 Satz 1 SGG gestellt hat. Danach kann in den Fällen des Absatzes 2 die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen oder die über den Widerspruch zu entscheiden hat, die sofortige Vollziehung ganz oder teilweise anordnen. Im Interesse der Entlastung der Gerichte ist das Rechtsschutzbedürfnis zu verneinen, wenn der Beteiligte sein Begehren erkennbar auch außergerichtlich durchsetzen kann oder der Versuch, eine Aussetzung durch die Behörde zu erreichen, nicht von vornherein aussichtslos erscheint. Mithin ist ein Antrag nach § 86a Abs. 3 Satz 1 SGG grundsätzlich vorrangig (vgl. Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19. Mai 2014, L 11 KA 99/13 B ER, juris, Rdnr. 36). Zugunsten des Antragstellers kann ein Rechtsschutzbedürfnis (noch) angenommen werden. Angesichts des bisherigen Verfahrensablaufs und der gegenläufigen Interessen der Beteiligten ist ein Antrag auf behördliche Aussetzung der Vollziehung nach § 86a Abs. 3 Satz 1 SGG erkennbar aussichtslos.

Der Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 17. Januar 2019 anzuordnen, ist aus formellen Gründen auch begründet.

Zwar spricht bei summarischer Prüfung des Bescheides vom 17. Januar 2019 alles dafür, dass dieser materiell rechtmäßig ist. Insbesondere dürfte die Antragsgegnerin unter Berücksichtigung des § 45 Abs. 3 Satz 3 SGB X berechtigt gewesen sein, auch über einen Zeitraum von zwei Jahren nach Bekanntgabe der Bescheide hinaus deren Rücknahme vorzunehmen.

Die Anordnung der sofortigen Vollziehung genügt jedoch nicht den formellen Begründungsanforderungen des § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG, sodass allein deshalb die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anzuordnen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Mai 2016, 1 BvR 1890/15, juris, Rdnr. 18; Hess. VGH, Beschluss vom 22. Oktober 1982, juris).

Nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen. Die Begründungspflicht dient im Blick auf den Betroffenen und die den Sofortvollzug anordnenden Behörde zweierlei Zwecken. Sie soll zum einen den Betroffenen in die Lage versetzen, durch Kenntnis der Gründe, die die Behörde zu der Anordnung veranlasst haben, seine Rechte wirksam wahrzunehmen und die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels abzuschätzen (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 19. Juni 1991, 4 M 43/91, juris, Rdnr. 20). Insoweit ist § 86a Abs. 2 Nr. 5 GG die spezialgesetzliche Ausprägung der aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Pflicht, behördliche Eingriffsakte zu begründen, um dem Bürger eine sachgerechte Verteidigung seiner Rechte zu ermöglichen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 28. Februar 1979, 2 BvR 84/79, juris). Die Begründungspflicht soll zum anderen der Behörde den Ausnahmecharakter der Vollziehungsanordnung vor Augen führen und sie veranlassen, mit Sorgfalt zu prüfen, ob tatsächlich ein überwiegendes Vollziehungsinteresse den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung erfordert. Diese vom Gesetzgeber beabsichtigte "Warnfunktion" der Begründungspflicht beruht auf dem verfassungsrechtlichen Stellenwert des Suspensiveffekts von Widerspruch und Klage gegen belastende Verwaltungsakte (§ 86a Abs. 1 SGG) und seines Ausschlusses. Artikel 19 Abs. 4 Satz 1 Grundgesetz (GG) verleiht dem Bürger einen substantiellen Anspruch auf Effektivität des Rechtsschutzes im Sinne einer tatsächlichen wirksamen gerichtlichen Kontrolle. Durch Artikel 19 Abs. 4 Satz 1 GG sollen irreparable Entscheidungen, wie sie durch die sofortige Vollziehung einer hoheitlichen Maßnahme eintreten können, soweit wie möglich ausgeschlossen werden. Hierin liegt die verfassungsrechtliche Bedeutung des Suspensiveffekts sozialgerichtlicher Rechtsbehelfe, ohne den der Rechtsschutz wegen der notwendigen Verfahrensdauer häufig hinfällig würde. Die nach § 86a Abs. 1 SGG für den Regelfall vorgeschriebene aufschiebende Wirkung ist deshalb eine adäquate Ausprägung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie und ein fundamentaler Grundsatz des öffentlich-rechtlichen Prozesses. Artikel 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährleistet indessen die aufschiebende Wirkung nicht schlechthin. Vielmehr können überwiegende öffentliche Belange es auch vor der Verfassung rechtfertigen, den Rechtsschutz des Einzelnen einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten. Dies muss jedoch die Ausnahme bleiben. Eine Verwaltungspraxis, die dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis umkehrt, wäre mit der Verfassung nicht vereinbar. Daher soll die Begründungspflicht nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG der Behörde im Einzelfall den mit Verfassungsrang ausgestatteten absoluten Ausnahmecharakter des Ausschlusses der aufschiebenden Wirkung vor Augen führen. (vgl. OVG Schleswig-Holstein, aaO, Rdnr. 20, 21 m.w.N.)

