S 21 KR 375/19 ER

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
21
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 21 KR 375/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
S 21 KR 375/19 ER
Sozialgericht Hamburg
Beschluss

In dem Rechtsstreit

hat die Kammer 21 des Sozialgerichts Hamburg am 1. März 2019 durch den Richter beschlossen:
1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Kosten für die Teilnahme der Antragstellerin für das am 18. März 2019 beginnende Programm Optifast 52 im Krankenhaus G. zu übernehmen.
2. Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.
Die Antragstellerin ist bei der Antragsgegnerin gesetzlich krankenversichert. Mit Schreiben vom 27. Dezember 2018 beantragte sie die Kostenübernahme für die Teilnahme am Optifast 52 -Programm ab dem 18. März 2019 im Krankenhaus G. in H ... Dem Antrag war ein Kostenvoranschlag in Höhe von 3.390 Euro beigefügt. Das Antragsschreiben ging der Antragsgegnerin am 2. Januar 2019 zu.
Mit Bescheid vom 15. Januar 2019 lehnte die Antragsgegnerin den Kostenübernahmeantrag ab. Der Zugang dieses Bescheids ist zwischen den Beteiligten streitig. Nach einem Anruf der Antragstellerin bei der Antragsgegnerin am 21. Januar 2019 beauftragte die Antragsgegnerin den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit einer Stellungnahme zu dem Leistungsantrag. Der MDK vertrat die Auffassung, dass die Voraussetzungen für eine Leistungsgewährung nicht vorlägen.
Mit Schreiben vom 24. Januar 2019 wandte sich der Verfahrensbevollmächtigte der Antragstellerin an die Antragsgegnerin und forderte diese zur Bestätigung der Kostenübernahme auf. Hierauf antwortete die Antragsgegnerin nicht.
Am 5. Februar 2019 hat die Antragstellerin schließlich einen Eilantrag beim Sozialgericht gestellt. Sie vertritt die Auffassung, dass die Voraussetzungen einer Genehmigungsfiktion gem. § 13 Abs. 3a Sozialgesetzbuch - Fünftes Buch (SGB V) vorlägen. Auf die medizinische Indikation der beantragten Therapie käme es vor diesem Hintergrund nicht an. Unter Vorlage einer entsprechenden eidesstattlichen Versicherung hat die Antragstellerin erklärt, dass ihr der Bescheid der Antragsgegnerin vom 15. Januar 2019 nicht zugegangen sei. In dem Telefonat am 21. Januar 2019 habe sie erfahren, dass über den Antrag noch nicht entschieden worden sei. Es bestehe Eilbedarf, weil das Optifast 52 -Programm bereits am 18. März 2019 beginne. Die Antragstellerin hat weiter erklärt, dass sie nicht in der Lage sei, hinsichtlich der Behandlungskosten in Vorleistung zu treten.
Die Antragstellerin beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten der Antragstellerin für das Optifast 52 -Programm des Krankenhauses G., Durchgang ab 18.3.2019 zu übernehmen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzuweisen.
Sie verweist auf den Ablehnungsbescheid vom 15. Januar 2019. Dieser sei mit einfacher Post an die Antragstellerin versandt worden. Das Optifast 52 -Programm gehöre nicht zum Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung.
Das Gericht hat einen Befundbericht der behandelnden Ärztin der Antragstellerin eingeholt. Demnach leide die Antragstellerin unter einer Adipositas-Erkrankung mit einem BMI von 34,4 kg/m² sowie diversen Beschwerden, die aufgrund der Adipositas zu erklären seien.
Des Weiteren hat der Vorsitzende eine telefonische Auskunft des Krankenhauses G. eingeholt. Demnach beginnen neue Gruppen für das Optifast 52 -Programm nur zweimal jährlich, zumeist im April und September eines Jahres.

