S 12 SB 877/19

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Karlsruhe (BWB)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
12
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 12 SB 877/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 2685/19
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Zwar ist die Bewertung des GdB nicht die vordringliche Aufgabe des medizinischen Sachverständigen. Wenn es indessen darum geht, alle Behinderungsmomente in einer Gesamtschau unter Beachtung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander einzuschätzen sind ärztliche Meinungsäußerungen jedoch unerlässlich. Ihnen kommt zwar bei der GdB-Schätzung keine bindende Wirkung zu; sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage (Fortführung von BSG, 27.01.1987, 9a RVs 53/85).

2. Unter Berücksichtigung der (sozialgerichts-) verfahrensrechtlichen Vorgaben können in Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts zur sozialmedizinischem Aufklärung von Amts wegen je nach Einzelfall sachverständige ambulante Untersuchungen und Begutachtungen dann zu veranlassen sein, wenn der Antragsteller mithilfe fachärztlicher Atteste einerseits das Vorliegen einer Behinderung hinreichend substantiiert hat, andererseits die aktenkundigen Berichte der den Antragsteller behandelnden Mediziner für eine abschließende Beurteilung noch nicht zur Bejahung der für den Vollbeweis erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausreichen, etwa wenn tatsächliche Zweifel fortbestehen, weil in den (Untersuchungs-, Behandlungs- bzw. Entlassungs-) Berichten die für die sozialmedizinische Beurteilung maßgeblichen Befunde entweder gar nicht dokumentiert, nicht hinreichend validiert, unschlüssig, nicht nachvollziehbar, veraltet oder anderweitig unzureichend sind und auch nicht durch die Beiziehung von medizinischen Unterlagen oder Auskünften behandelnder Ärzte beschafft werden können.

3. Im Einzelfall kann absehbar sein, dass allein die Einholung von Auskünften der Behandler unzureichend wäre, um umfassende, aktuelle und hinreichend objektivierte medizinische Befunde, anamnestische Angaben, fachärztliche Diagnosen und Therapieverläufe als sozialmedizinisch maßgebliche Anknüpfungstatsachen zu erheben bzw. eine schlüssige und nachvollziehbare Bewertung der strittigen Gesamt-Teilhabebeeinträchtigung zu ermöglichen, denn unter Umständen unterscheiden sich die Untersuchungsziele, -methoden und -ergebnisse in Abhängigkeit davon, ob eine Person entweder zu diagnostischen und therapeutischen Zwecken oder zum Zwecke der sozialmedizinischen Beurteilung ärztlich untersucht wird.

4. Seitens eines orthopädisch behandelnden Facharztes bedarf es zur Diagnose und Auswahl therapeutischer Mittel naturgemäß nicht der Erhebung oder Dokumentation der Befunde, welche zur sozialmedizinischen Beurteilung unabdingbar sind. Die genaue Feststellung der Bewegungsmaße der betroffenen Gliedmaßen in den jeweils einschlägigen Bewegungsformen ist von behandelnden Orthopäden nicht zu erwarten. Noch weniger kann von ihnen eine Objektivierung der vorgetragenen Beschwerden verlangt werden, welche hingegen Kernbestandteil jeder zwecks sozialmedizinischer Bewertung durchgeführten ambulanten fachorthopädischen Untersuchung seitens eines mit dem Probanden nicht durch ein Patientenverhältnis verbandelten Gutachters ist.

5. Ferner sind bei lebensnaher Betrachtung im Zuge der Auswertung der Angaben behandelnder Ärzte Zweifel geboten, ob und ggfs. inwiefern die Belastbarkeit ihrer Befundberichte, Diagnosen und sozialmedizinischen Einschätzungen unter legitimen Eigeninteressen sowie Ansprüchen ihrer Patienten leidet. Eine über vernünftige Zweifel regelmäßig erhabene Richtigkeit jeglicher Angaben seitens behandelnder Ärzte kann hingegen nicht für jeden Einzelfall unterstellt werden. Vielmehr ist bei deren Auswertung dem Umstand Rechnung zu tragen, dass medizinische Behandler bei der Dokumentation ihrer Untersuchungen und Therapien sowie bei der Auskunft-Erteilung gegenüber Behörden und Gerichten einen wahren Drahtseilakt meistern müssen.

6. Den zu veranlassenden Begutachtungen selbst muss zur Ausschöpfung der Erkenntnismöglichkeiten bzw. Abrundung der Aktenlage in der Regel eine Beiziehung medizinischer Auskünfte seitens der vom Antragsteller zur Untersuchung und Behandlung seiner Gesundheitsstörungen in Anspruch genommenen Mediziner vorausgehen.

7. Die Einholung von zumindest drei Sachverständigengutachten ist nach Art und Umfang insgesamt als erheblich im Sinne des § 131 Abs. 5 SGG anzusehen.

8. Da nach dem Wortlaut des § 131 Abs. 5 SGG die Belange der Beteiligten „auch“ besonders zu berücksichtigen sind, sind – im Umkehrschluss – bei der Bewertung der Sachdienlichkeit – neben diesen – auch sämtliche sonstigen öffentlichen Belange in die Abwägung einzustellen.

9. Die mit der Zurückweisung intendierte Entlastung des Gerichts ist mit den Interessen eines Klägers unter Umständen auch dann vereinbar, wenn die Behörde zur sachgerechten Prozessvertretung umfangreiche medizinische Unterlagen genauso durchzuarbeiten hätte, wenn das Sozialgericht die Sache selbst spruchreif machen würde (Fortführung BSG, Urteil vom 12. September 2018 – B 14 AS 4/18 R –, Rn. 15, m.w.N.). Wenn ein Rechtsstreit nur mittels Einholung von Sachverständigengutachten auf drei oder mehr medizinischen Sachgebieten spruchreif gemacht werden kann, müssen die Ermittlungen seitens eines personell und sachlich hinreichend ausgestatteten Ärztlichen Dienstes der für die sozialmedizinischen Ermittlungen zuständigen Behörde ausgeführt werden, weil Sozialgerichte die Sachverhaltsaufklärung in aller Regel allein mithilfe externer Gutachter nicht in der gebotenen Geschwindigkeit zu bewerkstelligen vermögen, da mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bis zur erstinstanzlichen Entscheidung mehr als ein Jahr seit der Erhebung einiger der sodann zugrunde zu legenden Befunde auf zumindest einem der drei medizinischen Fachgebiete vergangen sein würde und insofern – gemessen an der vom BSG insofern angenommen Jahresgrenze (vgl. BSG, Urteil vom 27. Januar 1987 – 9a RVs 53/85 –, Rn. 10, juris) – mit den Amtsermittlungen wieder und wieder von vorne anzufangen wäre.

10. Jedenfalls im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Sozialgerichts Karlsruhe sind in allen Streitigkeiten des Schwerbehindertenrechts, in denen im Einzelfall nach Art und Umfang noch als erheblich anzusehende sozialmedizinische Ermittlungen über Art und Ausmaß behinderungsbedingter Teilhabeeinschränkungen nötig sind, bevor in der Sache entschieden werden kann, bis zur Beseitigung des langjährigen, diskriminierenden und rechtsstaatswidrigen Ermittlungsdefizits der Landesversorgungsverwaltung die Eignung, die Erforderlichkeit und die Sachdienlichkeit der Zurückverweisung an den Beklagten im Sinne des § 131 Abs. 5 SGG zu bejahen, weil die Zurückverweisung dem öffentlichen Interesse an einer verfassungsmäßigen Verwaltung, dem Interesse beider Beteiligten an der Beschleunigung des Verfahrens und dem pekuniären Interesse des Beklagten an einem möglichst niedrigen Kostenaufwand dienen.

11. In Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts unterlässt die zuständige (Landes-) Versorgungsverwaltung des Bundeslandes Baden-Württemberg seit Jahren – wenn nicht Jahrzehnten – in abertausenden, gleichartigen Fällen systematisch zwingend bundesgesetzlich gebotene Beweiserhebungen und unterschreitet zu Lasten aller Menschen mit (schweren) Behinderungen bewusst ihr Auswahlermessen bezüglich der Mittel der sozialmedizinischen Aufklärung aus unsinnigen Kostenerwägungen.

12. Die vom Gericht beigezogenen und ausgewerteten Statistiken und Beweismittel belegen die außerordentliche Schwere und Dauer, mit welcher sich das Bundesland ohne Rücksicht auf die Besonderheiten jedes Einzelfalls seiner Aufklärungspflicht aus §§ 20, 21 SGB X zum Trotz der hierfür erforderlichen personellen und sachlichen Ausstattung entledigt und sich der Sozialgerichtsbarkeit unter missbräuchlicher Ausnutzung der sozialgerichtlichen Amtsermittlungspflicht als einer ihr vermeintlich irgendwie nachgelagerten Außenstelle für sozialmedizinische Amtsermittlungen bedient.

13. Weder eine seit Jahren strukturell unzureichende Ausstattung einer Behörde (hinsichtlich Personal, Arbeitsmitteln und Räumlichkeiten) noch die hierdurch bedingten regelmäßig unangemessenen Bearbeitungszeiten noch eine bei der Wahl der Mittel der Amtsermittlung damit verursachte systematische Unterschreitung des Auswahlermessens auf die Einholung sozialmedizinischer Gutachten allein nach Lage der Akten bzw. ohne eigene ambulante Untersuchungen stehen der Sachdienlichkeit einer Zurückverweisung nach § 131 Abs. 5 SGG entgegen, weil einer rechtswidrigen Verwaltungspraxis keine normative Kraft zukommt, da die Verwaltung wegen des Rechtsstaatsprinzpips aus Art. 20 Abs. 3 GG an das Gesetz gebunden ist und nicht umgekehrt.

14. Da sich eine Behörde im Falle einer gerichtlichen Zurückverweisung zur Neuentscheidung gemäß § 131 Abs. 5 SGG für die Durchführung des weiteren Verwaltungsverfahrens nach der gesetzgeberischen Wertung aus § 88 Abs. 1 SGG regelmäßig höchstens sechs Monate Zeit lassen darf, hat sie ihren Ärztlichen Dienst in sachlicher und persönlicher Hinsicht so auszustatten, dass die Notwendigkeit einer oder mehrerer ambulanter Begutachtungen regelmäßig keine Überschreitung der Sechs-Monats-Frist bedingt.

15. Tragen ausgerechnet staatliche Instanzen der Bindung aller Rechtsunterworfenen an die Gesetze und ihre verbindliche Interpretation durch die hierzu berufenen Gerichte nicht Rechnung, wird die Axt an die Wurzel des Rechtstaates gelegt. Auch dauerhafte strukturelle Defizite bei der Umsetzung gesetzlicher Regelungen sind rechtsstaatlich nicht hinnehmbar. In Baden-Württemberg müssen die zuständigen Behörden der (Landes-)Versorgungsverwaltung die ihnen originär zugewiesenen Verwaltungsaufgaben der Tatsachenfeststellung und -würdigung selbst erfüllen, anstatt sie kompetenzordnungswidrig zu vernachlässigen und systematisch auf die Sozialgerichtsbarkeit abzuwälzen. Es ist nicht deren Aufgabe, über Jahre hinweg, in uferlosem Ausmaß Behördenermittlungen nachzuholen. In einem Rechtsstaat darf nicht in Kauf genommen werden, dass regelmäßig (aufgrund eines gravierenden, systematischen Ermittlungsdefizits folgefehlerhaft auch) materiell-rechtlich rechtswidrige Einzelfallentscheidungen in hoher Anzahl rechtlich bindend werden. In einem Rechtsstaat darf auch die materielle Richtigkeit gerichtlicher Entscheidungen nicht darunter leiden, dass im Zuständigkeitsbereich einer systematisch untätigen Behörde zwei vorherige Tatsacheninstanzen (nämlich: Ausgangs- und Widerspruchsbehörde) keine ernstliche Prüfung der Sach- und Rechtslage vornehmen und von den (einschließlich der Berufungsinstanz) gesetzgeberisch intendierten vier Tatsachen-Instanzen letztlich nur die Hälfte ernstliche Anstrengungen unternimmt, um die tatsächlichen Verhältnisse zu ermitteln, welche für die rechtliche Beurteilung ausschlaggebend sind.

16. Unter dem Gesichtspunkt des Gleichberechtigungsgebots aus Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes darf nicht hingenommen werden, dass die förmliche Anerkennung des zutreffenden Grades der Behinderung bzw. gesundheitlicher Merkzeichen ganz wesentlich von Umständen solcher Art und solchen Gewichts abhängen, die keine Benachteiligung rechtfertigen. Zur Durchsetzung der subjektiven Ansprüche auf Feststellung des GdB bzw. von Merkzeichen ist in Baden-Württemberg bislang in zahlreichen Fällen die Beschreitung des Sozialrechtsweges nötig. Die ggfs. behinderungsbedingt fehlende Fähigkeit bzw. Bereitschaft (schwer) behinderter Menschen, die mit dem (Sozial-)Rechtsweg verbundenen nervlichen, zeitlichen und finanziellen Aufwendungen, Verzögerungen und Risiken in Kauf zu nehmen, rechtfertigt die Vorenthaltung ihrer diesbezüglichen Rechte nicht.

17. Eine systematische Zurückweisung in Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts dient dem Grundsatz der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit der Verwendung öffentlicher Mittel aus § 7 Abs. 1 LHO BW. Das Land Baden-Württemberg belastet durch sein systematisches Ermittlungsdefizit in Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts in haushaltspolitisch unwirtschaftlicher Weise die Landeskasse. Es richtet seine Ärztlichen Dienste personell und sachlich nicht so ein, dass diese ausreichende sozialmedizinische Expertise aus ei(ge)ner Hand kosteneffizient bereithalten und bedient sich stattdessen der Sozialgerichtsbarkeit als ungleich teurerer „Außenstelle für sozialmedizinische Begutachtungen“ unter Heranziehung privater Sachverständiger.
Der Bescheid des Beklagten vom 09.08.2018 in der Gestalt des Wider-spruchsbescheids vom 11.02.2019 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung über den Erstfeststellungsantrag vom 05.06.2018 für die Zeit ab dessen Eingang beim Beklagten am 06.06.2018 an den Beklagten zurückverwiesen. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Höherbewertung des Grades der Behinderung (GdB) im Sinne des Neunten Buches Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe be-hinderter Menschen (SGB IX).

Die am XXXXXXXXXX 1969 geborenen Klägerin beantragte am 06.06.2018 erst-mals beim Beklagten die Feststellung des Vorliegens einer Behinderung sowie des GdB, gab an, seit mehr als sechs Monaten unter Funktionsbeeinträchtigungen zu leiden, die aus folgenden körperlichen, geistigen und seelischen Gesundheitsstö-rungen resultieren: - rezidivierende Depressionen; - Endometriose im fortgeschrittenen Stadium nach dreimaliger Operation; - Kiefergelenkarthrose; - rezidivierende Harnwegseinfekte inklusive Niereninkontinenz, Blasenentzün-dungen und Restharnproblematik; - Rückenbeschwerden bei Skoliose und Halswirbelknick; - Tinnitus nach drei Hörstürzen. Um ihren Angaben mehr Substanz zu verleihen, legte die Klägerin diverse Berichte über die bereits erfolgten Untersuchungen und Therapien vor, benannte die von ihr aufgesuchten Mediziner und entband sie von ihrer Schweigepflicht. Der Beklagte zog weitere medizinische Behandlungsunterlagen bei und ließ ihren Ärztlichen Dienst zum Sachverhalt gutachterlich Stellung nehmen, ohne eine eigene ambulan-te Untersuchung der Klägerin zu veranlassen. Ohne jegliche Bezugnahme auf die VersMedV oder die VMG oder irgendwelche Ausführungen zur Bildung des Gesamt-GdB meinte der Ärztliche Dienst, es sei seit 06.06.2018 ein Gesamt-GdB von 40 aufgrund folgender Funktionsbeeinträchtigungen nachgewiesen:

"GdB" Funktionsstörung(en) 30 Seelische Störung Depressive Verstimmung Psychovegetatives Erschöpfungssyndrom 20 Endometriose Verlust der Gebärmutter Verlust der Eierstöcke Verwachsungsbeschwerden nach Bauchoperation ( 10 Kiefergelenksarthrose ( 10 Chronische Harnwegsentzündung ( 10 Entleerungsstörung der Harnblase ( 10 Tinnitus

Daraufhin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 09.08.2018 das Vorliegen eines GdB von 40 seit 06.06.2018 fest.

Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin am 04.09.2018 Widerspruch, den sie in geordneter, geraffter und zugleich detaillierter Form und unter Vorlage ergänzender medizinischer Unterlagen begründete, indem sie ihr Vorbringen zu Art, Umfang der sie belastenden Gesundheitsstörungen auf insgesamt neun maschinengeschriebe-nen Seiten vertiefte und jeweils sowohl die bisherigen Therapieversuche als auch die verbliebenen Funktionsstörungen unter Benennung der in Anspruch genomme-nen Ärzte schilderte und erläuterte, welche Beschwerden und Krankheiten im Be-scheid gar keine Berücksichtigung fanden. Ergänzend listete die Klägerin ihre insge-samt acht stationären Behandlungen seit 2017 sowie die im selben Jahr erfolgte stationäre Rehabilitationsmaßnahme unter Benennung der jeweiligen Kliniken und des Aufnahmegrundes auf, gab an, bei welchen neun (Haus- und Fach-) Ärzten sie sich aktuell in Behandlung befinde, legte übersichtlich die Dosen der von ihr zurzeit eingenommenen sechs Medikamente und Ergänzungsmittel dar, und beschrieb an-schaulich die Einschränkungen, welche ihre Gesundheitsstörungen ihr jeweils alltäg-lich in den verschiedenen Lebensbereichen verursachen.

Der Beklagte zog daraufhin eine einseitige Auskunft des die Klägerin behandelnden Facharzt für Allgemeinmedizin bei und ließ diesen aktuelle Behandlungsberichte Dritter vorlegen. Ohne die Klägerin ambulant sozialmedizinisch zu untersuchen, hielt anschließend der Ärztliche Dienst des Beklagten in einer gutachterlichen Stellung-nahme nach Aktenlage die ärztlich hergestellten Zusammenhänge für schwer nach-vollziehbar und bezweifelte die Richtigkeit der berichteten Diagnosen, weil insofern keine apparative Objektivierung mittels CT, MRT und Endoskopie stattgefunden ha-be. Im Anschluss an einen elfzeiligen Freitext ohne Bezugnahme auf die VersMedV oder die VMG oder Ausführungen zur Bildung des Gesamt-GdB meinte der Ärztliche Dienst, ein Gesamt-GdB von 40 sei aufgrund folgender Funktionsbeeinträchtigun-gen nachgewiesen:

"GdB" Funktionsstörung(en) 30 Seelische Störung Depressive Verstimmung Psychovegetatives Erschöpfungssyndrom Funktionelle Organbeschwerden 20 Endometriose Verlust der Gebärmutter Verlust der Eierstöcke Verwachsungsbeschwerden nach Bauchoperation 10 Muskuläre Verspannungen Bandscheibenschaden Wirbelsäulenverformung ( 10 Schilddrüsenerkrankung Nicht nachgewie-sen Funktionsstörung der Bauspeicheldrüse Nicht nachgewie-sen Diabetes Mellitus

Daraufhin wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 11.02.2019 zurück.

Deswegen hat die Klägerin am 08.03.2019 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erho-ben, eine Schweigepflichtentbindungserklärung abgegeben und ihr Vorbringen zu Art und Ausmaß ihrer krankheitsbedingten Teilhabebeeinträchtigungen wiederholt und vertieft.

Die Kammer hat untersucht, inwieweit sich die sozialmedizinischen Ermittlungsprak-tiken des Beklagten und des Sozialgerichts Karlsruhe in Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts voneinander systematisch unterscheiden und wie sich die Unterschiede auf den Verlauf sowie das Ergebnis diesbezüglicher Verfahren ein-schließlich der Belastung der Staatskasse auswirken. Sie hat hierzu zunächst ein Schreibens des Abteilungspräsidenten des Beklagten an den Vizepräsidenten des Landessozialgerichts vom 27.10.2017 beigezogen, wo-nach mit den sozialmedizinischen Auswertungen der in Gerichtsverfahren gesam-melten medizinischen Erkenntnissen "von der Sozialgerichtsbarkeit seit Jahren zu Recht beanstandeten verlängerten Bearbeitungszeiten" verbunden sind, weil der Ärztliche Dienst der Rechtsbehelfsstelle des Beklagten – der sämtliche Wider-spruchs-, Klage- und Berufungsverfahren des gesamten Bundeslandes mit 35 Ver-sorgungsämtern, 8 Sozialgerichten und einem Landessozialgericht sozialmedizi-nisch begleitet – mit lediglich vier ärztlichen Vollzeitkräften besetzt war. Die Kammer hat ferner aus dem Parallelverfahren S 2 SB 2114/16 einen Schriftsatz des Beklag-ten vom 16.02.2017 beigezogen, in dem dieser mitteilt, er könne keine Amtsermitt-lung leisten, welche über die im Bereich des Schwerbehindertenrechts seinerseits übliche Einholung ärztlicher Unterlagen von Seiten behandelnder Ärzte hinausginge.

Die Kammer hat zudem unter Auswertung der beim Sozialgericht Karlsruhe vorhan-denen Daten festgestellt, dass der Beklagte infolge der gerichtlichen Sachver-haltsaufklärung in den 4.333 zwischen 2014 und 2018 allein am Sozialgericht Karls-ruhe abgeschlossenen Verfahren 1.973 (das heißt: 46 %) zumindest teilweise verlo-ren hat – weil er in 181 Fällen verurteilt wurde, in 838 Fällen die Klageforderung an-erkannt hat und in 305 bzw. 641 Fällen einen gerichtlichen oder außergerichtlichen Vergleich abgeschlossen hat –, während die rechtsuchenden Bürger in 1.414 Ver-fahren (33 %) von einer weiteren Rechtsverfolgung abgesehen (und hierdurch die Sozialgerichtsbarkeit massiv entlastet) haben und es 852 (20 %) klageabweisender Entscheidungen des Gerichts bedurfte. Im Vergleich hierzu unterlagen in allen sons-tigen zwischen 2014 und 2018 vor dem Sozialgericht Karlsruhe insgesamt 16.005 abgeschlossenen Verfahren die jeweils beklagten Behörden in 4.739 Fällen (30%) zumindest teilweise – d.h.: im Wege der Verurteilung in 938 Fällen; im Wege des angenommenen Anerkenntnisses in 1.284 Fällen; im Wege des gerichtlichen oder außergerichtlichen Vergleichs in 1.522 bzw. 991 Fällen), während die rechtsuchen-den Bürger 5545 Rechtsbehelfe zurücknahmen (35 %) und 4436 mal (28 %) für sie vollumfänglich ungünstige Gerichtsentscheidungen hinnehmen mussten.

Ferner stellte die Kammer unter Auswertung der beim Sozialgericht Karlsruhe vor-handenen Daten fest, dass der Staatskasse am Sozialgericht Karlsruhe allein in An-gelegenheiten des Schwerbehindertenrechts

- im Kalenderjahr 2017 (bei durchschnittlichen "Stückkosten" von 707 EUR und 814 Verfahren) insgesamt Personal- und Sachkosten in Höhe von 575.775 EUR; - in den 2017 insgesamt 814 abgeschlossenen Verfahren weitere Gerichtskos-ten in Höhe von durchschnittlich 651 EUR allein für die Einholung externer Sach-verständigengutachten in einer Gesamthöhe von 522.173 EUR (was 37 % der gerichtsweit – d.h.: für alle sozialgerichtlich beauftragten Gutachter in Höhe von 1.425.911 EUR – aufgewandten Gutachterkosten entspricht); - in den 2018 insgesamt 783 abgeschlossenen Verfahren weitere Gerichtskos-ten in Höhe von durchschnittlich 790 EUR für die Einholung externer Sachver-ständigengutachten in Höhe von 618.202 EUR (was einem Zuwachs von 21 % binnen eines Jahres entspricht);

Der anschließenden gerichtlichen Aufforderung vom 01.07.2019, mitzuteilen, über wie viele (Erst- oder Neufeststellungs-) Anträge er in Angelegenheiten des Schwer-behindertenrechts (zum GdB oder zu Nachteilsausgleichen/Merkzeichen) durch sei-ne Versorgungsämter in den Jahren 2014 bis 2018 jeweils entschieden hat, konnte der Beklagte bis zur Entscheidung nicht nachgekommen. Auf die gleichzeitige Frage konnte der Beklagte dem Gericht auch kein Versorgungsamt (im örtlichen Zustän-digkeitsbereich des Sozialgerichts Karlsruhe) rechtzeitig benennen, welches von 2014 bis 2018 mindestens eine ambulante Untersuchung und Begutachtungen vor Erlass einer Entscheidung in Angelegenheiten des Schwer-behindertenrechts ver-anlasst hätte, ohne hierzu zuvor gemäß § 131 Abs. 5 SGG verurteilt worden zu sein.

Die Kammer hat zudem untersucht, inwieweit sich die in Angelegenheiten des Schwerbehinderten streitentscheidenden Fragen nach Art und Ausmaße krank-heitsbedingter Teilhabeeinschränkungen allein auf der Grundlage von Auskünften seitens den Rechtssuchenden behandelnder Ärzte und Therapeuten nach Aktenla-ge sozialmedizinischen bewerten lässt, ohne eine ambulante Untersuchung zu sozi-almedizinischen Zwecken zu veranlassen. Sie hat hierzu aus zwei Parallelverfahren des Beklagten (S 12 SB 2062/18 bzw. S 12 SB 10/18) zwei Sachverständigengut-achten beigezogen.

Der Facharzt für Orthopädie, Unfallchirurgie, Sportmedizin und Sozialmedizin Dr. P. hatte in seinem Sachverständigengutachten vom 04.01.2019 die Frage, ob unter alleiniger Berücksichtigung der im Verwaltungsverfahren beigezogenen medizini-schen Unterlagen der Gesamt-GdB des dortigen Klägers abschließend zu beurteilen war und der Beklagte erkennbar notwendige medizinische Ermittlungen unterlassen habe, verneint und wörtlich ausgeführt:

"Bei naturgemäß bei ambulant konsultierten Ärzte jeweils auf die Hauptbeschwer-desymptomatik bzw. ein Gelenk oder einen Abschnitt der Wirbelsäule beschränkter Untersuchung und dementsprechend im Hinblick auf den gesamten Bewegungsap-parat unvollständigen Befunden kann nur durch eine gutachterliche Untersuchung das Ausmaß der insgesamt vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen erfasst und einer Bewertung im Sinne hieraus resultierender Einzel-GdB s sowie des Gesamt-GdB zugänglich gemacht werden."

Der Facharzt für Neurologie Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin Dr. W. hatte in seinem Sachverständigengutachten vom 18.04.2019 auf die Frage 10, ob und ggfs. inwiefern sich – losgelöst vom vorliegenden Einzelfall – auf nervenärztli-chem (bzw. neurologisch-psychiatrischen) Fachgebiet die ambulanten Untersu-chungsziele und -methoden therapeutisch tätiger Ärzte von denen sozialmedizinisch tätiger Gutachter unterscheiden, wörtlich ausgeführt:

"Losgelöst vom vorliegenden Einzelfall ist zur vorgenannten Frage 10 zunächst zu sagen, dass das spezielle Fachgebiet für die weiteren Ausführungen keine Rolle spielt.

Die ambulanten Untersuchungsziele und -methoden therapeutisch tätiger Ärzte un-terscheiden sich wesentlich von denen der sozialmedizinischen Gutachter.

Unterschiede bestanden schon von jeher, sie haben sich jedoch in den letzten Jah-ren/im letzten Jahrzehnt dramatisch akzentuiert. Ich selbst habe dies im Rahmen meiner jahrzehntelangen Tätigkeit als niedergelassener Nervenarzt bis 2008 erlebt und erlebe es seither weiterhin als ausschließlich gutachterlich tätiger Neurolo-ge/Psychiater und Psychotherapeut.

Ein wesentlicher Unterschied liegt darin begründet, dass sich ambulant tätige Ärzte in einer klassischen Rolle einer "Patientenvertretung" befinden, der gutachterlich tä-tige Arzt aber ohne diese Patientenvertretung arbeiten muss (und arbeiten kann). Eine Patientenvertretung bezieht sich nicht nur auf die Diagnostik, Beratung und Behandlung krankheitswertiger Symptome im Dienste der Gesundheit des Patien-ten, sondern deren Verständnis schließt oftmals auch eine umfassendere, die psy-chosoziale Situation des Patienten fokussierende Haltung mit ein.

Diese klassische Rolle der Patientenvertretung der ambulant tätigen Arzte wird zu-sätzlich durch wirtschaftliche, finanzielle Gesichtspunkte einer Praxisführung über-lagert und kann auch das Arzt-Patientenverhältnis tangieren.

D.h. der ambulant tätige Arzt ist normalerweise daran interessiert, einen Patienten an die eigene Praxis zu binden.

Dabei kann es zu Konflikten kommen, wenn zum Beispiel ein behandelnder Arzt Wünschen eines Patienten nachkommt, die er aus seiner Sicht medizinisch und/oder sozialmedizinisch nicht unbedingt vertreten könnte; statt den Patienten zu konfrontieren und in der Folge ggf. zu frustrieren, stellt er objektivierbare Aspekte hintan, um den Patienten nicht zu verlieren.

So werden zum Beispiel sehr häufig die Schweregrade von Patientendiagnosen ausgeweitet, wenn sie zur Erlangung von Behinderungsgraden (GdB) oder Ren-tenwünschen des Patienten dienen sollen. In der gutachterlichen Tätigkeit spielt das Motiv der Patientenvertretung keine Rolle, auch allein deshalb, weil es sich in der Regel um eine einmalige Begegnung handelt.

Aber nicht nur bei niedergelassenen Ärzten sind die Arzt-Patienten-Bindung und wirtschaftliche Gesichtspunkte von Bedeutung, sondern auch in Ambulanzen von Kliniken, entsprechend haben diese in den letzten Jahren zu Entwicklungen geführt, die nicht zuletzt finanziellen Aspekten geschuldet sind.

Dabei handelt es sich ebenfalls um Diagnosenüberhöhung und Diagnosen- auswei-tung durch ambulant tätige Ärzte in Kliniken zur Dokumentation der Notwendigkeit einer Behandlung, letztlich als Notwendigkeitsbeweis vor den Geldgebern (zum Beispiel den Krankenkassen).

Es werden schwerere psychische Diagnosen gestellt als real vorhanden, um Pati-enten bezüglich eines sozialmedizinischen Antrages, der Beantragung einer be-sonderen Behandlungsmethode oder eines Gerichtsstreites zu unterstützen.

In den Kliniken wird nach Feststellung einer schwergradigen psychischen Erkran-kung den stationär behandelten Patienten dann häufig gleich mitgeteilt, dass man sie gerne, bei einem Rückfall, wieder aufnehmen würde.

Hierin spiegeln sich nicht nur Erkenntnisse, z.B. seitens des psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachgebiets, zur Optimierung von Behandlungskonzepten persönlichkeits-strukturell schwerer gestörter Patienten i. R. der sog. Intervallthera-pie wieder, sondern auch andere Interessen.

Unvergessen ist hier die mündlich übermittelte Aussage eines Chefarztes einer pri-vaten Reha-Klinik in der Morgenbesprechung, in der er sagte: »Keiner der Patien-ten verlässt hier das Haus ohne die Diagnose einer schweren Depression«,

Bei meinen Begutachtungen stelle ich immer wieder fest, dass es inzwischen nahe-zu die Regel ist, dass die Schweregrade von Diagnosen durch Klinikärzte überhöht werden. Ärzte in Kliniken bzw. Ambulanzen von Kliniken stehen unter dem Druck von Vorgesetzten und diese unter den Vorgaben des Verwaltungsdirektors.

Ebenfalls muss ich bei meiner Tätigkeit als Gutachter feststellen, dass mit großer Häufigkeit Konflikte und Probleme am Arbeitsplatz medikalisiert werden und zu Krankmeldungen führen, die dann vom Hausarzt oder Psychiater fortgeführt und letztlich über die Krankenkasse bzw. die Solidargemeinschaft ausgetragen werden und so zu enorm hohen Kosten im Gesundheitswesen beitragen.

Die Krankmeldungen erfolgen bis zum Ablauf der gesetzlichen Frist, eineinhalb Jahre lang, dann kommt es zu Begutachtungen für die Deutsche Rentenversiche-rung bzw. Klagen vor Gericht zur Frage einer Rente wegen verminderter Erwerbs-fähigkeit

Eigenständige krankheitswertige Depressionen lassen sich meist nicht feststellen, sondern Probleme mit Bezug auf das Berufsleben, die keine Berentung begründen können.

In früheren Jahren erfolgte auf dem nervenärztlichen Fachgebiet die Ausweitung der Gebühren, die zur Abrechnung den Krankenkassen vorgelegt wurden, weniger durch Diagnoseüberhöhung, sondern durch unnötige Anwendung von apparativen Leistungen (beim Psychiater Z.B.: EEG, Doppler, EMG, NLG, VEP), bis schließlich von den Ärztevertretern eine Pauschalgebühr für alle Leistungen der Nervenärzte pro Quartal eingeführt wurde.

