S 21 KR 3062/19 ER

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
21
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 21 KR 3062/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Kosten der Antragstellerin für bis zu vier probatorische Sitzungen sowie eine Kurzzeittherapie im Umfang von bis zu 24 Einzelsitzungen bei der Dipl.-Psychologin gemäß Kostenvoranschlag vom 26. Juli 2019 zu übernehmen. Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

Tatbestand:

I. Die Antragstellerin begehrt im Eilverfahren die Übernahme von Kosten für eine psychotherapeutische Behandlung bei einer Nichtvertragstherapeutin. Die Antragstellerin ist bei der Antragsgegnerin krankenversichert. Sie leidet unter anderem an einer rezidivierenden depressiven Störung und einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung. Wegen dieser Erkrankungen war sie unter anderem im Jahr 2016 in teilstationärer Behandlung und vom 13. Februar bis 3. Mai 2018 in stationärer Behandlung. Nach der Entlassung bemühte sich die Antragstellerin um die Aufnahme einer ambulanten Psychotherapie. Mit Schreiben vom 16. Juli 2019 beantragte sie die Kostenerstattung für eine ambulante Psychotherapie bei der kassenärztlich nicht zugelassenen Diplom-Psychologin M ... Dem Antrag war das Formular PTV 11 beigefügt, wonach die Antragstellerin an einer psychotherapeutischen Sprechstunde bei der Diplom-Psychologin Frau B. teilgenommen hatte. Frau B. vermerkte auf dem Formular folgende Diagnosen gemäß ICD-10-GM: F60.3, F40.01, F41.1, F33.1. Des Weiteren kommentierte sie, dass eine Therapie dringend erforderlich sei, auch um an gute Klinikerfahrungen anzuknüpfen. Als Empfehlung zum weiteren Vorgehen kreuzte Frau B. "ambulante Psychotherapie", "zeitnah erforderlich" sowie "Verhaltenstherapie" an. Einen Therapieplatz konnte Frau B. der Antragstellerin nicht anbieten. Dem Antrag der Antragstellerin auf Kostenerstattung war ein Kostenvoranschlag der Frau M. für eine Kurzzeittherapie über 24 Einzelsitzungen und vier probatorische Sitzungen beigefügt. Die Abrechnung sollte zu den Konditionen eines Vertragstherapeuten nach EBM erfolgen. Frau M. veranschlagte für die Kurzzeittherapie einschließlich Probatorik einen Gesamtbetrag von 2.788,36 Euro. Dem Kostenerstattungsantrag waren des Weiteren eine Kopie von Frau M.s Approbationsurkunde sowie der Bescheid über ihre Eintragung im Arztregister Hamburg beigefügt. Außerdem reichte die Antragstellerin eine Liste mit 14 Psychotherapeuten ein, die sie seit Mai 2018 kontaktiert hatte ohne eine Therapieplatz zu erhalten. Mit Bescheid vom 7. August 2019 lehnte die Antragsgegnerin die Kostenerstattung ab. Sie verwies die Antragstellerin insbesondere auf die Terminservicestelle der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg (TSS). Hiergegen legte die Antragstellerin schriftlich Widerspruch ein, welcher der Antragsgegnerin am 28. August 2019 zuging. Die Antragstellerin führte unter anderem aus, dass sie von der TSS die Daten der Psychotherapeutin Frau U. erhalten habe. Bei dieser habe sie auch eine probatorische Sitzung wahrgenommen. Leider habe Frau U. keinen Therapieplatz und auch keine offene Warteliste gehabt. Des Weiteren habe sie von der