S 6 R 540/12

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 6 R 540/12
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 2 R 298/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 31/16 R
Datum
Kategorie
Urteil
1. Der Bescheid vom 07.06.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.09.2012 wird aufgehoben.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Aufhebungs- und Erstattungsbescheids infolge der Abrechnung einer Rentennachzahlung bei rückwirkend erfolgter Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung anstelle der zuvor bezogenen Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung.

Die 1954 geborene Klägerin arbeitete neben dem Bezug einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis 31.01.2012 Teilzeit als Arzthelferin. Das Erwerbseinkommen in Höhe von ca. 1500 Euro monatlich ab 1.01.2011 war dabei auf die Höhe des neben einer solchen Rente zulässigen Hinzuverdienstes abgestimmt.

Am 7.02.2011 beantragte die Klägerin eine volle Erwerbsminderungsrente (226 VA II).

Mit Bescheid vom 4.05.2011 (297 A VA II) wurde die Rente der Klägerin wegen teilweiser Erwerbsminderung ab 1.12.2010 neu berechnet. Für die Zeit ab 1.07.2011 werden laufend monatlich 393,34 EUR gezahlt. Die Hinzuverdienstgrenze für die Rente in voller Höhe werde mit dem ab 1.01.2011 zu berücksichtigenden Hinzuverdienst nicht überschritten.

Nach einem orthopädischen Gutachten vom 13.05.2011 (329) bestand bei der Klägerin ein drei- bis unter sechsstündiges Leistungsvermögen arbeitstäglich. Zu diesem Zeitpunkt übte die Klägerin die Teilzeitbeschäftigung noch aus.

Mit Bescheid vom 21.06.2011 (338 VA II) wurde der Antrag der Klägerin auf die Bewilligung einer vollen Erwerbsminderungsrente aus medizinischen Gründen abgelehnt.

Im Widerspruchsverfahren ergab ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten vom 10.08.2011 ein unter sechsstündiges Leistungsvermögen arbeitstäglich und ein internistisches Gutachten aufgrund Untersuchung vom 6.10.2011 ein unter dreistündiges Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Seit 25.09.2011 war die Klägerin arbeitsunfähig. Nach dem Ende der Lohnfortzahlung durch ihren Arbeitgeber bezog die Klägerin ab 9.11.2011 Krankengeld (441 VA II) bis 23.01.2012 (zur Höhe vgl. Bl. 472 VA). Die Klägerin wies die Beklagte darauf hin, sie habe ihren Arbeitsplatz zum 31.01.2012 krankheitsbedingt gekündigt.

Die Krankenkasse meldete im Hinblick auf den Bezug von Krankengeld ab 9.11.2011 einen Erstattungsanspruch (§ 103 SGB X i.V. m. 50 SGB V) bei der Beklagten an (Bl. 441 VA II).

Mit bestandskräftig gewordenem Bescheid vom 3.02.2012 (Bl. 469 a VA III) wurde der Klägerin rückwirkend für die Zeit ab 1.03.2011 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung bewilligt
• ab 1.03.2011 in Höhe von 389,47 EUR
• ab 1.07.2011 in Höhe von 393,34 EUR
• ab 1.12.2011 in Höhe von 765,67 EUR.
Die Nachzahlung für die Zeit vom 1.03.2011 bis 31.03.2012 (6671,26 EUR) wurde vorläufig nicht ausbezahlt. Unter Berücksichtigung der Hinzuverdienstgrenzen stehe der Klägerin vom 1.03.2011 bis 30.11.2011 die Rente nur in Höhe der Hälfte und ab 1.12.2011 dann in voller Höhe zu. Weiter heißt es, bestünden für denselben Zeitraum Ansprüche auf mehrere Renten aus eigener Versicherung, leiste die Beklagte nur die höchste Rente. Bei gleich hohen Renten gelte eine gesetzliche Rangfolge (Bl. 469 b VA III). Die Nachzahlung werde nicht ausgezahlt, da Ansprüche anderer Stellen zu klären seien. Bei der Berechnung der Nachzahlung sei zunächst unberücksichtigt geblieben, dass die Klägerin bereits eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung erhalten habe, die wegen des zeitgleichen Anspruchs auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung nicht zu leisten gewesen wäre.