Kliniken weiten ihr Behandlungsspektrum aus, um z.B. die Notwendigkeit von Per-sonal (Anstellung von Ärzten) zu begründen.

Es wurden inzwischen nicht nur psychiatrische und psychosomatische Tagesklini-ken, sondern auch Abendkliniken zur Behandlung eingerichtet.

Dabei wird auch in diesem Bereich in häufigen Fällen den Wünschen von Patienten nachgegeben und nicht der medizinisch notwendigen Indikation gefolgt.

Diese beschriebenen Ausweitungen betreffen aber nicht nur die ambulant tätigen Ärzte, sondern auch die Gremien, die für die Behandlungsleitlinien zuständig sind.

Auch hier hat es eine Ausweitung von Diagnosen und Behandlungskriterien gege-ben.

Eindringliches Beispiel hierfür ist die Trauerreaktion nach dem Tod eines Men-schen, die im international renommierten Diagnosemanual DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Psychiatric disorders) noch im Jahr 1980 für ein Jahr als nor-mal und nicht krank galt (DSM III).

Diese Zeit hat sich immer weiter reduziert. Im Jahre 2000 waren es im revidierten DSM IV noch zwei Monate, jetzt gilt es schon laut dieser diagnostischen Manuale in ihrer revidierten Form 2014 (DSM V), als krank und behandlungsbedürftig, wenn jemand länger als 14 Tage nach dem Tod eines Menschen trauert.

In Ballungszentren besteht mit Sicherheit kein Mangel mehr an Psychotherapeu-ten/innen, sondern eher ein Mangel an für die Richtlinienverfahren überhaupt ge-eigneten Patienten, sodass auch Psychotherapeuten dazu neigen, von ihren Grundsätzen abzuweichen und normale psychische Phänomene "zu behandeln" oder behandlungsbedürftige Patienten in Behandlung zu nehmen, für die im Grunde eine supportive Führung, beratende oder Selbsthilfemaßnahmen oder frequentere psychiatrische Therapie (welche seit Jahren in Deutschland schlecht honoriert wird) optimal wäre.

Dieser relative Mangel an Patienten bzw. die Zunahme fallbezogener Abrech-nungspauschalen hat auch zu sogenannten interdisziplinären "Ringüberweisungen" innerhalb der Kollegenschaft geführt.

Gutachter sollten unabhängig sein (sein können), aber auch sie unterliegen der Ge-fahr, in ihren Beurteilungen den Wünschen von Auftraggebern zu entsprechen, um weitere Aufträge zu erhalten. Dies trifft vor allem im Bereich der privaten Versiche-rungen bei Fragen zur Arbeitsfähigkeit und Berufsunfähigkeit zu.

Nach den eigenen, jahrzehntelangen Erfahrungen im psychiatrischen Bereich ist nach einer eigenen, nicht wissenschaftlichen, Befragung von Kollegen davon aus-zugeben, dass nur 60-70 % des Patientenklientels eines niedergelassenen Psy-chiaters tatsächlich krank sind und einer Behandlung über die Solidargemeinschaft bedürfen.

Bei Psychotherapeuten liegt der Prozentsatz von nicht krankheitswertig "behandel-ten" bei Patienten schätzungsweise bei ca. 10-20 %.

So kommt es zu einer exorbitanten Ausweitung der Gesundheitskosten für die Kos-tenträger, wobei die immer höheren Medikamentenkosten auch einen nicht gerin-gen Anteil haben. Es werden immer neuere, v. a. teurere Medikamente auf den Markt gebracht, wobei die Notwendigkeit dieser Neuerungen unter Abwägung des Zusatznutzens zumindest fraglich ist.

Häufig werden Diagnosen und Leistungseinschätzungen bzw. Funktionsstörungen mit dem Ergebnis laut Testbogenuntersuchungen, insbesondere sogenannte Be-schwerdelisten, Aufmerksamkeits- und Fragebogentestungen begründet.

Diese testpsychologischen Untersuchungen wurden ursprünglich in der klinischen Forschung für Patienten, die Symptome haben, entwickelt. Sie wurden zur Ver-laufsbeobachtung und Verlaufskontrollen, also im Rahmen einer longitudinalen Be-trachtung einzelner Patienten in der klinischen Behandlung und Forschung ange-wendet, so zum Beispiel um die Wirkungen von Medikamenten während eines sta-tionären Aufenthaltes zu überprüfen oder den Symptomverlauf eines Patienten über einen längeren Zeitraum hinweg zu objektivieren.

In der Folgezeit wurde versucht, mit derartigen Beschwerdelisten, Aufmerksam-keits- und Fragebogentestungen auch Diagnosen und Beurteilungen in Gutachten quasi objektiv zu begründen.

Diese Objektivität kann jedoch in Gutachten mit solchen Instrumenten nicht erreicht werden.

Die Untersuchungsergebnisse hängen stark von den gewünschten Zielen der zu begutachtenden Probanden ab und drücken deshalb ein subjektives Ergebnis einer punktuellen, d.h. Querschnittsbeurteilung aus, das eng mit den Klagen der Proban-den und deren innerer Zielsetzung, z, B. dem Erlangen einer Rente, zusammen-hängt und deshalb nur eine Schein-Objektivität widerspiegelt; es liegt also auf der Hand, dass die entsprechenden Messergebnisse im besonderem Maße motivati-onsabhängig sind.

Diese Abhängigkeit von motivationalen, also Einstellungsfaktoren der Patienten be-steht naturgemäß umso mehr, wenn es sich um Testungen auf der Basis von Selbstauskünften seitens der Patienten (oder Kläger) handelt.

Dass diese Ausweitungen auch die diagnostischen und operativen Fächer betref-fen, ist allgemein bekannt, zum Beispiel werden zu viele Kernspintomographien, Herzkatheteruntersuchungen und unnötige Operationen durchgeführt.

Sehr fragwürdig und meines Erachtens ethisch nicht zu verantworten sind die Viel-zahl der sogenannten IGEL-Leistungen.

Zum Glück sind die Patienten inzwischen nicht mehr so "arztgläubig" und hinterfra-gen kritisch diese angebotenen Leistungen.

Ein ausschließlich gutachterlich tätiger Neurologe und Psychiater kann sich bei sei-ner Arbeit unabhängig fühlen, ohne dabei z. B. den Boykott niedergelassener Kol-legen am Wohnort und der Umgebung befürchten zu müssen.

Aus meiner persönlichen Sicht war deshalb die Aufgabe meiner Kassenpraxis vor elf Jahren ein großer Gewinn durch Wechsel meiner Hauptorientierung zugunsten der gutachterlichen Unabhängigkeit.

Für die ambulant niedergelassenen Neurologen, Psychiater und Psychotherapeu-ten wird ihre berufliche Zukunft allerdings aufgrund des inflationären und medienge-triggerten Bedarfs sowie der Ausdehnung und Ausweitung des Krankheitsbegriffes eine ungewisse und ethisch moralisch gefährdete sein.

Die jeweiligen Protagonisten der verschiedenen Ansichten (Ausweitung von Diag-nosen und Therapeuten versus Restriktion) haben sich bereits in Stellung gebracht (z.B. Prof. Manfred Lütz in einem Beitrag für den "Spiegel online" und Dr. Christina Tophoven/Geschäftsführerin der Bundespsychotherapeutenkammer in ihrer Stel-lungnahme - siehe unten Webseiten-Links). Den Antrag des Beklagten auf Verlängerung der ihm per gerichtlicher Verfügung vom 01.07.2019 gesetzten Fristen hat die Kammer mit Beschluss vom 29.07.2019 abgelehnt. Wegen der hierfür wesentlichen Gründe wird auf das Verhandlungspro-tokoll Bezug genommen.

Die Klägerin ist der erklärten seitens des Gerichts mitgeteilten Absicht zur Zurück-verweisung nicht entgegengetreten und hat in der mündlichen Verhandlung bean-tragt,

den Bescheid des Beklagten vom 09.08.2018 in der Gestalt des Wider-spruchsbescheids vom 11.02.2019 aufzuheben und die Sache zur erneu-ten Entscheidung über den Erstfeststellungsantrag vom 05.06.2018 für die Zeit ab dessen Eingang beim Beklagten am 06.06.2018 an den Be-klagten zurückverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat der Kammer am 04.04.2019 seine Verwaltungsakte vorgelegt. In Kenntnis der Ergebnisse der Ermittlungen der Kammer sowie ihrer Absicht zur Zurückverweisung hat er vorgebracht, den Einzelfall betreffende konkrete Ermittlungsdefizite in Verwal-tungsverfahren seien nicht ersichtlich. Die zwingende Notwendigkeit einer ambulan-ten Untersuchung und sozialmedizinischen Begutachtung im Verwaltungsverfahren habe in Anbetracht der beigezogenen medizinischen Unterlagen nicht bestanden. Soweit die Kammer die beabsichtigte Zurückverweisung unter Verweis auf Kosten-statistiken des Sozialgerichts Karlsruhe auf die Vermutung stützen wolle, dass der Beklagte systematisch die im Einzelfall gebotene Einholung von Sachverständigen-gutachten aufgrund ambulanter sozialmedizinischer Untersuchungen unterlasse bzw. auf die Sozialgerichtsbarkeit abwälze, sei dies nicht nachvollziehbar und abwe-gig. Der Vorwurf der systematischen Kostenabwälzung bleibe eine nicht verifizierba-re Behauptung. Die Diskrepanz zwischen dem Umfang seiner Ermittlungen und dem des Sozialgerichts sei der richterlichen Unabhängigkeit geschuldet. Es bliebe zudem völlig unklar, ob und welche einzelnen Kosten auch im Falle einer vorherigen Begut-achtung im Verwaltungsverfahren hätten eingespart werden können. Hinsichtlich der durch die Kammer angeforderten statistischen Daten sei nicht ersichtlich, welche strukturellen Rückschlüsse hieraus gezogen werden sollen. Schließlich sei nicht er-kennbar, welches klägerische Interesse an einer Zurückverweisung im konkreten Rechtsstreit besteht.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes und des Vorbringens wird auf den Inhalt der Verwaltungsakte des Beklagten und den der Prozessakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist als Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 Abs. 1 Sozialge-richtsgesetz (SGG) zulässig und gemäß § 131 Abs. 1 und 5 SGG begründet im Sin-ne der Aufhebung der streitgegenständlichen Bescheide sowie der Zurückverwei-sung der angegriffenen Entscheidung zur erneuten Prüfung an den Beklagten.

Nach § 131 Abs. 5 Satz 1 und 5 SGG kann das Gericht, hält es eine weitere Sach-aufklärung für erforderlich, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwal-tungsakt und den Widerspruchsbescheid innerhalb eines Zeitraums von sechs Mo-naten seit Eingang der Behördenakten aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Be-rücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Das gilt nach § 131 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 1 SGG auch bei Klagen auf Verurteilung zum Erlass eines Verwal-tungsakts der hier vorliegenden Art.

Die Frist für die Zurückverweisung ist zum Zeitpunkt dieser Entscheidung am 29.07.2019 noch nicht abgelaufen, weil seit dem erstmaligen Eingang der Verwal-tungsakte am 04.04.2019 bei Gericht noch keine sechs Monate verstrichen sind.

Die Kammer sieht noch erheblichen Ermittlungsbedarf, bevor über das Klägerbe-gehren entschieden werden kann.

Das materiell-rechtliche Begehren der Klägerin ist auf die Feststellung der Schwer-behinderteneigenschaft bzw. eines höheren GdB von mindestens 50 ab 06.06.2018 gerichtet. Das Ausmaß der durch sie zu ertragenden Teilhabebeeinträchtigungen aufgrund der von ihr substantiiert vorgetragenen Krankheiten und Behinderungen auf gynäkologischem, fachorthopädischem, nervenärztlichem und ggfs. internisti-schem Fachgebiet ist für die Kammer noch nicht mit dem erforderlichen Beweismaß – dem Vollbeweis – feststellbar, ohne das die vorhandenen Beweismittel ausge-schöpft wären.

Rechtsgrundlage für die Feststellung eines GdB ist § 152 Abs. 1 S 1 SGB IX in der seit dem 01.01.2018 anzuwendenden Fassung des Gesetzes zur Stärkung der Teil-habe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung vom 23.12.2016 (Bundesteilhabegesetz - BTHG; BGBl. 2016, S. 3234ff), mit welchem die Vorschrif-ten des SGB IX eine weitreichende redaktionelle Änderung erfahren haben. Nach dieser Vorschrift stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen in einem be-sonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den Gesamt-GdB fest. Als Gesamt-GdB werden dabei nach § 152 Abs. 1 S 5 SGB IX die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festge-stellt, wenn nicht ein niedrigerer Gesamt-GdB als 20 gegeben ist, § 152 Abs. 1 S. 6 SGB IX. Dabei ist das seit jeher im Schwerbehindertenrecht geltende Finalitätsprin-zip zu beachten, das sowohl im Behinderungsbegriff des § 2 Abs. 1 SGB IX als auch in den Prinzipien zur Feststellung des Gesamt-GdB nach § 152 Abs. 1 und Abs. 3 SGB IX festgeschrieben worden ist.

Durch den bis zum 14.01.2015 in der Vorgängervorschrift des § 69 Abs. 1 S 5 SGB IX enthaltenen Verweis auf die im Rahmen des § 30 BVG festgelegten Maßstäbe wurde auf das versorgungsrechtliche Bewertungssystem abgestellt, dessen Aus-gangspunkt die "Mindestvomhundertsätze" für eine größere Zahl erheblicher äuße-rer Körperschäden sind. Von diesen Mindestvomhundertsätzen leiten sich die aus den Erfahrungen der Versorgungsverwaltung und den Erkenntnissen der medizini-schen Wissenschaft gewonnenen Tabellenwerte der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedi-zin-Verordnung) vom 10.12.2008 (VersMedV) ab, wobei die nähere Ausgestaltung in der Anlage zu § 2 der VersMedV, den sogenannten Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG), erfolgt ist. Als Rechtsverordnung binden sie grundsätzlich so-wohl Verwaltung als auch Gerichte. Die VMG sind jedoch, wie jede untergesetzliche Rechtsnorm, auf inhaltliche Verstöße gegen höherrangige Rechtsnormen - insbe-sondere des früheren § 69 SGB IX, dessen Regelugen ab dem 01.01.2018 in § 152 SGB IX überführt wurden - zu überprüfen. Daher sind VersMedV und VMG im Lichte dieser rechtlichen Vorgaben auszulegen und bei Verstößen dagegen nicht anzu-wenden (Urteil des Bundessozialgerichts vom 30.09.2009 - B 9 SB 4/08 R).

Mit der zum 15.01.2015 eingeführten Verordnungsermächtigung des § 70 Abs. 2 SGB IX, die seit dem 01.01.2018 in § 153 Abs. 2 SGB IX geregelt ist, hat der Ge-setzgeber das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechts-verordnung mit Zustimmung des Bundesrates diejenigen Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzun-gen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, welche nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung sind weiterhin die VMG anzuwenden, wie sich aus der ebenfalls zum 15.01.2015 in Kraft getretenen Übergangsvorschrift des §159 Abs. 7 SGB IX, welche zum 01.01.2018 inhaltsgleich in § 241 Abs. 5 SGB IX über-führt wurde, ergibt. Die VersMedV und die dort enthaltenen VMG dienen folglich auch weiterhin als verbindliche Rechtsquelle sowohl für die Bestimmung des GdB als auch für die Feststellung der Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzei-chen.

Gemessen an diesen Beurteilungsmaßstäben ist die von der Klägerin erhobene kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage noch nicht spruchreif. Spruchreif wird sie erst sein, wenn nach Ausschöpfung der Aufklärungsmöglichkeiten entweder festgestellt oder nicht feststellbar sein wird, ob der geltend gemachte Anspruch auf Feststellung eines GdB von mindestens 50 besteht.

Bevor hier über das Ausmaß der Teilhabebeeinträchtigungen der Klägerin im vorlie-genden Einzelfall abschließend entschieden werden kann, besteht aber noch erheb-licher sozialmedizinischer Ermittlungsbedarf in Gestalt der Befragung der sie behan-delnden Ärzte sowie einer anschließenden (d. h. unter Berücksichtigung der Er-kenntnisse der behandelnden Ärzte) sachverständigen ambulanten Untersuchung und Begutachtung auf gynäkologischem, orthopädischem, nervenärztlichen und ggfs. internistischem Fachgebiet durch Ärzte, für welche die Klägerin nicht Patientin, sondern Probandin ist.