TSS die Daten der Psychotherapeutin Frau A. erhalten. Auch diese habe aber keinen Therapieplatz frei gehabt, sondern nur probatorische Sitzungen anbieten können. Daher habe sie bei Frau A. keinen Termin wahrgenommen. Aus ihrer Sicht habe sie alle Möglichkeiten, einen Therapieplatz über Eigenbemühungen oder die TSS zu bekommen, ausgeschöpft. Es gäbe keine Möglichkeit, zeitnah eine ambulante Therapie bei einem Psychotherapeuten mit Kassensitz zu bekommen. Daher finde die Kostenerstattung nach § 13 SGB V Anwendung. Mit Widerspruchsbescheid vom 8. Oktober 2019 wies Antragsgegnerin den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie unter anderem aus, dass bei festgestellter akuter Behandlungsbedürftigkeit eine so genannte Akutbehandlung vorgesehen sei. Die Vermittlung in die Behandlung erfolge durch die TSS. Die Akutbehandlung müsse von der Krankenkasse nicht genehmigt werden. Versicherte dürften Psychotherapeuten in Anspruch nehmen, die an dem Vertrag zwischen den Kassen und den Leistungserbringern beteiligt seien. Die Diplom-Psychologin sei keine Vertragspartnerin der Krankenkassen. Ein Notfall liege nicht vor. Auch die auf dem PTV 11 dokumentierte Erforderlichkeit einer zeitnahen Behandlung rechtfertige nicht die Inanspruchnahme von Nichtvertragstherapeuten. Vielmehr sei in derartigen Fällen eine Vermittlung in die probatorischen Sitzungen bei Vertragstherapeuten vorgesehen. Die TSS seien verpflichtet, innerhalb von vier Wochen in die Probatorik zu vermitteln. Die TSS habe der Antragstellerin zwei Therapeuten benannt. Einen Termin bei Frau A. habe sie nicht wahrgenommen. Von der Möglichkeit weitere Therapeuten über die TSS für probatorische Sitzungen genannt zu bekommen, habe sie keinen Gebrauch gemacht. Eine ausreichende und zweckmäßige Versorgung durch zugelassene Therapeuten sei insgesamt sichergestellt. Die Antragstellerin hat am 17. Oktober 2019 beim Sozialgericht Hamburg Klage gegen die Ablehnung der Kostenerstattung erhoben (Az. S 21 KR 3063/19). Zugleich beantragt sie im dem Wege des einstweiligen Rechtsschutzes, umgehend die Kosten der Behandlung zu übernehmen. Ergänzend zu ihrem vorgerichtlichen Vorbringen im Verwaltungsverfahren trägt die Antragstellerin vor, dass bei ihr ein gutartiger Gehirntumor diagnostiziert worden sei und sie nicht mehr richtig sehen könne. Diese Situation mache eine psychotherapeutische Behandlung wirklich dringend. Sie sei finanziell nicht in der Lage, die Therapie vorerst aus eigenen Mitteln zu finanzieren, da sie aufgrund ihrer Erkrankung aktuell nicht arbeiten könne. Sie beziehe Arbeitslosengeld II. Innerhalb des Zeitraums, in dem sie versucht habe, einen ambulanten Psychotherapeuten mit Kassenzulassung zu bekommen, habe sich die Symptomatik bereits deutlich verschlechtert. Es drohe eine Chronifizierung der Erkrankung. Eine vollstationäre Therapie könne sie nicht in Anspruch nehmen, da sie sich um ihre 14 -jährige Tochter kümmern müsse. Auch diese befinde sich in psychotherapeutischer Behandlung.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß, die Antragstellerin auf dem Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten für die Behandlung bei der Psychotherapeutin Frau zu übernehmen.

Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückzuweisen.

Zur Begründung nimmt die Antragsgegnerin im Wesentlichen auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid Bezug. Darüber hinaus trägt sie vor, dass eine auf Dauer angelegte Psychotherapie keinen Notfall darstelle, der sofortiges ärztliches Handeln erfordere; vielmehr könnten hier die Möglichkeiten ärztlicher oder psychotherapeutischer Hilfe im Rahmen einer Krisenintervention genutzt werden. Sollte dem Antrag stattgegeben werden, liefe die Antragsgegnerin Gefahr, die verauslagten Kosten von der Antragstellerin später nicht zurück erlangen zu können. Es erscheine daher zumutbar, bis zur Entscheidung in der Hauptsache auf eine vorübergehende eigene Kostenübernahme zu verweisen. Es bestehe überdies die Gefahr einer Vorwegnahme der Hauptsache.

Das Gericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte und Therapeuten der Antragstellerin eingeholt.

Entscheidungsgründe:

II. Der Antrag ist zulässig und begründet. 1. Das Gericht der Hauptsache kann auf Antrag nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Satz 1); es kann eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (Satz 2). Hierzu bedarf es eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrunds. Ein Anordnungsgrund ist gegeben, wenn die Entscheidung eilbedürftig ist und es nach den Umständen des Einzelfalls für den Betroffenen unzumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten. Der Anordnungsanspruch ist der materiell-rechtliche Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll. Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind unter Beachtung der objektiven Beweislastverteilung glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Zivilprozessordnung [ZPO]), die anspruchsbegründenden Tatsachen müssen daher überwiegend wahrscheinlich sein. 2. Die Voraussetzungen für den Erlass einer sog. Regelungsanordnung gem. § 86b Abs. 2 S. 2 SGG liegen vor. Insbesondere ist nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gebotenen summarischen Prüfung ein Anordnungsanspruch der Antragstellerin zu bejahen. Versicherte erhalten die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich als Sachleistungen. Ein Anspruch auf Kostenerstattung kommt daher gemäß § 13 Abs. 1 SGB V nur in den gesetzlich vorgesehenen Ausnahmefällen in Betracht. Ein solcher Ausnahmefall liegt hier vor. Die Antragsgegnerin hat eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbracht (so genanntes Systemversagen), so dass die Antragstellerin einen Anspruch auf die Übernahme bzw. Freistellung von Kosten einer von ihr selbst beschafften Leistung hat. a) Die Antragstellerin hat gegen die Antragsgegnerin einen primären Leistungsanspruch auf Behandlung ihrer psychischen Erkrankung gemäß §§ 2, 27 Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch (SGB V). Die Behandlungsbedürftigkeit der Antragstellerin ist zwischen den Beteiligten grds. unstreitig. Sie ist nach den gerichtlich eingeholten Befundberichten auch nachvollziehbar. Die Behandlung der Antragstellerin ist auch unaufschiebbar im Sinne des § 13 Abs. 3 SGB V. Eine Leistung ist unaufschiebbar im Sinne dieser Regelung, wenn sie im Zeitpunkt ihrer tatsächlichen Durchführung so dringlich ist, dass aus medizinischer Sicht keine Möglichkeit eines nennenswerten zeitlichen Aufschubs mehr besteht (Helbig in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 13 SGB V, Rn. 41). Für diese Dringlichkeit sprechen hier der in den Befundberichten bescheinigte hohe Leidensdruck der Antragstellerin sowie die möglichst zügige Anknüpfung an die erfolgte stationäre Behandlung. Der Unaufschiebbarkeit der Behandlung steht nicht entgegenstehen, dass die Therapeutin Frau B. in dem PTV-11-Formular keine Erforderlichkeit einer Akutbehandlung angekreutzt hat. In ihrer schriftlichen Stellungnahme vom 5. November 2011 und einem Telefonat mit dem Vorsitzenden hat Frau B. insoweit nachvollziehbar darauf hingewiesen, dass sie eine solche Akutbehandlung im Fall der Antragstellerin für nicht ausreichend erachtet hat. b) Den Anspruch der Antragstellerin auf Krankenbehandlung hat die Antragsgegnerin bisher nicht erfüllt. Über die TSS konnte der Antragstellerin bisher lediglich in eine Sprechstunde sowie eine probatorische Sitzung vermittelt werden. Diese therapeutischen Kontakte gelten aber schon nach der einschlägigen