Für die Zeit ab 9.11.2011 bis 23.01.2012 bezifferte die Krankenkasse die Höhe des Erstattungsanspruchs auf 1658,78 Euro (Bl. 471 f.). Der Rentennachzahlungsbetrag für die Zeit vom 24.01.2012 bis 31.03.2012 (d.h. die Zeit, wo die Klägerin kein Krankengeld bezogen hat und bezüglich der dementsprechend keine Erstattungsansprüche angemeldet wurden) wurde von der Beklagten an die Klägerin ausgezahlt (1776,35 EUR, Bl. 473).

Mit Schreiben der Beklagten vom 6.03.2012 (Bl. 480 VA III) wurde die Klägerin darüber informiert, dass ein Betrag von 1658,78 EUR an die Krankenkasse überwiesen worden sei. Für den Zeitraum bis 8.11.2011 seien 3236,13 EUR aus der Rentennachzahlung für die Abrechnung der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung einbehalten worden.

Mit Bescheid vom 7.06.2012 (487) hob die Beklagte den Bescheid vom 4.05.2011 über die Bewilligung der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung hinsichtlich des Zahlungsanspruchs nach § 48 SGB X auf und forderte die Überzahlung von 5097,94 Euro zurück (für den Zeitraum 1.03.2011 bis 31.03.2012). Der überzahlte Betrag sei zu erstatten. Der überzahlte Betrag sei im Interesse der Klägerin bereits mit der Rentennachzahlung wegen voller Erwerbsminderung (Bescheid vom 3.02.2012) verrechnet worden, die nach Erfüllung der Ansprüche anderer Stellen an die Klägerin verblieben seien. Die Klägerin habe noch 1861,81 EUR zu zahlen. Dieser Betrag ergebe sich aus der Differenz der noch verbliebenen Rentennachzahlung (3236,13 Euro) minus der ausgezahlten Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (die die Klägerin zurückzuzahlen habe, 5097,94 Euro). Soweit es um die Aufhebung des Bescheids für die Vergangenheit gehe, seien die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X gegeben, denn die mit Bescheid vom 3.2.2012 bewilligte Rente wegen voller Erwerbsminderung stelle Einkommen im Sinne dieser Vorschrift dar (BSG, Urteil vom 7.09.2010, B 5 KN 4/08 R).

Die Klägerin erhob Widerspruch gegen den Bescheid vom 7.06.2012 (Bl. 507 VA) und trug im Wesentlichen vor, sie dürfe durch die Bewilligung der vollen Erwerbsminderungsrente nicht schlechter stehen als zuvor. Sie habe zu keiner Zeit Einkommen erzielt, welches zur Minderung oder zum Wegfall der Leistungen geführt haben würde. Die Berechtigung zum Hinzuverdienst in Höhe von 1500,70 Euro sei in Bezug auf die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung berechnet worden. Sie erhebe Widerspruch gegen die Rückdatierung der vollen Erwerbsminderungsrente und der daraus resultierenden Rückforderung. Diese Vorgehensweise liege nicht in ihrem Interesse.

Mit Widerspruchsbescheid vom 13.09.2012 (9 ff. GA) wurde der Widerspruch unter Vertiefung der Begründung des angegriffenen Aufhebungs- und Erstattungsbescheids zurückgewiesen. Ein atypischer Fall, der eine Ermessensentscheidung erforderlich machen würde, liege nicht vor. Durch die rückwirkende Aufhebung des Bescheids über die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung hinsichtlich des Zahlungsanspruchs werde die Klägerin im Ergebnis so gestellt, als hätte sie von vornherein nur die Rente wegen voller Erwerbsminderung erhalten. Voraussetzung für die Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs nach § 50 SGB X sei lediglich, dass die Leistung aufgrund eines Verwaltungsaktes erbracht worden sei, der nachträglich mit Wirkung für die Vergangenheit aufgehoben werde.

Am 12.10.2012 hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Darmstadt erhoben.