II.
Der Antrag ist zulässig und begründet.
1.
Das Gericht der Hauptsache kann auf Antrag nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Hierzu bedarf es eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrunds. Ein Anordnungsgrund ist gegeben, wenn die Entscheidung eilbedürftig ist und es nach den Umständen des Einzelfalls für den Betroffenen unzumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Der Anordnungsanspruch ist der materiell-rechtliche Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll. Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind unter Beachtung der objektiven Beweislastverteilung glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Zivilprozessordnung [ZPO]), die anspruchsbegründenden Tatsachen müssen daher überwiegend wahrscheinlich sein.
a)
Nach diesen Maßgaben besteht ein Anordnungsanspruch, denn die Antragstellerin hat aufgrund der Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V einen Anspruch auf Kostenübernahme für die beantragte Teilnahme an dem Optifast 52 -Programm.
 
aa)
Die Regelung des § 13 Abs. 3a S. 6 SGB V ist auf den Antrag der Antragstellerin sachlich anwendbar. Die Regelung erfasst unter anderem Ansprüche auf Krankenbehandlung (BSG, Urteil vom 6. November 2018, B 1 KR 30/18 R, Rn. 19). Ein Ausschluss gemäß § 13 Abs. 3a S. 9 SGB V liegt nicht vor, weil es sich bei dem beantragten Optifast 52 -Programm nicht um eine Leistung der medizinischen Rehabilitation handelt. Nach dem eingeholten Befundbericht leidet die Antragstellerin unter einer Adipositas-Erkrankung mit einem BMI von 34,4. Die Kammer geht davon aus, dass der Adipositas selbst Krankheitswert zukommt. Dafür spricht schon die Aufnahme in den ICD-10 in Kapitel IV E65-E68. Die behandelnde Ärztin der Antragstellerin hat darüber hinaus in ihrem Befundbericht dargelegt, dass infolge der Adipositas bereits diverse Beschwerden aufgetreten seien, unter anderen Hypertonie, LWS-Syndrom sowie eine rezidivierende depressive Störung. Gemäß Empfehlung 5.33 der S3-Leitlinie zur Therapie von Übergewicht und Adipositas sollen Menschen mit Adipositas Gewichtsreduktionsprogramme angeboten werden. Bei dem beantragten Optifast 52 -Programm handelt es sich um ein solches Gewichtsreduktionsprogramm, das unter anderem ärztliche Untersuchungen, Ernährungsschulung, Bewegungstraining und Verhaltenstherapie enthält. Zusätzlich werden bestimmte Nahrungsergänzungsmittel eingesetzt. Gemäß der S3-Leitlinie handelt es sich hierbei um ein evaluiertes Therapieprogramm.
bb)
Der Antrag der Antragstellerin war auch hinreichend bestimmt. Es ist vorliegend auch unschädlich, dass der Antrag ausdrücklich auf eine Teilnahme an dem Programm im Krankenhaus G. gerichtet war. Zwar haben Versicherte regelmäßig keinen Anspruch darauf, von einem bestimmten Leistungsträger behandelt zu werden (vgl. BSG, aaO.). Im vorliegenden Fall wird das von der Antragstellerin begehrte Therapieprogramm allerdings nach ihrem insoweit unwidersprochenen Vortrag in Wohnortnähe der Antragstellerin nur in diesem einen Krankenhaus angeboten. Auch eine Online-Recherche des Vorsitzenden hat insoweit keine entgegenstehenden Erkenntnisse gebracht. Die Wohnortnähe ist nach der Konzeption des Programms auch erforderlich, weil wöchentliche Gruppensitzungen stattfinden, an denen die Antragstellerin teilnehmen muss.
cc)
Der Antrag der Antragstellerin betraf auch eine Leistung, die sie für erforderlich halten durfte und die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung liegt. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ergibt sich diese Einschränkung der Genehmigungsfiktion sinngemäß nach dem Regelungszusammenhang und -zweck.