Gemäß § 103 Satz 1 SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Das Gericht ist nach § 103 Satz 2 SGG an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden. § 106 Abs. 2 SGG zufolge hat der Vorsitzende Richter am Sozialgericht bereits vor der mündli-chen Verhandlung alle Maßnahmen zu treffen, die notwendig sind, um den Rechts-streit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen. Zu diesem Zweck kann er insbesondere 1. um Mitteilung von Urkunden sowie um Übermittlung elektronischer Doku-mente ersuchen, 2. Krankenpapiere, Aufzeichnungen, Krankengeschichten, Sektions- und Un-tersuchungsbefunde sowie Röntgenbilder beiziehen, 3. Auskünfte jeder Art einholen, 4. Zeugen und Sachverständige in geeigneten Fällen vernehmen oder, auch eidlich, durch den ersuchten Richter vernehmen lassen, 5. die Einnahme des Augenscheins sowie die Begutachtung durch Sachver-ständige anordnen und ausführen, 6. andere beiladen, 7. einen Termin anberaumen, das persönliche Erscheinen der Beteiligten hierzu anordnen und den Sachverhalt mit diesen erörtern (§106 Abs. 3 SGG).

Gemäß § 106 Abs. 4 SGG gelten für die Beweisaufnahme die §§ 116, 118 und 119 SGG entsprechend. Nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG ist auf Antrag des behinderten Menschen ein bestimmter Arzt gutachtlich zu hören. § 116 Satz 1 und 2 SGG zufol-ge werden die Beteiligten von allen Beweisaufnahmeterminen benachrichtigt und können der Beweisaufnahme beiwohnen; sie können an Zeugen und Sachverstän-dige sachdienliche Fragen richten lassen und Fragen beanstanden. Soweit dieses Gesetz nichts Anderes bestimmt, sind auf die Beweisaufnahme die §§ 358 bis 363, 365 bis 378, 380 bis 386, 387 Abs. 1 und 2, §§ 388 bis 390, 392 bis 406 Absatz 1 bis 4, die §§ 407 bis 444, 478 bis 484 ZPO entsprechend anzuwenden (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Unter Berücksichtigung dieser sozialgerichtsverfahrensrechtlichen Vorgaben kön-nen in Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts zur sozialmedizinischem Auf-klärung von Amts wegen je nach Einzelfall sachverständige ambulante Untersu-chungen und Begutachtungen dann zu veranlassen sein, wenn der Antragsteller mithilfe fachärztlicher Atteste einerseits das Vorliegen einer Behinderung hinrei-chend substantiiert hat, andererseits die aktenkundigen Berichte der den Antragstel-ler behandelnden Mediziner für eine abschließende Beurteilung noch nicht zur Beja-hung der für den Vollbeweis erforderlichen Wahrscheinlichkeit ausreichen, etwa wenn tatsächliche Zweifel fortbestehen, weil in den (Untersuchungs-, Behandlungs- bzw. Entlassungs-) Berichten die für die sozialmedizinische Beurteilung maßgebli-chen Befunde entweder gar nicht dokumentiert, nicht hinreichend validiert, un-schlüssig, nicht nachvollziehbar, veraltet oder anderweitig unzureichend sind und auch nicht durch die Beiziehung von medizinischen Unterlagen oder Auskünften behandelnder Ärzte beschafft werden können.

Nach Abschluss der sozialmedizinischen Ermittlungen im hier durchgeführten Ver-waltungs- und Widerspruchsverfahrens sind aufgrund der substantiierten Angaben der Klägerin und der Vorlage bzw. Beiziehung aussagekräftiger Entlassungs- und Befundberichte – einerseits – hinreichend Anhaltspunkte für die Feststellung des geltend gemachten Grades der Behinderung von mindestens 50 gegeben, ohne dass – andererseits – bereits der Vollbeweis des hierfür erforderlichen Gesamt-Ausmaßes aller Teilhabe-Einschränkungen allein durch die aktenkundigen medizini-schen Unterlagen und Auswertungen erbracht wäre.

Im vorliegenden Einzelfall werden vor der abschließenden Entscheidung über den GdB eine gynäkologische, eine fachorthopädisch, eine nervenärztliche und – je nach deren Ermittlungsergebnis – ggfs. auch noch eine internistische Begutachtung der Klägerin einschließlich allein sozialmedizinisch (und nicht therapeutisch) moti-vierter ambulanter Untersuchungen von Amts wegen stattfinden müssen. Im Falle einer gerichtlichen Sachverhaltsaufklärung wäre ggfs. zusätzlich – auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG – noch die Anhörung eines von ihr benannten Arztes und/oder – auf Inanspruchnahme des Fragerechts nach § 116 SGG – die Einholung ergänzender Stellungnahmen der gehörten Ärzte zu veranlassen.

Die tatrichterliche Überzeugungsbildung über den im Fall der Klägerin zutreffenden Gesamt-GdB erfordert die Einholung von drei, wenn nicht vier, Sachverständigen-gutachten, weil die beiden aktenkundigen gutachterlichen Stellungnahmen des Ärzt-lichen Dienstes des Beklagten keine abschließende sozialmedizinische Bewertung erlauben. Sie beruhen nicht auf einer hinreichend aktuellen, vollständigen, fachlich fundierten, von den Zwängen eines Patientenverhältnisses unabhängigen Anamne-se, Befunderhebung, Diagnostizierung und unvoreingenommener Würdigung des bisherigen Therapieverlaufs auf denjenigen medizinischen Fachgebieten, auf denen nachweislich für den Gesamt-GdB erhebliche Funktionsstörungen vorliegen. Die beiden gutachterlichen Stellungnahmen des Ärztlichen Dienstes lassen auch keine nachvollziehbare sozialmedizinische Würdigung erkennen, welche seitens des Ge-richts auf ihre Schlüssigkeit hin überprüfbar wäre.

Weiterer Ermittlungsbedarf besteht zuvörderst im Hinblick auf die sozialmedizinische Bildung des Gesamt-GdB.

Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der Gesamt-GdB gemäß § 152 Abs. 3 S. 1 SGB IX ferner nach den Auswir-kungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Folglich werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von re-gelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen (§ 2 Abs. 1 SGB IX) und die sich daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen bestimmt. In einem zweiten Schritt sind diese mit einem Einzel-GdB zu bewerten und den jeweils unter Teil A Ziff. 2 Buchstabe e) der VMG genannten Funktionssystemen zuzuordnen. Innerhalb der Funktionssysteme sind die jeweiligen Einzel-GdB sodann zu einem Teil-GdB zusammen zu fassen. In einem dritten Schritt ist gemäß Teil A Ziff. 3 der VMG dann in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Teil-GdB in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehun-gen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinanderstehen. Au-ßerdem sind bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu verglei-chen, für die in der GdB-Tabelle feste Grade angegeben sind.

Gemessen hieran kann die Kammer noch keine abschließende Bewertung des Ge-samt-GdB vornehmen. Sie verfügt selbst nicht über hinreichend eigene sozialmedi-zinische Expertise, um die wechselseitigen Auswirkungen der durch den Beklagten wegen der einzelnen Funktionssysteme als Behinderungen anerkannten Teilhabe-beeinträchtigungen der Klägerin zu bewerten. Die Kammer kann sich insofern auf nicht auf eine nachvollziehbare und schlüssige sozialmedizinische Auswertung ei-nes hierzu qualifizierten Arztes stützen.

Insbesondere ist dies nicht möglich aufgrund der beiden im Verwaltungs- bzw. Wi-derspruchsverfahren eingeholten versorgungsärztlichen Stellungnahmen. Beide enthalten zwar die Nennung eines "Gesamt-GdB" sowie eine Auflistung verschiede-ner (Einzel- oder Teil-?) "GdB". Es fehlen jedoch jeweils Ausführungen über die Bil-dung des Gesamt-GdB unter Anwendung der oben zitierten Vorgaben. Beide gut-achterliche Stellungnahmen sagen daher letztlich nichts darüber aus, wie sich alle festgestellten Behinderungen im Zusammenwirken zueinander funktional auswirken. Hierzu hätte es sozialmedizinischer Ausführungen bedurft. Zwar ist die Bewertung des GdB nicht die vordringliche Aufgabe des medizinischen Sachverständigen. Wenn es indessen darum geht, alle Behinderungsmomente in einer Gesamtschau unter Beachtung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander einzuschätzen sind ärztliche Meinungsäußerungen jedoch unerlässlich. Ihnen kommt zwar bei der GdB-Schätzung keine bindende Wirkung zu; sie sind aber eine wichtige und vielfach un-entbehrliche Grundlage (vgl. BSG, Urteil vom 27. Januar 1987 – 9a RVs 53/85 –, Rn. 10, juris), so auch hier.

Überdies steht einer abschließenden Bewertung des Gesamt-GdB vorliegend auch entgegen, dass die Kammer die vom Ärztlichen Dienst des Beklagten zuvor gebilde-ten und später zusammengefassten "GdB" ebenfalls nicht nachvollziehen kann.

Es erschließt sich insofern schon nicht, ob in den beiden gutachterlichen Stellung-nahmen jeweils sog. "Einzel-GdB" für einzelne Funktionsstörungen vergeben wur-den oder sog. "Teil-GdB" für die Zusammenfassungen aller demselben Funktions-system unterfallenden Einzel-GdB. Der Wortlaut ("GdB") und die Systematik der bei-den gutachterlichen Stellungnahmen geben hierüber keinen Aufschluss. Funktions-systeme im Sinne des Teil A Ziff. 2 Buchstabe e) VMG werden in den gutachterli-chen Stellungnahmen gerade nicht genannt. Auch erfolgt die tabellarisch zusam-menfassende Darstellung insofern nicht konsequent: Einerseits werden diejenigen Funktionsstörungen, welche demselben Funktionssystem zuzuordnen sind, zusam-mengefasst. Dies erfolgt hinsichtlich der Systeme "Gehirn einschließlich Psyche", "weiblicher Geschlechtsapparat" und "Rumpf". Andererseits werden gemeinsamen Funktionssystemen zuzuordnende Funktionsstörungen nicht zusammengefasst: Dies betrifft das System "Stoffwechsel, innere Sekretion", dem die separat gelisteten Funktionsstörungen "Diabetes Mellitus" und "Schilddrüsenerkrankung" unterfallen. Gleiches gilt für die beiden Funktionsstörungen im Funktionssystem der "Harnorga-ne": "Chronische Harnwegsentzündung" bzw. "Entleerungsstörung der Harnblase".

Auch ist für die Kammer bei beiden gutachterlichen Stellungnahmen nicht nachvoll-ziehbar, anhand welcher konkreten Beurteilungsmaßstäbe die einzelnen, durch den Ärztlichen Dienst als nachgewiesen angesehenen Funktionsstörungen bewertet wurden. Es fehlt jeweils eine Bezugnahme auf VersMedV bzw. VMG. Ohne nachzu-vollziehen, welche Beurteilungsmaßstäbe Anwendung fanden, vermag die Kammer erst recht nicht nachzuvollziehen, wieso die jeweils gegebenen Beurteilungsspiel-räume in der jeweiligen Weise ausgefüllt worden sind.

So ist bezüglich des Funktionssystems "Gehirn einschließlich Psyche" durch den Ärztlichen Dienst des Beklagten wegen der drei zusammengefassten Funktionsstö-rungen Seelische Störung, Depressive Verstimmung und Psychovegetatives Er-schöpfungssyndrom vermutlich Teil B Ziff. 3.7 VMG zugrunde gelegt worden. Da-nach sind leichtere psychovegetative oder psychische Störungen mit einem Einzel-GdB von 0 bis 20 zu versehen. Stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressi-ve, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswerten, somatoforme Störungen) sind mit einem Einzel-GdB von 30 bis 40 zu bewerten. Für schwere Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheit) mit mittel-gradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten ist ein Einzel-GdB von 50 bis 70 vor-gesehen. Bei schweren Störungen mit schweren sozialen Anpassungsstörungen beträgt der Einzel-GdB 80 bis 100.

Nicht nachvollziehbar ist für die Kammer hier, warum der Ärztliche Dienst meint, die drei genannten Funktionsstörungen entsprächen in ihren wechselseitigen Auswir-kungen einer "stärker behindernden Störung mit wesentlichen Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfreiheit". Beide Gutachter legen weder dar, warum es sich im Zusammenwirken nicht um nur "leichtere" oder sogar um "schwerere" Störungen im Sinne des Teil B Ziff. 3.7 VMG handeln sollte. Ebenso wenig ist ersichtlich, wa-rum im Falle einer "stärker behindernden Störung" der Beurteilungsspielraum zwi-schen 30 und 40 hier nicht voll auszuschöpfen war. Eine nachvollziehbare und schlüssige Bewertung des Ausmaßes der psychisch be-dingten Teilhabebeeinträchtigungen wäre unter Berücksichtigung der aktenkundigen Berichte nach Meinung der Kammer im vorliegenden Einzelfall auch nur aufgrund einer ambulanten nervenärztlichen Untersuchung und Begutachtung zu sozialmedi-zinischen Zwecken möglich gewesen. Ohne eine solche lagen bereits bei Erlass des Widerspruchsbescheides im Februar 2019 keine hinreichend aktuellen, vollständi-gen, und objektivierten Befunde und Bewertungen zu den wesentlichen Teilhabebe-schränkungen der Klägerin im psychischen Bereich vor.

Bezüglich des Funktionssystems der "weiblichen Geschlechtsorgane" enthalten die gutachterlichen Stellungnahmen aus dem Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren ebenfalls keine nachvollziehbaren Ausführungen und die beigezogenen medizini-schen Berichte keine hinreichende sozialmedizinische Beurteilungsgrundlage. Auch insofern muss vor einer gerichtlichen Sachentscheidung eine eigene ambulante Un-tersuchung und Begutachtung der vier durch den Beklagten anerkannten Funktions-störungen Endometriose, Verlust der Gebärmutter, Verlust der Eierstöcke und Ver-wachsungsbeschwerden nach Bauchoperation durch einen Facharzt für Gynäkolo-gie oder einen Arzt mit sozialmedizinischer Weiterbildung erfolgen.

Bislang fehlen insofern die Zuordnung der einzelnen frauenärztlichen Funktionsstö-rungen zu bestimmten Beurteilungs-Vorgaben der VMG, die Ableitung diesbezügli-cher Beurteilungsspielräume, deren Ausfüllung und die Beantwortung der Frage nach den jeweils wechselseitigen Auswirkungen der einzelnen Funktionsstörungen im Rahmen der Bildung des diesbezüglichen Teil-GdB. Es überfordert die sozialme-dizinische Expertise der Kammermitglieder – allesamt medizinische Laien –, diese eigenständig zu bewerkstelligen.

Dabei kann nach Lage der Akten auch nicht offenbleiben, wie hoch der diesbezügli-che Teil-GdB ist. Umgekehrt ist mit erheblicher Wahrscheinlichkeit davon auszuge-hen, dass die Teilhabebeeinträchtigungen auf frauenheilkundlichem Fachgebiet ei-ne Erhöhung des – nach Ansicht des Ärztlichen Dienstes wohl führenden – Teil-GdB von 30 für die Einschränkungen im Bereich der Psyche bedingen, weil der Teil-GdB für die weiblichen Geschlechtsorgane 20 bis 70 betragen dürfte:

Nach Teil B Ziff. 14.5 VMG bedingt alleine die Endometriose leichten Grades mit geringe Ausdehnung, keinen oder nur geringen Beschwerden) einen Einzel-GdB von 0 bis 10; bei Endometriose mittleren Grades ist ein Einzel-GdB von 20 bis 40 vorgesehen. Bei Endometriose schweren Grades (z. B. Übergreifen auf die Nachba-rorgane, starke Beschwerden, erhebliche Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes, Sterilität) beträgt der Einzel-GdB hingegen 50 bis 60. Ob hier eine "leichte", "mittlere" oder "schwere" Endometriose gegeben ist, vermag die Kammer weder aufgrund ei-gener frauenärztlicher Fachkunde festzustellen noch aufgrund einer der insofern zu oberflächlichen gutachterlichen Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes nachzuvoll-ziehen.

Überdies drängt sich die Frage auf, warum die Endometriose – als die laut der Liste des Ärztlichen Dienstes wohl führende Funktionsstörung in diesem Funktionssystem – unter integrierender Bewertung auch der "Verwachsungsbeschwerden nach Bauchoperation" keinen höheren Teil-GdB als den vom Ärztlichen Dienst angenom-menen GdB von 20 bedingen sollte. Denn innerhalb desselben Funktionssystems ist allein wegen des weiter anerkannten Verlusts der Gebärmutter und beider Eier-stöcke im "jüngeren Lebensalter" (von damals 42 Jahren) allein ein zusätzlicher Ein-zel-GdB von 20 bis 30 (auch über die Vollendung des 50. Lebensjahres eine Woche nach Erlass des Widerspruchsbescheides hinaus, vgl. Wendler/Schilling, Kommen-tar zu den Versorgungsmedizinischen Grundsätze, 8. Auflage S. 286 ff) in die Teil-Bewertung einzustellen. Es ist denknotwendig ausgeschlossen, dass ein führender Einzel-GdB und ein zu ihm relativ niedrigerer Einzel-GdB von 20 bis 30 unter Be-rücksichtigung einer weiteren Funktionsstörung insgesamt zu einem Teil-GdB von nur 20 führen.