Der Klägerbevollmächtigte beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 07.06.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.09.2012 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Hinsichtlich des Sach- und Streitstands im Übrigen wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakte, die Gegenstand der Entscheidung waren, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet. Der angegriffene Bescheid vom 7.06.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.06.2012 ist aufzuheben, denn er ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in eigenen Rechten. Die Voraussetzungen von § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X liegen nicht vor.

Unter welchen Voraussetzungen ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung - hier der Bescheid vom 4.05.2011 - grundsätzlich aufgehoben werden kann, ist u. a. in § 48 SGB X geregelt:

Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltungsakt soll gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X mit Wirkung zum Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit
1. die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt,
2. der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgegebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderung der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist,
3. nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruches geführt haben würde oder
4. der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.
Als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse gilt gemäß § 48 Abs. 1 Satz 3 SGB X in Fällen, in denen Einkommen oder Vermögen auf einen zurückliegenden Zeitraum aufgrund der besonderen Teile des Gesetzbuches anzurechnen ist, der Beginn des Anrechnungszeitraumes.

Soweit der ursprüngliche Verwaltungsakt – hier der Bescheid über die Bewilligung der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung vom 4.05.2011 – rechtmäßig war, ist eine Änderung im Sinne des § 48 SGB X regelmäßig "wesentlich", wenn durch sie dem ursprünglich erlassenen Verwaltungsakt nachträglich die Rechtsgrundlage entzogen wird. Entscheidend ist in diesem Fall, ob die Behörde den Verwaltungsakt auch unter geänderten Verhältnissen noch mit unverändertem Inhalt erlassen dürfte oder nicht. Ist das nicht der Fall, so ist die Änderung der Verhältnisse "wesentlich" im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X. Dem entsprechend heißt es bereits in der Begründung zum Entwurf des Sozialgesetzbuches – Verwaltungsverfahren – (Bundestagsdrucksache 8/2034, S. 35 zu § 46), ob eine wesentliche Änderung vorliegt, bestimme sich nach dem materiellen Recht.

Der durch die angegriffenen Bescheide aufgehobene Bescheid vom 4.05.2011 über die Bewilligung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung war ein Dauer-Verwaltungsakt und bei seinem Erlass rechtmäßig. Nach § 43 Sozialgesetzbuch (SGB) VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung, wenn sie teilweise oder voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 S. 2 SGB VI). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI). Im Mai 2011 hatte die Klägerin nur einen Anspruch auf die Bewilligung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung. Zwar hatte das orthopädische Gutachten vom 13.05.2011 ein unter sechsstündiges Leistungsvermögen arbeitstäglich ergeben. Sie hatte aber damals noch einen Teilzeitarbeitsplatz inne, so dass keine Rente wegen voller Erwerbsminderung bei Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarkts zu zahlen war. Zugleich war aber auch ein unter dreistündiges Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht nachgewiesen.