Aus beiden Zwecken der Begründungspflicht, die letztlich im Verfassungsrecht wurzeln, ergibt sich, dass das Erfordernis einer schriftlichen Begründung nicht nur formeller Natur ist, dem bereits genügt ist, wenn überhaupt eine Begründung vorhanden ist. Aus den von § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG verfolgten Zwecken ergeben sich die inhaltlichen Anforderungen an die gebotene Begründung. Es bedarf einer schlüssigen konkreten Auseinandersetzung im Einzelfall unter substantiierter Darlegung der wesentlichen rechtlichen und tatsächlichen Erwägungen, die zur Annahme eines besonderen öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehung und damit zum Gebrauch der Anordnungsmöglichkeit nach § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG geführt haben. Mithin genügen formelhafte, allgemein gehaltene Wendungen nicht den Begründungserfordernissen. (vgl. OVG Schleswig-Holstein, aaO, Rdnr. 22 m.w.N.) Die Behörde hat mit Blick auf die geschuldete Begründung auch in Rechnung zu stellen, dass für die Anordnung der sofortigen Vollziehung ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich ist, das über jenes Interesse hinausgehen muss, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt. Denn die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass des Verwaltungsaktes reichen für die Begründung des Sofortvollzugs nicht aus (BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2013, 1 BvR 2025/13, juris, Rdnr. 19 m.w.N.). Das für die sofortige Vollziehung erforderliche Interesse ist ein qualitativ anderes Interesse als das Interesse am Erlass und der Durchsetzung des Verwaltungsaktes. Zur Begründung des besonderen Vollziehungsinteresses müssen deshalb regelmäßig andere Gründe angeführt werden, als sie zur Rechtfertigung des zu vollziehenden Verwaltungsaktes herangezogen wurden. (vgl. OVG Schleswig-Holstein, aaO, Rdnr. 22 m.w.N.)

Ausgehend von diesen Grundsätzen genügt die von der Antragsgegnerin gegebene Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung des Bescheides vom 17. Januar 2019 nicht den Anforderungen des § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG. Die Antragsgegnerin benennt keine einzelfallbezogenen Gründe, warum die sofortige Vollziehbarkeit im besonderen öffentlichen Interesse liegt. Als einen Grund führt die Antragsgegnerin "u.U. jahrelange sozialgerichtliche Verfahrensdauer im Falle der Anfechtung dieses Bescheides" an. Dies ist allerdings ein Umstand, der zum einen hinsichtlich der tatsächlich eintretenden Verfahrensdauer ungewiss ist. Zum anderen ist dies eine Gegebenheit, die für alle angegriffenen belastenden Verwaltungsakte gilt. Trotzdem enthält § 86a Abs. 1 SGG aber die Grundregel, dass Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung haben (Suspensiveffekt). Das weitere Argument, dass es "aus fiskalischen Gründen ( ) zu verhindern (sei), dass die berechtigte Rückforderung bis zu ihrer rechtskräftigen Feststellung suspendiert ist", ist ebenfalls lediglich eine allgemeine Erwägung und setzt sich nicht damit auseinander, dass die aufschiebende Wirkung trotz der immer vorhandenen allgemeinen fiskalischen Interessen die Regel ist. Einzelfallbezogene Gründe für die Anordnung der sofortigen Vollziehung ergeben sich daraus nicht. Fiskalische Interessen können das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes in der Regel nur dann rechtfertigen, wenn die Verwirkung einer öffentlich-rechtlichen Geldforderung ohne den sofortigen Vollzug einzelfallbezogen konkret und ernstlich gefährdet erscheint (vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 8. November 2016, L 7 SO 3546/16 ER-B, juris, Rdnr. 10 m.w.N.). Insoweit könnte der Eintritt des Erbfalls ein solcher Umstand sein.

Auch die voraussichtliche Erfolglosigkeit des gegen den Verwaltungsakt eingelegten Rechtsbehelfs kann das besondere öffentliche Interesse nicht ersetzen (vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Beschluss vom 8. November 2016, L 7 SO 3546/16 ER-B, juris, Rdnr. 9).

Inhaltlich steht die Anordnung der sofortigen Vollziehung auch im Widerspruch zu den weiteren Ausführungen im Bescheid vom 17. Januar 2019, wonach die Rückforderung aktuell gegen den Antragsteller nicht betrieben werden solle, sondern nach dem Tod des Antragstellers gegenüber den Erben geltend gemacht werde.

Es ist der Antragsgegnerin unbenommen, die sofortige Vollziehung auch erst später anzuordnen. Der Umstand, dass die sofortige Vollziehung nicht sofort zusammen mit dem Verwaltungsakt erfolgt, sondern ggf. erst Jahre später, steht der Annahme eines besonderen Interesses jedenfalls dann nicht entgegen, wenn die Notwendigkeit, die entsprechende Maßnahme zu treffen, erst später eintritt (vgl. W.-R. Schenke, VwGO, § 80, Rdnr. 96). Trotz der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ist die Antragsgegnerin nicht gehindert, die Anordnung der sofortigen Vollziehung mit ausreichender Begründung zu erneuern (vgl. OVG Schleswig-Holstein, aaO, Rdnr. 30).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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