Auch bezüglich des Funktionssystems des "Rumpfes" enthalten die aktenkundigen gutachterlichen Stellungnahmen keine nachvollziehbaren Bewertungen und die bei-gezogenen medizinischen Berichte keine hinreichend aktuelle, vollständige, objekti-vierte, nachvollziehbare sozialmedizinische Beurteilungsgrundlage. Auch hier bedarf es einer eigenen ambulanten fachärztlichen Untersuchung und Begutachtung der drei anerkannten Funktionsstörungen Muskuläre Verspannungen, Bandscheiben-schaden und Wirbelsäulenverformung. Eine Zuordnung der einzelnen Funktionsstö-rungen zu bestimmten Beurteilungs-Vorgaben der VMG ist unterblieben. Die Ablei-tung diesbezüglich bestehender Beurteilungsspielräume fehlt. An einer Ausfüllung der Beurteilungsspielräume mangelt es. Die sozialmedizinisch anspruchsvolle Be-antwortung der Frage nach den wechselseitigen Auswirkungen der einzelnen Funk-tionsstörungen im Rahmen der Bildung des Teil-GdB für den "Rumpf" existiert nicht. Die Kammer kann all dies nicht eigenständig nachholen. Ferner sind die aktenkundigen Befund- und Entlassungsberichte zu oberflächlich und zu alt, um eine abschließende Bewertung der Teilhabebeeinträchtigung des Wirbelsäulenleidens zu ermöglichen, obgleich die Klägerin hinreichend substantiiert hat, dass der angenommene Teil-GdB mit 10 zu klein bemessen sein könnte.

Nach Teil B Ziff. 18.9 VMG ergibt sich der Einzel-GdB für Funktionsstörungen am Rumpf primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkungen, der Wirbelsäu-lenverformung und -instabilität, der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte; Wirbelsäulenschäden bedingen einen Einzel-GdB von 0 bis 100 je nachdem, ob sie mit geringen, mittelgradigen, schweren, besonders schweren funktionellen Auswir-kungen oder anhaltenden Funktionsstörungen infolge von Wurzelkompressionen sowie Auswirkungen auf innere Organe einhergehen.

In Anbetracht dessen vermag die Kammer nicht selbst einzuschätzen oder nachzu-vollziehen, warum die drei anerkannten Funktionsstörungen zusammen nur einen Teil-GdB von 10 rechtfertigen. Immerhin hat der behandelnde Facharzt für Orthopä-die am 12.06.2018 in mehreren Wirbelsäulenabschnitten pathologische Verände-rungen diagnostiziert (u. a. "Lumboischialgie", "Cervicobrachialgiesyndrom", "Dorsal-gie", "Lumbalgie", "Bandscheibenprotrusion", "Skoliose", "ISG-Blockade"). Die nach Teil B Ziff. 18.9 VMG maßgeblichen Anknüpfungstatsachen (d.h.: Bewegungsein-schränkungen; Dauer, Häufigkeit und Schwere der Wirbelsäulensyndrome; Art und Ausmaß von Verformung und Instabilitäten; Art, Ausmaß und Häufigkeit neurologi-scher Ausfallerscheinungen; Minderbelastbarkeit; Mitbeteiligung anderer Organsys-teme) sind nach Lage der Akten zum Zeitpunkt dieser Gerichtsentscheidung nicht dermaßen aktuell, umfassend, kritisch sowie fachkundig erhoben und dokumentiert, wie es eine abschließende sozialmedizinische Bewertung des Rumpfleidens erfor-dert.

Nach alldem müssen mindestens drei ambulante Untersuchungen und Begutach-tungen veranlasst werden, damit die Teilhabebeeinträchtigungen an Geschlechts-apparat, Rumpf und Psyche tatrichterlich feststellbar sind. Anlass zur sozialmedizini-schen veranlassten Befunderhebung besteht überdies schon deshalb, weil die Kammer zur Bewertungen der diversen Teilhabebeeinträchtigungen auf mehr als ein Jahr zurückliegende Befund- und Entlassungsberichte nicht mehr abheben darf, da diese nicht oder zumindest nicht in ausreichendem Maße die einzelnen Funktions-ausfälle der angegebenen Gesundheitsstörungen zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung Ende Juli 2019 wiedergeben (vgl. BSG, Urteil vom 27. Januar 1987 – 9a RVs 53/85 –, Rn. 10, juris).

Deshalb braucht das Gericht hier bezüglicher der übrigen Gesundheitsstörungen in Mitleidenschaft gezogenen Funktionssysteme nicht weiter auszuführen, aus wel-chen – ähnlich gelagerten – Gründen im Einzelnen auch das Ausmaß der vom Be-klagten anerkannten Funktionsstörungen (in den bereits genannten System der "Verdauung", der "Harnorgane", der "Ohren" und der "inneren Sekretion einschließ-lich Stoffwechsel") seitens der Kammer nicht abschließend eingeschätzt werden kann. Ebenso kann dahinstehen, dass der Beklagten die Anerkennung einzelner Funktionsstörungen offenkundig ohne Ausschöpfung seiner Ermittlungsmöglichkei-ten als "nicht nachweisbar" abgelehnt hat, weil er zwar die Richtigkeit ärztlich berich-teter Diagnosen in Ermangelung einer "apparativen Objektivierung mittels CT, MRT und Endoskopie" bezweifelt hat, deren Nachholung selbst aber nicht veranlasst hat.

Für die erforderliche weitere sozialmedizinische Aufklärung wird die Einholung von Berichten und Einschätzungen seitens der behandelnden Ärzte nicht ausreichen. Den zu veranlassenden Begutachtungen selbst muss eine Beiziehung medizini-scher Auskünfte seitens der von der Klägerin zur Untersuchung und Behandlung ihrer Gesundheitsstörungen in Anspruch genommenen Mediziner zur Ausschöpfung der Erkenntnismöglichkeiten bzw. Abrundung der Aktenlage – in der Regel und auch hier – zwar vorausgehen. Bereits jetzt ist im vorliegenden Einzelfall aber absehbar, dass allein die Einholung von Auskünften der Behandler unzureichend wäre, um umfassende, aktuelle und hinreichend objektivierte medizinische Befunde, anam-nestische Angaben, fachärztliche Diagnosen und Therapieverläufe als sozialmedizi-nisch maßgebliche Anknüpfungstatsachen zu erheben bzw. eine schlüssige und nachvollziehbare Bewertung der strittigen Gesamt-Teilhabebeeinträchtigung zu er-möglichen.

Die Skepsis der Kammer gegenüber einer allein auf Auskünften von Behandlern nur nach Aktenlage erfolgten sozialmedizinischen Bewertung beruht auf ihren Erkennt-nissen aus den von Parallelverfahren des Beklagten (S 12 SB 2062/18 bzw. S 12 SB 10/18) beigezogenen Sachverständigengutachten des Facharztes für Orthopä-die Dr. P. vom 04.01.2019 sowie des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. W. vom 18.04.2019. Ihren schlüssigen und nachvollziehbaren Ausführungen zufol-ge unterscheiden sich unter Umständen die Untersuchungsziele, -methoden und -ergebnisse in Abhängigkeit davon, ob eine Person entweder zu diagnostischen und therapeutischen Zwecken oder zum Zwecke der sozialmedizinischen Beurteilung ärztlich untersucht wird. Die gutachterlichen Ausführungen beziehen sich gerade nicht nur auf die dort geprüften Einzelfälle, sondern auf die medizinische Sachver-haltsaufklärung in allen Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts.

Die Einschätzung des sachverständigen Orthopäden Dr. P. leuchtet unmittelbar ein: Seitens eines orthopädisch behandelnden Facharztes bedarf es zur Diagnose und Auswahl therapeutischer Mittel "naturgemäß" nicht der Erhebung oder Dokumentati-on der Befunde, welche zur sozialmedizinischen Beurteilung unabdingbar sind. Die genaue Feststellung der Bewegungsmaße der betroffenen Gliedmaßen in den je-weils einschlägigen Bewegungsformen ist von behandelnden Orthopäden nicht zu erwarten. Noch weniger kann von ihnen eine Objektivierung der vorgetragenen Be-schwerden verlangt werden, welche hingegen Kernbestandteil jeder zwecks sozial-medizinischer Bewertung durchgeführten ambulanten fachorthopädischen Untersu-chung seitens eines mit dem Probanden nicht durch ein Patientenverhältnis verban-delten Gutachters ist.

Ferner sind bei lebensnaher Betrachtung im Zuge der Auswertung der Angaben be-handelnder Ärzte Zweifel geboten, ob und ggfs. inwiefern die Belastbarkeit ihrer Be-fundberichte, Diagnosen und sozialmedizinischen Einschätzungen unter legitimen Eigeninteressen sowie Ansprüchen ihrer Patienten leidet. Eine über vernünftige Zweifel regelmäßig erhabene Richtigkeit jeglicher Angaben seitens behandelnder Ärzte kann hingegen nicht für jeden Einzelfall unterstellt werden. Vielmehr ist bei de-ren Auswertung dem Umstand Rechnung zu tragen, dass medizinische Behandler bei der Dokumentation ihrer Untersuchungen und Therapien sowie bei der Auskunft-Erteilung gegenüber Behörden und Gerichten einen wahren Drahtseilakt meistern müssen: Zugleich sollen sie ihren staatsbürgerlichen, schuldrechtlichen und ärztli-chen Wahrheitspflichten genügen, legitime berufliche und wirtschaftliche Eigeninte-ressen verfolgen, das besondere Vertrauensverhältnis zu ihren Patienten achten (vgl. z. B. Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 12 Abs. 1 GG, § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB, § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO, § 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO i.V.m. § 202 SGG), dem teils großen Spektrum (schul-) medizinischer Meinungsstreitigkeiten Rechnung tragen, teilweise großen sozialmedizinische Beurteilungsspielräume in kohärenter Weise ausfüllen und all dies ggfs. mit geringem Arbeitsaufwand – d. h. gegen Aufwandspauschalen in Höhe von regelmäßig 21 EUR oder 38 EUR (vgl. Anlage 2 zu § 10 Abs. 1 JVEG) – nachvollzieh-bar kommunizieren.

Die nicht unerhebliche Tragweite und Bedeutung dieser – hiermit nur kurz umrisse-nen – Interessenkollisionen steht nach Meinung der Kammer außer Frage; sie ist den Strukturen des Gesundheitswesens innerhalb einer sozialen Marktwirtschaft inhärent und überdies in ihren Auswüchsen von Dr. W. in dem beigezogenen Gut-achten vom 18.04.2019 anschaulich geschildert. Wegen des zum Nachweis von Teilhabebeeinträchtigungen erforderlichen Beweismaßes – dem Vollbeweis – kommt es dabei nicht darauf an, ob die Interessenkollisionen das Aussage- und Be-richtsverhalten behandelnder Ärzte – über wiederkehrende Einzelfälle hinaus – der-maßen regelmäßig und beträchtlich in Mitleidenschaft ziehen wie Dr. W. es in sei-nem auszugsweise beigezogenen Gutachten schildert. Seine Ausführungen beru-hen erklärtermaßen vor allem auf subjektiven Eindrücken während seiner langjähri-gen klinischen Praxis und seiner elfjährigen gutachterlichen Tätigkeit. Mit diesbezüg-lichen wissenschaftlichen Erkenntnissen hat er seine Erfahrungen, Beobachtungen und Schlussfolgerungen zurecht nicht bzw. nur ganz oberflächlich abgeglichen, schon, weil Dergleichen den Rahmen seiner Befragung (und der hierfür erhaltenen Vergütung) gesprengt hätte. Die Kammer hat deswegen durchaus Zweifel an der Belastbarkeit einzelner seiner (Über-) Zeichnungen. Hingegen rechtfertigen die Aus-führungen des langjährig praktizierenden Arztes und Gerichtssachverständigen Dr. W. allemal vernünftige Zweifel an der Zuverlässigkeit medizinischer Berichte behan-delnder Ärzte.

Nach alldem bedarf es im Einzelfall unter Umständen zur Beurteilung des Ausma-ßes behinderungsbedingter Teilhabeeinschränkungen über die Beiziehung von Un-terlagen der behandelnden Ärzte hinaus ggfs. weiterer sozialmedizinischer Aufklä-rung in Form der Einholung sachverständiger Gutachten durch unvoreingenomme-ne Fachärzte, die den Menschen mit Behinderung allein zu sozialmedizinischen bzw. zu nicht-therapeutischen Zwecken untersuchen und beschreiben. Dergleichen ist auch im hier vorliegenden Einzelfall auf gynäkologischem, fachorthopädischem, nervenärztlichem und – je nach Einschätzung und Verlauf der weiteren Ermittlungen – ggfs. auch auf internistischem Fachgebiet geboten.

Die Einholung von zumindest drei Sachverständigengutachten ist nach Art und Um-fang insgesamt als erheblich im Sinne des § 131 Abs. 5 SGG anzusehen.

Die Kammer hält es auch für sachdienlich, die Sache an den Beklagte zurückzuwei-sen.

Die Entscheidung zur Zurückweisung nach § 131 Abs. 5 SGG steht im Ermessen des Gerichts. Es muss deshalb zunächst prüfen, ob es sich im Einzelfall zu einer Zurückweisung an die Behörde entschließt oder stattdessen die unterlassene Sach-verhaltsaufklärung selbst nachholt und die Sache spruchreif macht.

Die ausdrücklich auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen erstreckte Regelung des § 131 Abs. 5 SGG begründet eine Ausnahme von der Verpflichtung der Gerich-te, die bei ihnen anhängigen Sachen grundsätzlich selbst spruchreif zu machen (Hauck in Hennig, SGG, § 131 SGG, Rn. 114 m.w.N., Stand August 2011). In Anleh-nung an die Vorschriften des § 113 Abs. 3 Satz 1 VwGO und § 100 Abs. 3 Satz 1 FGO soll sie den Gerichten im Interesse einer zügigen Erledigung des Rechtsstreits eigentlich der Behörde obliegende zeit- und kostenintensive Sachverhaltsaufklärun-gen ersparen und einer sachwidrigen Aufwandsverlagerung entgegenwirken, wenn die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist (BSG, Urteil vom 12. September 2018 – B 14 AS 4/18 R –, Rn. 14, m. w. N.). Da nach dem Wortlaut die-ser Norm die Belange der Beteiligten "auch" besonders zu berücksichtigen sind, sind – im Umkehrschluss – bei der Bewertung der Sachdienlichkeit – neben diesen – auch sämtliche sonstigen öffentlichen Belange in die Abwägung einzustellen.

Die Zurückverweisung setzt insofern in der Regel voraus, dass der Beklagte nach seiner personellen und sachlichen Ausstattung die Ermittlungen inhaltlich besser oder schneller durchführen kann als das Gericht und es auch unter übergeordneten Gesichtspunkten vernünftiger und sachgerechter ist, diesen tätig werden zu lassen. Die Berücksichtigung der Belange der Beteiligten, die sich nach den Umständen des Einzelfalls richtet, ist bei Verpflichtungsklagen und kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklagen von besonderer Bedeutung, weil hier das Bedürfnis des Klägers nach einer abschließenden gerichtlichen Entscheidung wesentlich stärker ist als bei reinen Anfechtungsklagen. In der Regel ist hier ein gravierendes Ermittlungsdefizit erforderlich (MKLS/Keller, 12. Aufl. 2017, SGG, § 131, Rn. 19a, m.w.N.). Als "gravie-rend" ist ein Ermittlungsdefizit jedenfalls dann anzusehen, wenn eine Behörde im konkreten Einzelfall zwingend gebotene Sachverhaltsaufklärungen in besonders großem Umfang unterlassen hat (BSG, Urteil vom 12. September 2018 – B 14 AS 4/18 R –, Rn. 15, m.w.N.). Jedenfalls bei einer vollständig unterbliebenen Sachver-haltsaufklärung ist der Ausnahmecharakter des § 131 Abs. 5 SGG mit der Zurück-verweisung in die Verwaltung nicht verkannt. Die mit der Zurückweisung intendierte Entlastung des Gerichts ist mit den Interessen eines Klägers unter Umständen auch dann vereinbar, wenn die Behörde zur sachgerechten Prozessvertretung umfang-reiche medizinische Unterlagen genauso durchzuarbeiten hätte, wenn das Sozialge-richt die Sache selbst spruchreif machen würde (BSG, Urteil vom 12. September 2018 – B 14 AS 4/18 R –, Rn. 15, m.w.N.).