Durch die nachträgliche Bewilligung der Rente wegen voller Erwerbsminderung liegt auch eine wesentliche Änderung der Verhältnisse vor, da diese Rente zum Wegfall der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung führte und die Beklagte den Bewilligungsbescheid über die teilweise Erwerbsminderungsrente unter geänderten Verhältnissen nicht mit unverändertem Inhalt erlassen durfte. Denn nach § 89 Abs. 1 S. 1 SGB VI wird nur die höchste Rente geleistet, wenn für denselben Zeitraum Ansprüche auf mehrere Renten aus eigener Versicherung bestehen. Da die Vorschrift lediglich hinsichtlich der Rentenleistung eine Regelung trifft, bezieht sie sich nur auf den Rentenzahlanspruch und lässt damit den Anspruch auf Rente dem Grunde nach unberührt. Dies bedeutet, dass bei konkurrierenden Rentenansprüchen im Sinne des § 89 Abs. 1 Satz 1 SGB VI beide Rentenansprüche dem Grunde nach bestehen bleiben, der Zahlungsanspruch der niedrigeren Rente während der Dauer des Bezugs der höheren Rente aber nicht entsteht (BSG SozR 3-2600 § 101 Nr 2 S 5 f) bzw. bei rückwirkender Bewilligung einer höheren Rente nachträglich entfällt (vgl. BSG, Urteil vom 7.09.2010, B 5 KN 4/08 R). Bei gleich hohen Renten ist nach § 89 Abs. 1 S. 2 SGB VI folgende Rangfolge maßgebend:
1. Regelaltersrente,
2. Altersrente für langjährig Versicherte,
3. Altersrente für schwerbehinderte Menschen,
3a. Altersrente für besonders langjährig Versicherte,
4. Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit (Fünftes Kapitel),
5. Altersrente für Frauen (Fünftes Kapitel),
6. Altersrente für langjährig unter Tage beschäftigte Bergleute,
7. Rente wegen voller Erwerbsminderung,
8. Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Fünftes Kapitel),
9. Erziehungsrente,
10. Rente wegen Berufsunfähigkeit (Fünftes Kapitel),
11. Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung,
12. Rente für Bergleute.
Entweder weil die der Klägerin gezahlte volle Erwerbsminderungsrente dem Zahlbetrag nach höher war als die teilweise Erwerbsminderungsrente (§ 89 Abs. 1 S. 1 SGB VI) oder aber aufgrund der höheren Rangfolge der vollen Erwerbsminderungsrente vor der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung (§ 89 Abs. 1 S. 2 Nr. 7, 11 SGB VI) führt die Bewilligung der vollen Erwerbsminderungsrente zu einem Wegfall der teilweisen Erwerbsminderungsrente.

Die Klägerin hat auch nach Erlass des Bescheids über die Bewilligung der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung Einkommen erzielt, das zum Wegfall der teilweisen Erwerbsminderungsrente führte. Der Beginn des Anrechnungszeitpunkts von Einkommen gilt als Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse (§ 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X). Jedenfalls ab Dezember 2012 (wo die volle Erwerbsminderungsrente höher war als die teilweise) stellt die Zahlung der vollen Erwerbsminderungsrente anstelle der teilweisen Erwerbsminderungsrente Einkommen im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X dar (vgl. BSG, Urteil vom 7.09.2010, B 5 KN 4/08 R). Dem steht nicht entgegen, dass hier, anders als in dem vom BSG entschiedenen Fall, teilweise und volle Erwerbsminderungsrente betroffen sind und somit nicht zwei "so verschiedene" Rentenarten wie in dem vom BSG entschiedenen Fall Urteil vom 7.09.2010, B 5 KN 4/08 R, wo der Kläger Rente für Bergleute bezog und ihm rückwirkend eine höhere Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zuerkannt wurde. Zum einen sind auch volle und teilweise Erwerbsminderungsrente (auch hinsichtlich der Voraussetzungen, Funktionen und Hinzuverdienstgrenzen) unterschiedliche Rentenarten, wie zum Beispiel die Differenzierung in § 89 Abs. 1 S. 2 Nr. 7, 11 SGB VI zeigt. Es gibt kein "eines" Recht auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (BSG, Urteil vom 7.09.2010, B 5 KN 4/08 R, Juris Rz. 30,32). Zum anderen aber hat das BSG in der Entscheidung vom 7.09.2010, B 5 KN 4/08 R, festgestellt, dass § 89 SGB VI keine Erfüllungsfiktion dergestalt enthält, dass der Anspruch auf Zahlung der höheren Rente in Höhe der bereits gezahlten niedrigeren Rente als erfüllt gilt. Dies gilt für alle von § 89 Abs. 1 S. 2 SGB VI erfassten Rentenarten, so dass in Fällen wie dem vorliegenden nur die Rückabwicklung über § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X bleibt. Der Annahme einer Einkommenserzielung steht nicht entgegen, dass die Rente wegen voller Erwerbsminderung an die Klägerin wegen der Befriedigung von Erstattungsansprüchen der Krankenkasse nicht ausgezahlt wurde. Der Begriff "erzielt" im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X ist weit auszulegen. Er erfasst jede Form des Einkommens- und Vermögenszuwachses, auch eine mittelbare. Dafür lassen sich neben der amtlichen Begründung (BT-Drucks 8/2034 S 35 zu § 46) und der Idee der Vermeidung von Doppelleistungen vor allem die §§ 102 ff SGB X anführen. Nach diesen gilt unter anderem: Hat ein Leistungsträger (hier die Krankenkasse) Sozialleistungen erbracht und ist der Anspruch auf diese ganz entfallen, so ist der für die entsprechende Leistung zuständige Leistungsträger (hier die Beklagte) - von Ausnahmen abgesehen - erstattungspflichtig (§ 103 Abs. 1 SGB X); der Umfang des Erstattungsanspruchs richtet sich nach den für den zuständigen Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften (§ 103 Abs. 2 SGB X). Soweit ein Erstattungsanspruch besteht, gilt der Anspruch des Berechtigten (hier der Anspruch der Klägerin) gegen den zur Leistung verpflichteten Leistungsträger als erfüllt (§ 107 Abs. 1 SGB X). Schon das Bestehen eines Erstattungsanspruchs nach § 103 Abs. 1 SGB X, nicht erst dessen Realisierung, führt also zur fiktiven Erfüllung des Anspruchs des Berechtigten gegenüber dem verpflichteten Leistungsträger (BSG, Urteil vom 31. Oktober 1991 – 7 RAr 46/90 –, Rn. 24, juris). Dem Grunde nach dürfte unstreitig sein, dass der Krankenkasse der Klägerin nach § 50 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB V ein Erstattungsanspruch gegen die Beklagte zustand. Ob die von der Beklagten beglichenen Erstattungsansprüche hier in vollem Umfang zur Fiktion des § 107 Abs. 1 SGB X geführt haben, kann jedoch offenbleiben, da die angegriffenen Bescheide aus anderem Grund aufzuheben waren.