Die von der Antragstellerin begehrte Teilnahme an dem Optifast 52 -Programm liegt nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung. Dem steht nicht entgegen, dass es hierfür nach dem Vortrag der Antragsgegnerin bisher keine Leistungsempfehlung des MDK gibt. Die Antragstellerin durfte aufgrund der fachlichen Befürwortung ihrer Hausärztin (vgl. Ärztliche Bescheinigung vom 19. Dezember 2018, Bl. 2 der Verwaltungsakte) davon ausgehen, dass die Teilnahme an dem Programm zur Behandlung ihrer Adipositas geeignet und erforderlich ist. Hierfür spricht auch die Aufnahme des Optifast 52 -Programms in die S3-Leitlinie (siehe oben).
dd)
Die Antragstellerin hat nicht fristgemäß über den Leistungsantrag der Antragstellerin entschieden. Gemäß § 13 Abs. 3a S. 1 SGB V hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistung spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen oder in Fällen, in denen eine gutachterliche Stellungnahme des MDK eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. Da der Antrag der Antragstellerin der Antragsgegnerin am 2. Januar 2019 zu-gegangen ist, begann der Fristlauf am 3. Januar 2019. Fristablauf für die Dreiwochenfrist war demnach der 23. Januar 2019; die Fünfwochenfrist endete am 6. Februar 2019.
Es kann dahinstehen, ob im vorliegenden die Fall die Drei- oder Fünfwochenfrist Anwendung findet. Die Antragstellerin hat nämlich glaubhaft gemacht, dass ihr überhaupt keine Entscheidung der Antragsgegnerin zugegangen ist.
In der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin findet sich zwar ein Ablehnungsbescheid vom 15. Januar 2019. Die Antragsgegnerin hat jedoch nicht glaubhaft gemacht, dass der Antragstellerin diese Entscheidung auch bekannt gegeben wurde. Auf die Bekanntgabe kommt es aber – entgegen dem insoweit missverständlichen Wortlaut von § 13 Abs. 3a S. 1 SGB V – maßgeblich an (vgl. BSG, Urteil vom 26. Februar 2019, B 1 KR 20/18 R, bisher nur als Pressemitteilung). Sinn und Zweck der Fristenregelung in § 13 Abs. 3a SGB V ist es, den Versicherten schnell Klarheit über ihre Leistungsansprüche gegenüber den Krankenkassen zu verschaffen. Wäre der Fristablauf schon dann gehemmt, wenn eine bloß interne Willensbildung der Krankenkasse stattgefunden hat, wäre dieses Ziel nicht erreicht.
Die Antragsgegnerin hat als Handlungsform einen schriftlichen Verwaltungsakt gewählt. Gemäß § 37 Abs. 2 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch (SGB X) kommt es für die Bekanntgabe schriftlicher Verwaltungsakte auf den Zugang beim Betroffenen an. Im Zweifel hat die Antragstellerin den Zugang nachzuweisen. Eine fristgemäße Bekanntgabe der Entscheidung kann daher auch nicht in dem Telefonat zwischen der Antragstellerin und der Mitarbeiterin der Antragsgegnerin am 21. Januar 2019 stattgefunden haben. Überdies hat die Antragstellerin glaubhaft gemacht, dass ihr in diesem Telefonat mitgeteilt wurde, dass über ihren Antrag noch nicht entschieden worden sei. Diese Darstellung der Antragstellerin erscheint auch schlüssig, weil die Antragsgegnerin offenbar nach diesem Telefonat den MDK mit einer Stellungnahme zu dem Leistungsantrag beauftragt hat. Wäre die ablehnende Entscheidung über den Leistungsantrag schon bekanntgegeben worden, wäre es aus Sicht der Antragsgegnerin konsequent gewesen, mit einer solchen Beauftragung zu warten, bis ein formgerechter schriftlicher Widerspruch der Antragstellerin vorgelegen hätte.
b)
Es besteht auch ein Anordnungsgrund. Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass der nächste Durchgang des Programms bereits am 18. März 2019 beginnt. Nach telefonischer Auskunft beginnt das Programm nur zweimal im Jahr. Angesichts der gesundheitlichen Beschwerden der Antragstellerin aufgrund ihres Übergewichts ist es ihr nicht zumutbar weiter zuzuwarten. Insbesondere liefe die eingetretene Genehmigungsfiktion beim Abwarten eines Hauptverfahrens faktisch ins Leere. Der Antragstellerin hat auch glaubhaft gemacht, dass sie nicht in der Lage wäre, die Teilnahme an dem Programm zunächst vorzufinanzieren.
2.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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