Psychotherapierichtlinie (PT-RL) nicht als Teil einer Richtlinientherapie. Die Sprechstunde dient gem. § 11 Abs. 1 S. 2 PT-RL zur Abklärung, ob ein Verdacht auf eine krankheitswertige Störung vorliegt und weitere fachspezifische Hilfen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung notwendig sind. Probatorische Sitzungen sind gem. § 12 Abs. 1 S. 1 PT-RL Gespräche, die zur weiteren diagnostischen Klärung des Krankheitsbildes, zur weiteren Indikationsstellung und zur Feststellung der Eignung der Patientin oder des Patienten für ein bestimmtes Psychotherapieverfahren [ ] dienen. Der Sachleistungsanspruch der Antragstelllerin ist schon nach dem Wortlaut des § 27 Abs. 1 SGB V auf notwendige Krankenbehandlungen gerichtet, die nicht nur auf die Erkennung, sondern auch auf die Heilung einer Erkrankung gerichtet ist. Die Antragstellerin hat daher grundsätzlich einen Anspruch auf die Versorgung mit einem der in der PT-RL vorgesehenen psychotherapeutischen Richtlinienverfahren. Zur Erfüllung des Behandlungsanspruchs genügt es nicht, dass die Antragsgegnerin die Antrastellerin auf die TSS verweist. Diese vermittelt lediglich einmalige Termine zur Akutbehandlung oder für probatorische Sitzungen. Therapieplätze, auf denen eine Richtlinientherapie nach der PT-RL durchgeführt werden kann, vermittelt die TSS hingegen nicht. Das geht sowohl aus der von der Antragstellerin vorgelegten E-Mail der TSS vom 24. Oktober 2019 als auch aus den in der Verwaltungsakte niedergelegten eigenen Ermittlungen der Antragsgegnerin (Bl. 21/22 VA) hervor und deckt sich auch mit den Erfahrungen des Vorsitzenden aus vergleichbaren Verfahren. Die Erfüllung des Sachleistungsanspruchs auf eine erforderliche psychotherapeutische Versorgung ist über die Vermittlung der TSS nicht hinreichend sichergestellt. Unabhängig davon hat die Antragstellerin glaubhaft gemacht, dass sie erhebliche Eigenbemühungen entfaltet hat, um selbst einen behandlungsbereiten Vertragstherapeuten zu finden. Das ist ihr nicht gelungen ist. Dies Eigenbemühungen der Antragstellerin werden nicht dadurch in Frage gestellt, dass sie bei der von der TSS vorgeschlagenen Therapeutin Frau A. nicht persönlich vorstellig geworden ist. Die Antragstellerin hat Frau A. zumindest kontaktiert und erfahren, dass diese über die Probatorik hinaus keinen Therapieplatz für die Antragstellerin anbieten kann. Dies hat Frau A. später auch gegenüber der Antragsgegnerin telefonisch bestätigt (Bl. 21 VA). Die Antragstellerin hatte bereits eine probatorische Sitzung bei der Therapeutin Frau U. wahrgenommen. Da die Probatorik gemäß § 12 Abs. 1 S. 4 PT-RL neben diagnostischen Klärung auch einer Abschätzung der persönlichen Passung von Patienten und Therapeuten dient, erscheint es nicht sinnvoll, von der Antragstellerin die Teilnahme an weiteren probatorischen Sitzungen mit Therapeuten zu verlangen, bei denen sie absehbar keinen Therapieplatz erhalten wird. c) Die von der Antragstellerin gewählte Therapeutin Frau M. ist approbierte Psychologische Psychotherapeutin und als solche im Arztregister eingetragen. Damit sind die für den Kostenerstattungsanspruch erforderlichen Qualitätskriterien des § 28 Abs. 3 S. 1 SGB V erfüllt (vgl. BSG v. 13.12.2016, B 1 KR 4/16 R). 2. Es liegt auch ein hinreichender Anordnungsgrund vor. Ein Abwarten bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache ist der Antragstellerin nicht zumutbar. Bei der gebotenen Interessenabwägung ist zu berücksichtigen, dass nach dem derzeitigen Sachstand gute Erfolgsaussichten für die Klage in der Hauptsache bestehen. Vor diesem Hintergrund sind an den Anordnungsgrund geringere Anforderungen zu stellen. Aus den oben dargelegten Gründen, besteht bei der Antragstellerin ein unaufschiebbarer Behandlungsbedarf. Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass sie selbst nicht in Vorleistung treten kann. Es ist ferner zu berücksichtigen, dass die von der Antragstellerin benannte Psychotherapeutin Frau M. einen Kostenvoranschlag zu den Konditionen eines Vertragstherapeuten erstellt hat, so dass der Antragsgegnerin durch die vorläufige Verpflichtung zur Kostenübernahme keine wesentlichen wirtschaftlichen Nachteile entstehen dürften. III. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 Abs. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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