Hinsichtlich des Zeitraums bis einschließlich November 2011 liegt schon keine Einkommenserzielung im Sinne von § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X vor, denn die Rente wegen voller Erwerbsminderung bis einschließlich November 2011 ist nicht höher als die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, so dass sich die Bewilligung der vollen Erwerbsminderungsrente auf den Auszahlungsanspruch der Höhe nach nicht auswirkt (vgl. mit anderem Lösungsansatz SG München, Gerichtsbescheid vom 14. Januar 2015 S 31 R 990/13 –, Rn. 29, juris). Zwar entfällt für diesen Zeitraum die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 89 Abs. 1 S. 2 aufgrund der höheren Rangfolge der Rente wegen voller Erwerbsminderung. Eine Einkommenserzielung, wie von § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X gefordert, die zum Wegfall der Rente wegen teilweisen Erwerbsminderung geführt haben würde, liegt jedoch nicht vor. Der Bescheid vom 4.5.2011 durfte daher - wenn überhaupt - nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X erst ab 1.12.2011 aufgehoben werden. Für den Zeitraum zuvor ist aus Sicht des Gerichts für die Aufhebung der Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei nachträglicher Bewilligung einer was den Auszahlungsbetrag angeht jedenfalls nicht höheren Rente wegen voller Erwerbsminderung, die für diesen Zeitraum wegen der gesetzlichen Rangfolge der Renten in § 89 Abs. 1 S. 2 SGB VI erfolgt, keiner der Aufhebungstatbestände des 48 Abs. 1 S. 2 SGB X für die Vergangenheit erfüllt.