So liegt der Fall hier. Der Ärztliche Dienst müsste nach der Einholung aktueller sach-verständiger Zeugenauskünfte der behandelnden Ärzte die beigezogenen medizini-schen Unterlagen zum ersten Mal genauso auswerten wie im Verwaltungs- und Wi-derspruchsverfahren. Nachdem die Kammer anschließend die bereits jetzt absehbar erforderlichen gynäkologischen, fachorthopädischen, nervenärztlichen und ggfs. auch fachinternistischen Begutachtungen veranlasst haben würde, müsste der Be-klagte den gesamten bisherigen Akteninhalt nebst den drei bis vier weiteren Gutach-ten durch seinen Ärztlichen Dienst ein zweites Mal durcharbeiten lassen. Dabei ist vom Beklagten aufgrund der Zurückverweisung eine schnellere, sozialmedizinische Aufklärung mithilfe seines Ärztlichen Dienstes zu erwarten als eine gerichtliche Er-mittlungstätigkeit unter Gewährleistung des verfassungskräftigen Anspruchs beider Beteiligten auf rechtlichen Gehörs in Anspruch nähme.

Der Beklagte darf sich nach der Zurückverweisung für die Durchführung des Verwal-tungsverfahrens sechs Monate bzw. für die Durchführung eines Verwaltungs- und Widerspruchsverfahrens nach Ausschöpfung der einmonatigen Widerspruchsfrist insgesamt regelmäßig maximal zehn Monate Zeit lassen (vgl. § 88 Abs. 1 und 2 SGG, § 84 Abs. 1 SGG). Der Beklagte hat sich dabei in sachlicher und persönlicher Hinsicht so auszustatten, dass die Notwendigkeit einer oder mehrerer ambulanter Begutachtungen regelmäßig kein "zureichender Grund" für die Überschreitung der gesetzlich festgelegten Höchstgrenzen von sechs bzw. drei Monaten darstellt. Der seit Langem strukturell unzureichenden Ausstattung der versorgungsärztlichen Dienste des Beklagten mit Personal und/oder Arbeitsmitteln/Räumlichkeiten und den hieraus faktisch resultierenden regelmäßig längeren Bearbeitungszeiten bzw. geset-zeswidrigen Beschränkung auf Gutachten nach Aktenlage kommt nach Art. 20 Abs. 3 GG keine normative Kraft zu. Die Verwaltung ist an das Gesetz gebunden und nicht umgekehrt.

Die Kammer könnte hingegen den vorliegenden Einzelfall mangels Ärztlichen Dienst nicht binnen zehn Monaten spruchreif machen. Dies ist zuvörderst den üblicher-weise unangemessenen langen Bearbeitungszeiten des Beklagten während des sozialgerichtlichen Verfahrens geschuldet. Ausweislich des Schreibens des beige-zogenen Abteilungspräsidenten des Beklagten an den Vizepräsidenten des Lan-dessozialgerichts sind mit den sozialmedizinischen Auswertungen der in Gerichts-verfahren beigezogenen Unterlagen "von der Sozialgerichtsbarkeit seit Jahren zu Recht beanstandeten verlängerten Bearbeitungszeiten" von regelmäßig drei und ausnahmsweise bis zu neun Monaten verbunden. Allein die zweimalige Befassung des Ärztlichen Dienstes des Beklagten sowohl nach Einholung sachverständiger Zeugenauskünfte als auch nach Erstattung extern in Auftrag gegebener Gutachten dauerte ggfs. länger als zehn Monate. Hinzu käme erstens der weitere Zeitablauf für die – oft und auch hier – unabdingbare Beiziehung aktueller Befundberichte behan-delnder Ärzte (welche je nach Erforderlichkeit etwaiger Erinnerungen gegenüber den Behandlern) von ca. drei Wochen bis zu (ausnahmsweise) mehreren Monaten in Anspruch nimmt. Zweitens nimmt die Gutachtenerstellung untere ambulanter Unter-suchung im Falle der Einbestellung bei drei verschiedenen Gutachtern – auch hier je nach Erforderlichkeit von Erinnerungen – jeweils mindestens drei Monate in An-spruch (mitunter aber auch deutlich mehr als ein halbes Jahr).

Allein aufgrund der bis hierhin dargelegten Umstände ist im vorliegenden Einzelfall wegen des Erfordernisses ambulanter und sozialmedizinisch motivierter Untersu-chungen von Amts wegen auf mindestens drei verschiedenen Fachgebieten von einem "gravierenden Ermittlungsdefizit" im Sinne der oben wiedergegebenen Recht-sprechung des Bundessozialgerichts auszugehen und die Sachdienlichkeit der Zu-rückverweisung zu bejahen. Die Zurückverweisung entspricht allein deswegen den Belangen beider Beteiligten. Ihnen kann nämlich nicht zugemutet werden, für die absehbare, vielfache Dauer der gerichtlichen Sachaufklärung zuzuwarten, obgleich der Beklagte innerhalb einer wesentlich kürzeren Zeit im Stande sein muss, die Sa-che sozialmedizinisch spruchreif zu machen.

Überdies kann das Gericht im Anbetracht des Ausmaßes der notwendigen Amtser-mittlungen niemals spruchreif machen, weil – aus den oben dargelegten Gründen – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bis zur erstinstanzlichen Entschei-dung mehr als ein Jahr seit der Erhebung einiger der sodann zugrunde zu legenden Befunde auf zumindest einem der drei medizinischen Fachgebiete vergangen sein würde und insofern – gemessen an der vom BSG insofern angenommen Jahres-grenze (vgl. BSG, Urteil vom 27. Januar 1987 – 9a RVs 53/85 –, Rn. 10, juris) – mit den Amtsermittlungen wieder und wieder von vorne anzufangen wäre. Eine Sach-verhaltsaufklärung unter Einholung von Sachverständigengutachten auf drei oder mehr medizinischen Sachgebieten kann in der gebotenen Geschwindigkeit in aller Regel unter Einschaltung externer Gutachter durch Sozialgerichte nicht erfolgen. Sie muss stattdessen seitens eines personell und sachlich hinreichend ausgestatteten Ärztlichen Dienstes der für die sozialmedizinischen Ermittlungen zuständigen Behör-de ausgeführt werden.

Ungeachtet dieses Zwischenergebnisses ist die Sachdienlichkeit der Zurückverwei-sung auch aus anderen Gründen zu bejahen. Eine Zurückweisung ist nicht nur sachdienlich im Sinne des § 131 Abs. 5 SGG, wenn im vorliegenden Einzelfall noch mindestens drei externe Sachverständigengutachten durch das Gericht einzuholen wären. Stattdessen liegt ein im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung "gravieren-des" Ermittlungsdefizit auch losgelöst vom konkreten Ermittlungsbedarf zum indivi-duellen Ausmaß der Teilhabebeeinträchtigung vor, wenn – wie hier – ein systemati-sches Ermittlungsdefizit des Beklagten festzustellen ist.

Bei der Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs "gravierendes Ermittlungsdefi-zit" ist eine normative Betrachtung unter besonderer Berücksichtigung verfassungs-kräftiger Vorgaben geboten. Unter Berücksichtigung des Rechtsstaatsgebots aus Art. 20 Abs. 3 GG und des Gleichheitsgrundrechts aus Art. 3 Abs. 1 GG ist ein Er-mittlungsdefizit auch dann "gravierend" und eine Zurückverweisung "sachdienlich" im Sinne des § 131 Abs. 5 SGG, wenn eine Behörde in einer Vielzahl von gleicharti-gen Fällen über Jahre hinweg zwingend gebotene Beweiserhebungen systematisch unterlässt und ihr Auswahlermessen bezüglich der Mittel der sozialmedizinischen Aufklärung aus Kostenerwägungen wissentlich und willentlich unterschreitet.

In Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts ist aufgrund der Ermittlungen der Kammer ein solches systematisches und damit gravierendes Ermittlungsdefizit des Beklagten zu Lasten aller Menschen mit (schweren) Behinderungen landesweit fest-zustellen. Die aktenkundigen Statistiken belegen die außerordentliche Schwere und Dauer, mit welcher der Beklagte ohne Rücksicht auf die Besonderheiten des Einzel-falls seine Ermittlungspflichten nach §§ 20, 21 SGB X systematisch vernachlässigt und sich der Sozialgerichtsbarkeit unter missbräuchlicher Ausnutzung der oben ausgeführten sozialgerichtlichen Amtsermittlungspflicht aus §§ 103 ff. SGG als eine ihm vermeintlich irgendwie nachgelagerten Außenstelle für sozialmedizinische Amtsermittlungen bedient, obgleich er die Ermittlungen selbst durchführen (lassen) müsste.

Gemäß § 20 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB X ermittelt die Behörde den Sachverhalt von Amts wegen und bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen, ohne an das Vorbrin-gen und an die Beweisanträge der Beteiligten gebunden zu sein. Nach § 20 Abs. 2 SGB X hat die Behörde alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteilig-ten günstigen Umstände zu berücksichtigen. Die Behörde bedient sich § 21 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB X zufolge der Beweismittel, die sie nach pflichtgemäßem Ermes-sen zur Ermittlung des Sachverhalts für erforderlich hält und kann insbesondere 1. Auskünfte jeder Art, auch elektronisch und als elektronisches Dokument, ein-holen, 2. Beteiligte anhören, Zeugen und Sachverständige vernehmen oder die schrift-liche oder elektronische Äußerung von Beteiligten, Sachverständigen und Zeugen einholen, 3. Urkunden und Akten beiziehen, 4. den Augenschein einnehmen.

Für Zeugen und Sachverständige besteht eine Pflicht zur Aussage oder zur Erstat-tung von Gutachten, wenn sie entweder durch Rechtsvorschrift vorgesehen oder wenn die Aussage oder die Erstattung von Gutachten im Rahmen von § 407 der Zivilprozessordnung zur Entscheidung über die Entstehung, Erbringung, Fortset-zung, das Ruhen, die Entziehung oder den Wegfall einer Sozialleistung sowie deren Höhe unabweisbar ist (§ 21 Abs. 3 Satz 1 und 2 SGB X). Gemäß § 22 Abs. 1 SGB X kann die Behörde je nach dem gegebenen Rechtsweg das für den Wohnsitz oder den Aufenthaltsort des Zeugen oder des Sachverständigen zuständige Sozialgericht um die Vernehmung ersuchen, falls Zeugen oder Sachverständige in den Fällen des § 21 Abs. 3 SGB X ohne Vorliegen eines der in den §§ 376, 383 bis 385 und 408 der Zivilprozessordnung bezeichneten Gründe die Aussage oder die Erstattung des Gutachtens verweigern.,

Trotz dieser umfangreichen Ermittlungsbefugnisse und -pflichten sieht der Beklagte systematisch davon ab, die zur Entscheidung über die bei ihm gestellten Anträge maßgeblichen Sachverhaltsermittlungen vollständig anzustellen und unterlässt ins-besondere die im Einzelfall gebotene Durchführung ambulanter Untersuchungen zwecks sozialmedizinischer Begutachtung. Entgegen der diesbezüglichen Einwendungen des Beklagten handelt es sich bei dieser Feststellung nicht um eine "nicht nachvollziehbare", "abwegige" und "nicht verifizierbare Behauptung", sondern um eine tatrichterliche Würdigung der in das Verfahren eingeführten Beweismittel.

So hat der Abteilungspräsidenten des Beklagten an den Vizepräsidenten des Lan-dessozialgerichts am 27.10.2017 schriftlich eingeräumt, dass die Auswertungen der in Gerichtsverfahren beigezogenen Unterlagen mit "von der Sozialgerichtsbarkeit seit Jahren zu Recht beanstandeten verlängerten Bearbeitungszeiten" verbunden sind, weil der Ärztliche Dienst der Rechtsbehelfsstelle des Beklagten mit lediglich vier ärztlichen Vollzeitkräften besetzt war. Es liegt auf der Hand, dass die Arbeitszeit von vier Vollzeitkräften nicht ausreicht, um sämtliche Widerspruchs-, Klage- und Be-rufungsverfahren des gesamten Bundeslandes mit 35 Versorgungsämtern, 8 Sozi-algerichten und einem Landessozialgericht sozialmedizinisch zu begleiten und hier-bei nach Bedarf auch ambulanten Untersuchungen zur sozialmedizinischen Begut-achtung selbst durchzuführen. Zwar konnte die genaue Anzahl der von den vier Vollzeit-Ärzten bearbeiteten Verfahren seitens des Gerichts nicht festgestellt werden. In Anbetracht von jährlich (im Durchschnitt zwischen 2014 und 2018) allein am Sozi-algericht Karlsruhe abgeschlossenen 867 Gerichtsverfahren in Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts kann bei insgesamt 9 Gerichten in der Landessozial-gerichtsbarkeit schätzungsweise angenommen werden, dass allein mindestens 5.000 Gerichtsverfahren jährlich vom Ärztlichen Dienst der Rechtsbehelfsstelle des Beklagten zu begleiten waren. Der Verdienst dieser Handvoll Ärzte des Beklagten, welche die gesamte Landesversorgungsverwaltung am Laufen zu halten vermögen, kann überhaupt nicht stark genug gewürdigt werden. Die Annahme, dass der Be-klagte mit einer zahlenmäßig dermaßen desaströsen personellen Ausstattung ambu-lante Untersuchungen bei Bedarf selbst durchführen könnte, liegt hingegen fern.

Zudem ist zur Überzeugung der Kammer auch nachgewiesen, dass der Beklagten sich nicht regelmäßig externer Gutachter zwecks ambulanter Untersuchungen be-dient. Der Beklagte hat in dem Parallelverfahren S 2 SB 2114/16 im Schriftsatz vom 16.02.2017 eingeräumt, dass er keine Amtsermittlung leisten kann, welche über die im Bereich des Schwerbehindertenrechts seinerseits übliche Einholung ärztlicher Unterlagen von Seiten behandelnder Ärzte hinausgeht.

Ferner hat sich in der mündlichen Verhandlung am 29.07.2019 auch der general-bevollmächtigte Sitzungsvertreter des Beklagten ausdrücklich dahingehend einge-lassen, dass er persönlich bislang in lediglich zwei Angelegenheiten des Schwerbe-hindertenrechts von einer behördenseitig veranlassten ambulanten Untersuchung zwecks sozialmedizinischer Bewertung Kenntnis erlangt habe. Insofern hat der Be-vollmächtigte sogleich einschränken müssen, dass es sich hierbei jeweils nur um die isolierte (und kostenarme) Erstellung von Sprachaudiogrammen gehandelt hat und gerade nicht um eine umfassende ambulante Untersuchung bzw. Begutachtung auf dem medizinischen Fachgebiet der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde.

Des Weiteren zeigt auch der vorliegende Einzelfall, dass Beklagte selbst dann keine ambulante Untersuchung veranlasst, wenn sein Ärztlicher Dienst ausdrücklich weite-ren Ermittlungsbedarf feststellt. So hielt der Verwaltungsgutachter im Widerspruchs-verfahren hier nach Aktenlage ausdrücklich die ärztlich hergestellten Zusammen-hänge für schwer nachvollziehbar und bezweifelte die Richtigkeit der berichteten Diagnosen, weil insofern noch keine apparative Objektivierung mittels CT, MRT und Endoskopie stattgefunden habe. Zur Objektivierung der erklärtermaßen fehlenden Fremdbefunde hätte der Beklagte hinreichenden Anlass zur weiteren Aufklärung gehabt. Die gutachterlich festgestellten sozialmedizinischen Zweifel wären durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens aufgrund einer ambulanten Untersu-chung zu beseitigen gewesen. Gleichwohl entschied der Beklagte hier sodann ohne ersichtlichen Grund verfahrensfehlerhafterweise sofort nach Aktenlage entspre-chend der – für die Klägerin ungünstigen – Beweislast.

Außerdem resultiert die Überzeugung der Kammer vom Vorhandensein eines sys-tematischen Ermittlungsdefizits auch aus dem Vergleich der Ermittlungspraxis des Beklagten in Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts mit der diesbezügli-chen Ermittlungspraxis des Sozialgerichts Karlsruhe. Das Ausmaß, in dem am Sozi-algericht Karlsruhe in derartigen Verfahren von Amts wegen ambulante Untersu-chungen zwecks sozialmedizinischer Begutachtung veranlasst werden, stellt einen tragfähigen Maßstab für die Notwendigkeit derartiger Ermittlungen dar. Die gerichtli-che Amtsermittlungspflicht reicht unter Zugrundelegung der oben zitierten Rechts-grundlagen nicht über die behördliche Amtsermittlungspflicht des Beklagten hinaus.