Der angegriffene Verwaltungsakt war aber wegen Ermessensnichtgebrauchs aufzuheben. Ein sog. atypischer Fall im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X, der eine Ermessensausübung erforderlich gemacht hätte, lag aus Sicht des Gerichts vor (a.A. SG Augsburg, Urteil vom 6.11.2013, S 2 R 531/13; SG Mainz, Urteil vom 14.11.2013, S 1 R 681/12;SG München, Urteil vom 28.11.2013, S 56 R 2477/12; SG Reutlingen, Urteil vom 18.3.2014, S 12 R 1385/13, jeweils soweit ersichtlich unveröffentlicht). Nach dieser Vorschrift "soll" der Verwaltungsakt unter den weiteren Voraussetzungen der Nrn. 1 bis 4 aufgehoben werden. Der Begriff "soll" ist dahin zu verstehen, dass dies grundsätzlich zu erfolgen hat, allerdings dann nicht, wenn ein atypischer Fall vorliegt (Steinwedel in Kasseler Kommentar, 85. Ergänzungslieferung, April 2015, § 48 Rz. 35 ff.). Dabei bestimmen die Umstände des Einzelfalles, ob ein atypischer Fall gegeben ist. Die Annahme einer Atypik kommt nur dann in Betracht, wenn der Einzelfall aufgrund seiner besonderen Umstände signifikant von dem Regelfall des Tatbestandes nach § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X abweicht, der die Aufhebung des Verwaltungsaktes für die Vergangenheit gerade rechtfertigt. Ob der unbestimmte Rechtsbegriff eines atypischen Falles vorliegt, ist gerichtlich zu überprüfen und zu entscheiden (BSG vom 29. April 1992 - 7 RAr 4/91). In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, welche der in § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X aufgeführten Alternativen erfüllt ist. Insbesondere reicht hierzu die vom Gesetzgeber in § 48 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB X gerade als typisch angesehene Sachlage nicht aus, dass wegen des erzielten Einkommens die Sozialleistung nicht beim Empfänger verbleiben soll (Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 02. Juli 2013 L 2 R 51/13 –, juris). Ein mitwirkendes Fehlverhalten der Beklagten kann jedoch auch bei § 48 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB X einen atypischen Fall rechtfertigen (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 11. Oktober 2011, L 2 R 292/10 , juris; vgl. auch die Ausführungen zum Nichtvorliegen von Mitverschulden Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 02. Juli 2013, L 2 R 51/13, juris; vgl. auch BSG, Urteil vom 31. Januar 2008 – B 13 R 23/07 R , juris Rz. 30 f.).