Gemessen an den beim Sozialgericht Karlsruhe erhobenen Daten ist die Annahme eines systematischen Ermittlungsdefizits seitens des Beklagten gerechtfertigt. Wäh-rend der Beklagte allenfalls in Einzelfällen von Amts wegen externe Untersuchungen zu einzelnen Befunden – wie etwa die in der mündlichen Verhandlung behauptete zweimalige Erstellung eines Sprachaudiogramms – veranlasst, sind am Sozialge-richt Karlsruhe in den Jahren 2017 und 2018 in den 814 bzw. 783 abgeschlossenen Verfahren in Angelegenheiten der Schwerbehinderten Kosten für die Einholung ex-terner Sachverständigengutachten in Höhe von durchschnittlich 651 EUR bzw. 790 EUR je Verfahren angefallen. Unter der – nach Lage der Akte gerechtfertigten – Annahme, dass der Beklagte so gut wie nie eine umfassende sozialmedizinische Begutachtung unter ambulanter Untersuchung veranlasst hat, ist rechnerisch zu schätzen, dass der Beklagte durch sein systematisches Ermittlungsdefizit hinsichtlich ambulanter Begutachtungen allein in den Jahren 2017 und 2018 allein auf das Sozialgericht Karlsruhe Gutachtenkosten in Höhe von insgesamt ca. einer 1.000.000 EUR abgewälzt hat.

Soweit der Beklagte im Rahmen seiner Anhörung zu diesem Vorhalt moniert, der unterschiedliche Ermittlungsumfang sei "der richterlichen Unabhängigkeit" geschul-det, sieht die Kammer darin eine fadenscheinige Schutzbehauptung, da die Diskre-panz in Wahrheit allein dem bisherigen haushaltspolitischen Rahmen geschuldet ist, in dem der Beklagte bzw. sein Ärztlicher Dienst seiner sozialmedizinischen Aufklä-rungspflicht in abertausenden Fällen schlechterdings unmöglich gerecht werden können.

Die Annahme eines systematischen Ermittlungsdefizits beruht schließlich auch auf der Feststellung, dass der Beklagte den statistischen Auswertungen der Kammer zufolge in den sozialgerichtlichen Verfahren in Angelegenheiten des Schwerbehin-dertenrechts aufgrund der nachträglichen Einholung von Sachverständigengutach-ten mit ambulanten Untersuchungen vergleichsweise häufig zumindest teilweise unterliegt. Im diesbezüglich ausgewerteten Fünfjahreszeitraum unterlag der Beklag-te nämlich in knapp 50 % aller seiner Verfahren während die ansonsten beklagten Behörden vor dem Sozialgericht Karlsruhe nur zu 30 % zumindest teilweise unterla-gen. Dabei kann die Diskrepanz zu anderen Behörden gerade nicht mit der beson-deren Schwierigkeit der Angelegenheiten im Schwerbehindertenrecht erklärt werden. Umgekehrt bedarf es in dem hier betroffenen Rechtsgebiet nach Erschöpfung der vorhandenen Erkenntnismöglichkeiten gerade wegen des Fehlens tatsächlicher o-der rechtlicher Schwierigkeiten sogar vergleichsweise häufig gerade keiner gerichtli-chen Entscheidung mehr: infolge (der Nachholung) der sozialmedizinischen Ermitt-lungen endeten im statistisch ausgewerteten Zeitraum von 2014 bis 2018 sogar 76 % ohne eine gerichtliche Sachentscheidung.

Da aufgrund all dessen das systematische Ermessensdefizit des Beklagten bereits nach Lage der Akten bewiesen ist, kann auch dahinstehen, dass der Beklagte der Kammer binnen der ihm hierfür gesetzten Frist kein Versorgungsamt (im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Sozialgerichts Karlsruhe) nennen konnte, welches in den Kalenderjahren 2014 bis 2018 jemals eine ambulante Untersuchung und Begutach-tung vor Erlass einer Entscheidung in Angelegenheiten des Schwerbehinderten-rechts veranlasst hätte, ohne hierzu zuvor gemäß § 131 Abs. 5 SGG gerichtlich ver-urteilt worden zu sein. Insofern kann als wahr unterstellt werden, dass der Beklagte – wie in der mündlichen Verhandlung vorgetragen – trotz der ihm im Verhältnis zu den Versorgungsämtern obliegenden Fachaufsicht zur Erteilung der angeforderten Aus-kunft "mindestens zwei weitere Monate" benötigt hätte. Denn der Umstand, dass der Beklagte in der Vergangenheit in Einzelfällen (entweder zu isolierten Teilfragen kos-tengünstige Untersuchungen wie die Erstellung eines Sprachaudiogramms oder sogar) eine externe ambulante Begutachtung veranlasst hat, steht der Annahme eines systematischen Ermittlungsdefizites gerade nicht entgegen.

Da der Beklagte seit Jahren – wenn nicht Jahrzehnten – die zur Erfüllung seiner so-zialmedizinischen Aufklärungspflicht erforderlichen sachlichen und persönlichen Mit-tel systematisch nicht vorhält, erfolgen seine Ermessensentscheidungen nach §§ 20, 21 SGB X systematisch fehlerhaft hinsichtlich der Auswahl der Mittel der Sach-verhaltsaufklärung. Der Beklagte zieht die Veranlassung ambulanter Untersuchun-gen zwecks sozialmedizinischer Begutachtung nach Meinung der Kammer niemals ernsthaft in Betracht. Er unterschreitet hierdurch wissentlich und willentlich fortlau-fend das ihm zustehende Auswahlermessen bezüglich der der Mittel seiner Sach-verhaltsaufklärung.

Hiergegen kann nicht eingewandt werden, dass es zur Feststellung der für die Be-wertung des GdB bzw. die Zuerkennung behinderungsbedingter Mehrzeichen maß-geblichen sozialmedizinischen Anknüpfungstatsachen regelmäßig keiner ambulan-ten Begutachtungen bedarf. Dies zeigen sowohl der diesbezügliche Ermittlungsbe-darf im vorliegenden Einzelfall als auch die Ausführungen in den auszugsweise bei-gezogenen Gutachten von Dr. W. und Dr. P.

Im Falle der gerichtlichen Feststellung eines systematischen Ermittlungsdefizits sei-tens einer Behörde in allen gleichgelagerten Fällen einer bestimmten Art ist eine ge-richtliche Zurückweisung nicht weniger sachdienlich als es eine Zurückweisung – anerkanntermaßen – bei einem im Einzelfall gravierenden Ermittlungsdefizit ist.

Wenn eine Behörde ein systematisches Ermittlungsdefizit wissentlich und willentlich beibehält stellt die Zurückweisung einer Rechtsstreitigkeit der einschlägigen Art an den Beklagten unter seiner Verpflichtung zur Nachholung der erforderlichen Ermitt-lungen unter Umständen ein geeignetes, erforderliches, angemessenes und ermes-sensgerechtes Mittel dar, um den Beklagten zum energischen Abbau seines sys-tematischen Ermittlungsdefizits bzw. zur Widerherstellung einer rechtmäßigen Ver-waltungspraxis zu veranlassen.

In Fällen der hier vorliegenden Art – d. h.: Angelegenheiten des Schwerbehinderten-rechts – kann der Beklagte künftig nicht mehr auf eine gerichtliche Nachholung be-hördlich unterlassener Sachverhaltsaufklärung vertrauen. Er muss vielmehr mit einer Zurückverweisung rechnen, welche ihm – schon wegen des zwischenzeitlichen Zeitverlaufs – zeit- und kostenintensiveren Ermittlungsaufwand bereitet, als eine an-fängliche rechtmäßige Sachverhaltsaufklärung bedeutet hätte.

Die Zurückweisung an den Beklagten hier auch erforderlich. Der Kammer steht kein ebenso geeignetes, aber die Beteiligten weniger belastendes Mittel zur Veranlas-sung des Beklagten zum Abbau des systematischen Ermittlungsdefizits zur Verfü-gung. Insbesondere hat sich die jahrelange systematische Nachholung der sozial-medizinischen Ermittlungen durch das Sozialgericht Karlsruhe als hierzu ungeeignet erwiesen. Der Beklagte hat sich hierdurch gerade nicht dazu bewegen lassen, seine Aufgaben bei der Amtsermittlung selbst sachangemessen wahrzunehmen und im Rahmen der Fachaufsicht Sorge dafür zu tragen, dass die Versorgungsämter zur Wahrung der materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Ansprüche der Men-schen mit Behinderung personell und sachlich angemessen ausgestattet sind oder von ihnen unterlassene Ermittlungen zumindest im Rechtsbehelfsverfahren nach-geholt werden. Vielmehr hat sich das Ermessensdefizit des Beklagten ausweislich der von der Kammer ausgewerteten Verfahrensdaten des Sozialgerichts Karlsruhe bzw. dessen Kostenaufwand zur Nachholung der durch den Beklagten unterlasse-nen Begutachtungen zuletzt von durchschnittlich 651 EUR je Klageverfahren in 2017 auf 790 EUR je Klageverfahren in 2018 nochmal um rechnerisch 21 % – d. h.: deutlich – erhöht. Der Beklagte hat demnach bis zuletzt trotz Kenntnis der ihm im Zuge Aber-tausender sozialgerichtlicher Prozesse in Angelegenheiten des Schwerbehinderten-rechts – allein zwischen 2014 und 2018 an der Zahl 4333 allein am Sozialgericht Karlsruhe – bestens geläufig gewordener Maßstäbe für die gebotene Art und den erforderlichen Umfang der sozialmedizinischen Sachverhaltserforschung mitnichten seine Arbeitsweise wesentlich an die verfassungskräftigen, verfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Anforderungen angepasst und die für ihn in Vollzeit tätigen vier Ärzte sehenden Auges mit einer Flut von Verfahren im Stich gelassen, denen diese unmöglich in der gebotenen Gründlichkeit Herr werden konnten.

Die Zurückverweisung nach § 131 Abs. 5 SGG ist hier wegen eines systematischen Ermittlungsdefizits auch unter besonderer Berücksichtigung der Belange der Betei-ligten als angemessen bzw. "sachdienlich" anzusehen.

Erstens wird dem individuellen Interesse der Klägerin an der Beschleunigung ihres Verfahrens über die Höhe des Grades ihrer Behinderung Rechnung getragen, weil im Falle der Zurückweisung an den Beklagten mit einer schnelleren Sachaufklärung und einer schnelleren materiell-rechtmäßigen Entscheidung zu rechnen ist als im Falle einer gerichtlichen Nachholung, s.o. Zweitens dient die Zurückverweisung dem Interesse des Beklagten an der sparsamen und wirtschaftlichen Verwendung seiner Mittel, weil die ihm bundesgesetzlich obliegende Gewährleistung des Anspruchs bei ihm beheimateter Menschen auf Anerkennung ihrer Behinderungen und Merkzei-chen im Falle einer Zurückweisung durch das Gericht kostengünstiger bzw. kosten-effizienter erfolgen wird als sie im alternativen Falle gerichtlicher Sachverhaltsaufklä-rung erfolgte (sogleich unter 3.). Drittens spricht auch die Berücksichtigung sonstiger öffentlicher Belange für die Bejahung der Sachdienlichkeit der Zurückverweisung, weil ein überragendes öffentliches Interesse an der Beseitigung des systematischen Ermittlungsdefizits der Versorgungsverwaltung besteht, um dem Selbstverständnis des Landes Baden-Württemberg als Rechtsstaat bzw. der grundgesetzlichen Bin-dung des Bundeslandes an das bundesdeutsche Rechtsstaatsprinzip (1.) zu genü-gen. Viertens befördert die Zurückweisung die Verwirklichung des Gleichheitsgrund-rechts (2.).

1.) Die Zurückverweisung dient der Durchsetzung der Gewaltenteilung sowie der Gesetzesbindung der Versorgungsverwaltung und damit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 23 Abs. 1 der Landesverfassung bzw. Art. 20 Abs. 2 und 3 i.V.m. Art. 28 Abs. 1 GG.

In seinem Gastbeitrag "Müssen Aushöhlung des Rechtsstaats verhindern!" für FOCUS Online schrieb Verfassungsrichter Peter Müller am Tag der mündlichen Verhandlung wörtlich:

"Demokratie und Rechtsstaat sind unverzichtbare Grundlage unseres Zusammenlebens in Deutschland und Europa." Wer diese Feststellung als Banalität abtut, verkennt, dass sie längst nicht mehr selbstverständlich ist. Zwar bekennt sich das Grundgesetz in Art. 20 GG zu beiden Prinzipien und auch die Europäische Union bezeichnet sie in Art. 2 EUV als grundlegende Werte, die "allen Mitgliedstaaten gemeinsam sind". Trotzdem ist die Idee der Rechtsstaatlichkeit erkennbar unter Druck geraten. ( ) Erhebliche Risiken für das Vertrauen in den Rechtsstaat werden begründet, wenn der ausnahmslose Geltungsanspruch des Rechts durch staatliche Organe oder Behörden infrage gestellt wird. ( ) Tragen aus-gerechnet staatliche Instanzen der Bindung aller Rechtsunterworfenen an die Gesetze und ihre verbindliche Interpretation durch die hierzu berufenen Gerichte nicht Rechnung, wird die Axt an die Wurzel des Rechtstaates gelegt. Rechtsstaatlich nicht hinnehmbar sind si-cherlich auch dauerhafte strukturelle Defizite bei der Umsetzung gesetzlicher Regelungen. ( ) Dabei ist aber auch für politische Entscheidungsträger für ein Handeln nach der Ma-xime "Not kennt kein Gebot" nicht zulässig. Erweist sich das bestehende Regelungssystem zur Lösung auftretender Probleme als unzureichend, so ist es in den dafür vorgesehenen Verfahren anzupassen und nicht schlicht zu ignorieren.

Gemessen hieran muss der Beklagte die ihm originär zugewiesenen Verwaltungs-aufgaben der Tatsachenfeststellung und -würdigung selbst erfüllen. Er darf seine Aufgaben nicht vernachlässigen und systematisch auf die Sozialgerichtsbarkeit ab-wälzen. Es ist nicht deren Aufgabe, über Jahre – wenn nicht Jahrzehnte – hinweg, in uferlosem Ausmaß Behördenermittlungen nachzuholen. Der Status Quo bedeutet eine kompetenzordnungswidrige Instrumentalisierung der Sozialgerichtsbarkeit sei-tens der Versorgungsverwaltung. Faktisch arbeiteten die Sozialgerichte des Bundes-landes Baden-Württemberg wie die sozialmedizinischen Außenstellen für behinde-rungsbezogene Ermittlungen der Versorgungsverwaltung. Als Organe der recht-sprechenden Gewalt verfügen die neun Gerichte der Landessozialgerichtsbarkeit aber nicht einmal über Ärztliche Dienste mitsamt Räumlichkeiten und Apparaten. Dergleichen muss im Gegensatz zur Justiz die Versorgungsverwaltung in quantitati-ver und qualitativer Hinsicht ausreichende Ausstattung vorhalten. Es ist kein hinrei-chender Grund ersichtlich, warum das beklagte Bundesland dies seit Langem sys-tematisch unterlässt. Insbesondere genügt es nicht, dass Menschen mit Behinde-rung bzw. deren Interessenverbände bei der Haushaltsgesetzgebung weniger politi-schen Einfluss auszuüben vermögen als andere Interessengruppen, etwa Rentner, Arbeitgeberverbände oder Gewerkschaften. Im Gegensatz zum Beklagten veranlas-sen die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung, Unfallversicherung, Pflege-versicherung oder Krankenversicherung in Verwaltungs- und Widerspruchsverfah-ren ständig ambulante Untersuchungen und Begutachtungen durch ihre hierauf spezialisierten und entsprechend ausgestatteten ärztliche Dienste.

In einem Rechtsstaat darf zudem nicht in Kauf genommen werden, dass regelmäßig (aufgrund eines gravierenden, systematischen Ermittlungsdefizits folgefehlerhaft auch) materiell-rechtlich rechtswidrige Einzelfallentscheidungen in hoher Anzahl rechtlich bindend werden. Dies ist bezüglich der Versorgungsverwaltung des Lan-des Baden-Württemberg aber festzustellen. Dabei vermag die Kammer zwar nicht abzuschätzen, wie viele rechtswidrige Verwaltungsentscheidungen über den GdB oder gesundheitliche Merkzeichen mangels Anfechtung Jahr für Jahr rechtswirksam werden, da der Beklagte der gerichtlichen Aufforderung um Vorlage konkrete ange-forderter statistischer Daten – nach eigenen Angaben – in Ermangelung entspre-chender Statistiken nicht rechtzeitig nachkommen konnte. Die Kammer ist gleichwohl überzeugt, dass nicht wenige durch den Beklagten in ihren subjektiven Rechten ver-letzte Menschen mit Behinderung ahnungslos auf die Rechtmäßigkeit der Versor-gungsverwaltung vertrauen oder die finanziellen, nervlichen und sonstigen Mühen scheuen, welche jeder Rechtsweg mit sich bringt.