Ein mitwirkendes Fehlverhalten der Beklagten, das zu der Überzahlung beigetragen hat, liegt hier darin, dass die Klägerin im Zusammenhang mit der Bewilligung einer vollen Erwerbsminderungsrente nicht darauf hingewiesen worden ist, dass nach der Rechtsprechung des BSG vom 7.09.2010, B 5 KN 4/08 R bei rückwirkender Bewilligung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung anstelle einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung eine Überzahlung eintreten kann, die vom Versicherten zu ersetzen sein kann. Dies kann für den zurückliegenden Zeitraum bei vorherigem Bezug von Lohnersatzleistungen dazu führen, dass die Versicherten durch die Bewilligung der vollen Erwerbsminderungsrente für den zurückliegenden Zeitraum wirtschaftlich schlechter stehen als sie bei Bezug der teilweisen Erwerbsminderungsrente neben Lohnersatzleistungen standen. Versicherte haben jedoch ein Wahlrecht zwischen den unterschiedlichen Rentenarten. Sie können also z.B. statt der höheren die niedrigere Rente wählen. Insoweit liegt ein Verzicht im Sinne des § 46 SGB I vor. Bei gleich hohen Renten ist die Rangfolge des § 89 Abs. 1 S. 2 SGB VI für die Versicherten nicht bindend, so dass z.B. statt einer vorzeitigen Altersrente (allerdings nur bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze) die Rente wegen Erwerbsminderung gewählt werden kann (vgl. Wehrhahn Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht 85. Ergänzungslieferung 2015, § 89 SGB VI Rz. 8 f.). Bezüglich der Fallgestaltung, dass noch keine Rente geleistet wird und zurzeit der Entscheidung für den gleichen Zeitraum Anspruch auf mehrere Renten besteht, ergibt sich dies auch aus der Begründung des Gesetzes, nach der die in Abs. 1 S. 2 bezeichnete Rangfolge nur zum Tragen kommen soll, wenn vom Berechtigten der Rentenantrag nicht auf eine bestimmte Rentenart beschränkt wird (FraktE-RRG S 174 zu § 88). Das Wahlrecht wird durch einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung gegenüber dem Rentenversicherungsträger ausgeübt. Anders als bei Willenserklärungen des bürgerlichen Rechts (vgl. § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB) ist der Beteiligte in einem Sozialverwaltungsverfahren aber an seinen Antrag nicht bereits mit dessen Zugang bei der Behörde gebunden (vgl BSGE 60, 79, 82 = SozR 4100 § 100 Nr 1), vielmehr kann er ihn zumindest bis zum Erlaß des Verwaltungsaktes (vgl § 39 Abs 1 Satz 1 SGB X) jederzeit zurücknehmen (BSG, Urteil vom 09. August 1995 – 13 RJ 43/94 –, SozR 3-2500 § 50 Nr 3, BSGE 76, 218-224, SozR 3-1300 § 103 Nr 6, Rn. 23) Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 82. EL 2014, § 89 SGB VI Rz. 8 ff.). Zur Wahrung dieses Wahlrechtes hätte die Klägerin bei der Bewilligung der vollen Erwerbsminderungsrente darauf hingewiesen werden müssen, dass es bis zur Abrechnung der Rentennachzahlung ratsam sein kann, Widerspruch gegen den Bescheid über die Bewilligung einer vollen Erwerbsminderungsrente einzulegen und dass ihr die Befugnis zusteht, den Rentenbeginn auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, so dass ab Beginn der Rente wegen voller Erwerbsminderung keine Erstattungsansprüche mehr bestehen (BSG, Urteil vom 09. August 1995 – 13 RJ 43/94, Juris Rz. 27 ff.). Diese Beratungspflicht folgt aus Sicht des Gerichts aus § 14 SGB I. Nach dieser Vorschrift hat jeder Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach diesem Gesetzbuch. Zuständig für die Beratung sind die Leistungsträger, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind. Aus Sicht des Gerichts besteht in Fällen der rückwirkenden Bewilligung einer vollen Erwerbsminderungsrente bei vorherigem Bezug einer teilweisen Erwerbsminderungsrente und Bestehen von Erstattungsansprüchen infolge der Umsetzung des BSG-Urteils vom 7.09.2010, B 5 KN 4/08 R auch auf Klagen von Versicherten eine solche Beratungspflicht, denn Versicherte können nicht wissen, dass sie bei Bewilligung einer vollen Erwerbsminderungsrente für den zurückliegenden Zeitraum schlechter stehen können als bei Bewilligung einer teilweisen Erwerbsminderungsrente. Die in der Kommentarliteratur formulierten Anforderungen für das Bestehen einer Beratungspflicht sind erfüllt (vgl. zum folgenden abstrakt Mönch-Kalina in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 2. Aufl. 2011, § 14 SGB I, Rn. 36). So stellte sich vorliegend die Frage nach einer Beratungspflicht im Rahmen einer individuellen, konkreten Sachbearbeitung, es gab eine wirtschaftlich günstigere Gestaltungsmöglichkeit in Form der Bestimmung eines späteren Rentenbeginns und der Klägerin stand für die Ausübung des Bestimmungsrechts hinsichtlich des Beginns der Erwerbsminderungsrente nur eine kurze Zeit zur Verfügung (die Widerspruchsfrist gegen den Bewilligungsbescheid über die volle Erwerbsminderungsrente) und die Umsetzung des zitierten BSG-Urteils kann im Einzelfall zu gravierenden und für die Versicherten unerwarteten Rechtsfolgen führen.

Da hier eine Verpflichtung zur Neubescheidung grundsätzlich möglich wäre, ein neu zu erlassender Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid jedoch an der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 S. 1 i.V.m. § 45 Abs. 4 S. 2 SGB X scheitern würde (BSG, Urteil vom 27. Juli 1989 – 11/7 RAr 115/87 –, SozR 1300 § 45 Nr 45, BSGE 65, 221-230), waren die angegriffenen Bescheide sowohl hinsichtlich der Aufhebungs- als auch hinsichtlich der darauf basierenden Erstattungsverfügung aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, die Zulässigkeit der Berufung auf §§ 143, 144 SGG.
Rechtskraft
Aus
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