Die hohe Fehleranfälligkeit der Verwaltungsentscheidungen der Versorgungsverwal-tung des Beklagten ist dabei durch die Ermittlungen der Kammer belegt. So hat der Beklagte in den Jahren 2014 bis 2018 in insgesamt 4333 vor dem Sozialgericht Karlsruhe abgeschlossenen Verfahren größtenteils infolge der Nachholung sozial-medizinisch gebotener Ermittlungen in 46 % aller Rechtsstreitigkeiten (bzw. in 1973 Verfahren) zumindest teilweise verloren. Hierzu gehören außer den Fällen einer Verurteilung des Beklagten in 181 Urteilen und Gerichtsbescheiden auch die Fälle, in denen der Rechtsstreit durch ein angenommenes Anerkenntnis des Klagebegeh-rens (838) oder durch den Abschluss eines (gerichtlichen oder außergerichtlichen) Vergleichs (305 bzw. 641) erledigt wurde, nachdem das Gericht die medizinische Aufklärung betrieben hatte.

Überdies darf in einem Rechtsstaat auch die materielle Richtigkeit gerichtlicher Ent-scheidungen nicht darunter leiden, dass im Zuständigkeitsbereich einer systema-tisch untätigen Behörde zwei vorherige Tatsacheninstanzen (nämlich: Ausgangs- und Widerspruchsbehörde) keine ernstliche Prüfung der Sach- und Rechtslage vor-nehmen und von den (einschließlich der Berufungsinstanz) gesetzgeberisch inten-dierten vier Tatsachen-Instanzen letztlich nur die Hälfte ernstliche Anstrengungen unternimmt, um die tatsächlichen Verhältnisse zu ermitteln, welche für die rechtliche Beurteilung ausschlaggebend sind.

2.) Die Zurückweisung dient ebenfalls der Verwirklichung des allgemeinen Gleich-heitsgebots aus Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetztes.

Unter dem Gesichtspunkt der Gleichberechtigung darf nicht hingenommen werden, dass die förmliche Anerkennung des zutreffenden Grades der Behinderung bzw. gesundheitlicher Merkzeichen ganz wesentlich von Umständen solcher Art und sol-chen Gewichts abhängen, die keine Benachteiligung rechtfertigen. Zur Durchset-zung der subjektiven Ansprüche auf Feststellung des GdB bzw. von Merkzeichen ist bislang in zahlreichen Fällen die Beschreitung des Sozialrechtsweges nötig. Die ggfs. behinderungsbedingt fehlende Fähigkeit bzw. Bereitschaft (schwer) behinder-ter Menschen, die mit dem (Sozial-)Rechtsweg verbundenen nervlichen, zeitlichen und finanziellen Aufwendungen, Verzögerungen und Risiken in Kauf zu nehmen, rechtfertigt die Vorenthaltung ihrer diesbezüglichen Rechte nicht.

3.) Eine systematische Zurückweisung in Angelegenheiten des Schwerbehinderten-rechts dient ebenfalls dem Grundsatz der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit der Verwendung öffentlicher Mittel aus § 7 Abs. 1 LHO BW. Der Beklagte belastet durch sein systematisches Ermittlungsdefizit in haushaltspolitisch unwirtschaftlicher Weise die Landeskasse.

Er richtet seinen Ärztlichen Dienst personell und sachlich nicht so ein, dass er aus-reichend sozialmedizinische Expertise aus ei(ge)ner Hand kosteneffizient bereithält. Der Beklagte bedient sich stattdessen der Sozialgerichtsbarkeit als ungleich teurerer "Außenstelle für sozialmedizinische Begutachtungen" unter Heranziehung privater Sachverständiger. Mit der systematischen Verlagerung von Tätigkeiten eines spe-zialisierten behördlichen Ärztlichen Dienstes auf die von der Sozialgerichtsbarkeit eingeschalteten externen Sachverständigen gehen immense vermeidbare Belas-tungen der öffentlichen Hand einher. Für die Vorhaltung eines zureichend ausge-statteten spezialisierten Ärztlichen Dienstes (wie ihn sich alle Träger der gesetzlichen Rentenversicherung, Unfallversicherung, Pflegeversicherung und Krankenversiche-rung leisten) wären viel weniger Steuermittel erforderlich als bei der Beibehaltung des Status Quo. Die in den Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts am So-zialgericht Karlsruhe allein wegen des systematischen Ermittlungsdefizits anfallen-den Personal-, Sach- und Gutachterkosten sind nach Schätzungen der Kammer deutlich höher als diejenigen Kosten, welche der Beklagte im selben örtlichen Zu-ständigkeitsbereich aufwenden müsste, wenn er in der Versorgungsverwaltung aus-reichend Sozialmediziner und Hilfskräfte beschäftigte sowie ausreichend sachliche Mittel vorhielte und hierdurch zugleich die am Sozialgericht Karlsruhe bei der Bear-beitung von Angelegenheiten im Schwerbehindertenrecht anfallenden Sach-, Per-sonal- und Gutachterkosten erheblich reduzierte.

Die Kammer ist überzeugt, dass ein nicht unerheblicher Teil der die Staatskasse be-lastenden Gerichtskosten des Sozialgerichts Karlsruhe nicht anfiele, wenn der Be-klagte durch sein systematisches Ermittlungsdefizit gar nicht erst Anlass zur Klage gäbe. Die Sozialgerichte werden wegen des systematischen Ermittlungsdefizits deutlich häufiger von rechtsuchenden Bürgern in Anspruch genommen als nötig. Die mit dem Status Quo verbundene hohe Erfolgsaussicht von nahezu 50 % spricht sich über die Jahre auch unter den Rechtsuchenden herum. In Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts streiten die Beteiligten vor allem, weil außergerichtlich nicht ernsthaft ermittelt worden war. Sobald das Gericht die erforderlichen Ermittlun-gen nachgeholt hat, kommt es hingegen in 76 % der Rechtsstreitigkeiten zu einer unstreitigen Erledigung. Inzwischen machen allein die Streitigkeiten über den GdB und die Zuerkennung von Merkzeichen 21 % aller am Sozialgericht Karlsruhe erle-digten Verfahren aus. Dieser exorbitant hohe Anteil von Streitigkeiten der vorliegen-den Art verursacht bei Gericht erhebliche Personal- und Sachkosten. Diese betru-gen beispielsweise allein am Sozialgericht Karlsruhe allein in Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts im Kalenderjahr 2017 durchschnittlichen 707 EUR je Rechts-streit bzw.– bei 814 abgeschlossenen Verfahren – insgesamt 575.775 EUR. Zudem wird der Landeshaushalt wegen der Befassung des Sozialgerichts Karlsruhe mit Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts finanziell belastet durch die Kosten für die Einholung externer Sachverständigengutachten. Die Kosten hierfür beliefen sich beispielsweise zwischen 01.01.2017 und 31.12.2018 auf genau 1.140.375 EUR. Wenn der Beklagte seine Amtsermittlungspflichten systematisch selbst so gut erfüll-te, dass die im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren veranlassten ambulanten Untersuchungen und Begutachtungen – wie in anderen Rechtsgebieten auch – un-ter Berücksichtigung der jeweiligen Klagebegründungen nur auf Aktualität, Vollstän-digkeit, Nachvollziehbarkeit und Schlüssigkeit überprüft werden müssten, wären schnelle gerichtliche Sachentscheidungen ohne die Durchführung langwieriger und kostenintensiver medizinischer Ermittlungen und dementsprechend massive Einspa-rungen in sechsstelliger Größenordnung allein für Gutachterkosten am Sozialgericht Karlsruhe möglich.

Eine Umverteilung der bislang im Gerichtsverfahren aufgewandten Mittel zur besse-ren Ausstattung der Versorgungsverwaltung wäre haushaltspolitisch sinnvoll. Die (Kosten-) Effizienz der Arbeitsweise hauptamtlich bei Behörden (d.h.: beim Beklag-ten und bei anderen Behörden) tätiger Ärzte ist aus der täglichen Gerichtspraxis be-kannt und verwundert aufgrund von Synergieeffekten und sozialmedizinischer Spe-zialisierung nicht. Insofern ist nochmals auf die sagenhaften Verdienste der Hand-voll Ärzte des Beklagten zu verweisen, welchen dessen Versorgungsverwaltung den Umständen entsprechend bestmöglich am Laufen halten.

Die haushaltspolitische Unwirtschaftlichkeit der übertriebenen Sparsamkeit beim Einsatz öffentlicher Mittel für die Ausstattung der Versorgungsverwaltung einerseits und der Aufwendung exorbitanter Mittel für deren sozialgerichtliche Überprüfung andererseits zeigt auch eine sachgebietsübergreifende statistische Analyse. Diese erlaubt nämlich eine wertende Betrachtung, wonach sowohl die schiere Anzahl der Verfahren in Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts vor dem Sozialgericht Karlsruhe als auch die durch sie bedingten Gutachterkosten im Vergleich zu sonsti-gen hier verhandelten Angelegenheiten unangemessen hoch sind.

In Anbetracht der Vielzahl und Tragweite dieser weiteren Aufgaben erscheint es der Kammer unwirtschaftlich, dass das Sozialgericht Karlsruhe im bisherigen Umfang von 21 % seine begrenzte sachliche und persönliche Ausstattung ausschließlich für die Erledigung von Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts verwenden muss(te). Die damit verbundenen Aufwendungen stehen außer Verhältnis zu den Einsparungen des Beklagten durch seinen systematischen Verzicht auf sozialmedi-zinisch gebotene Sachaufklärungen. Es lohnt sich für den Beklagten – auch wirt-schaftlich betrachtet – nicht, dass er sich damit begnügt, landesweit (k)eine Handvoll Ärzte für seinen sozialmedizinischen Dienst in Vollzeit zu beschäftigen. Denn hier-durch gibt der Beklagte systematisch zu knapp 50 % der gegen ihn gerichteten bzw. zu 10 % aller vor dem Sozialgericht Karlsruhe insgesamt erhobenen Klagen Anlass und verursacht damit die Entstehung von Sach-, Personal- sowie Gutachterkosten in gerichtskostenfreien Verfahren in jährlich allein am Sozialgericht Karlsruhe kumulativ siebenstelliger Größenordnung zu Lasten derselben Staatskasse. In anderen sozial-rechtlichen Sachgebieten ermitteln die beklagten Behörden hingegen selbst auch unter Durchführung ambulanter Untersuchungen und Begutachtungen, unterliegen vor Gericht im Durchschnitt nur zu 30 % und es fallen pro Verfahren deutlich niedri-gere Kosten für die Einholung von Gutachten zu Lasten der Staatskasse an, s.o.

Die erkennende Kammer berücksichtigt bei ihrer wertenden Betrachtung durchaus den besonderen Schutzanspruch von Menschen mit Behinderung (unter anderem aus Art. 2 b der Landesverfassung) und misst ihm einen besonders hohen Stellen-wert bei. Gleichwohl hängt auch von anderen sozialgerichtlichen Entscheidungen das Wohl und Wehe von Menschen ab, welche mit (anderen) existentiellen Heraus-forderungen konfrontiert sind. So obliegt den Sozialgerichten die Erfüllung des Jus-tizgewährleistungsanspruchs auch, wenn Rechtssuchende durch Berufskrankheit, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Arbeitsunfall, Armut, Erwerbsminde-rung, Alter, Asylbewerbung, etc. in der Verwirklichung ihres Grundrechts auf Ge-währleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums oder anderer Sozialer Rechte eingeschränkt sind. Die gerichtsinternen und -externen persönlichen und sachlichen Mittel sind aber erschöpflich. Die zur Nachholung der durch den Beklag-ten unterlassenen Aufklärungen und infolgedessen seitens des Gerichts erforderli-chen Aufwendungen fehlen für alle sonstigen Angelegenheiten im sozialgerichtli-chen Zuständigkeitsbereich. Namentlich können externe Sachverständige, sachver-ständige Zeugen, Berufsrichter, ehrenamtliche und hauptamtliche Richter sowie Ge-richtsbedienstete ihre Aufmerksamkeit anderen – teilweise auch wichtigeren – Ange-legenheiten gar nicht, erst später bzw. nicht im selben Umfang widmen. Sie sind schlechterdings mit der Erledigung zahlreicher und ermittlungsintensiver Angele-genheiten des Schwerbehindertenrechts befasst. Gerade auch deshalb ist die durchschnittliche erstinstanzliche Verfahrensdauer mit 11,9 Monaten im Jahr 2017 (bezogen auf alle Sozialgerichte des Bundeslandes und alle Sachgebiete) weiterhin unangemessen lang geblieben für eine Gerichtsbarkeit, welche in den ihr anvertrau-ten Angelegenheiten existentieller Bedeutung schnellen Rechtsschutz gewährleis-ten muss, um dem Justizgewährleistungsanspruch aus Art. 19 Abs. 4 GG zu genü-gen. Dies wäre ihr besser und öfter möglich, wenn die Versorgungsverwaltung ihre Aufgaben angemessen erfüllte, anstatt die Sozialgerichtsbarkeit zur Senkung eige-ner Kosten systematisch auszunutzen. Gegen die Zweckmäßigkeit der Widerherstellung der verfassungskräftig konzipierten Aufgabenverteilung (zwischen der für die sozialmedizinischen Ermittlungen und Be-wertungen originär zuständigen Versorgungsverwaltung einerseits und der zur Ent-scheidungsprüfung berufenen Sozialgerichtsbarkeit andererseits) kann insofern ge-rade nicht eingewandt werden, dass Dergleichen für die Staatskasse noch kostenin-tensiver wäre, weil dieselben Antragsteller erst auf Veranlassung der Behörden und anschließend zusätzlich auf Veranlassung der Gerichte begutachtet würden. Die Auswertung der von der Kammer beigezogenen Daten zeigt im Gegenteil, dass die Rechtssuchenden in Angelegenheiten des Schwerbehindertenrechts in einer Viel-zahl von Fällen nach Abschluss für sie nicht vollumfänglich erfolgreicher medizini-scher Ermittlungen bereitwillig von einer weiteren Rechtsverfolgung absehen. So ist es zwischen 2014 bis 2018 in 1.414 Verfahren (bzw. 33 % aller Verfahren) zu Klage-rücknahmen und zu nur 852 (20 %) klageabweisenden Entscheidungen des Ge-richts gekommen ist. Diese Zahlen tragen nach Meinung der Kammer die Einschät-zung, dass im Falle einer ordnungsgemäßen Sachverhaltsaufklärung durch den Be-klagten eine Befassung des Sozialgerichts Karlsruhe in einer Vielzahl der Fälle überhaupt nicht erfolgt wäre bzw. nicht mehr erfolgen wird, weshalb hierdurch hohe Aufwendungen für die Landeskasse eingespart werden bzw. die vorhandenen Res-sourcen für eine schnellere und bessere Sozialrechtsprechung auf anderen Rechtsgebieten freiwerden, sobald Menschen mit Behinderung nicht regelmäßig den Rechtsweg zur Durchsetzung ihrer Ansprüche beschreiten werden müssen bzw. Anlass zu dieser Annahme haben, weil der Beklagte insofern fast jeden zwei-ten Rechtsstreit teilweise verliert.

Nach alldem ist jedenfalls im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Sozialgerichts Karlsruhe in allen Streitigkeiten des Schwerbehindertenrechts, in denen im Einzelfall nach Art und Umfang noch als erheblich anzusehende sozialmedizinische Ermitt-lungen über Art und Ausmaß behinderungsbedingter Teilhabeeinschränkungen nö-tig sind, bevor in der Sache entschieden werden kann, bis zur Beseitigung des lang-jährigen diskriminierenden und rechtsstaatswidrigen Ermittlungsdefizits der Landes-versorgungsverwaltung die Sachdienlichkeit der Zurückverweisung an den Beklag-ten im Sinne des § 131 Abs. 5 SGG zu bejahen, weil diese dem öffentlichen Interes-se an einer verfassungsmäßigen Verwaltung, dem Interesse beider Beteiligten an der Beschleunigung des Verfahrens und dem pekuniären Interesse des Beklagten an einem möglichst niedrigen Kostenaufwand dienen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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