S 44 KR 345/02

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Dortmund (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
44
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 44 KR 345/02
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 KR 139/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 15.04.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.06.2002 verurteilt, die Klägerin von den Kosten der selbstbeschafften häuslichen Krankenpflege in Form von 2x täglichen Medikamentengaben in der Zeit vom 01.04.2002 - 30.06.2002 in Höhe von 892,42 EUR freizustellen. Die Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Freistellung von Kosten für eine selbstbeschaffte häusliche Krankenpflege in Form von Medikamentengaben. Die am geborene und bei der Beklagten krankenversicherte Klägerin steht seit dem Jahr 2001 unter Betreuung. Im streitgegenständlichen Zeitraum lebte sie gemeinsam mit ihrem Ehemann in einem Haushalt. Sie bezog Leistungen nach der Pflegestufe l von der Pflegeversicherung. Eine Begutachtung der Klägerin zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit im Juli 2000 ergab leichte Einschränkungen des Kurzzeitgedächtnisses. Der Ehemann der Klägerin ist ebenfalls pflegebedürftig, bezieht Leistungen nach der Pflegestufe I von der Pflegeversicherung und steht ebenfalls unter Betreuung. Die ihm verordneten Medikamente kann er nicht allein einnehmen. Im streitgegenständlichen Zeitraum suchte der beauftragte Pflegedienst zweimal täglich den Haushalt auf und richtete die Medikamente. Im März 2002 verordnete der behandelnde Facharzt für Allgemeinmedizin für die Zeit vom 01.04.2002 bis zum 30.06.2002 häusliche Krankenpflege zur Sicherung des ärztlichen Behandlungserfolgs in Form des Herrichtens und Verabreichens von Medikamenten zweimal täglich. Als verordnungsrelevante Diagnosen gab er an; Herzinsuffizienz, HOPS, Zustand nach chronisch-ischämischer Herzerkrankung sowie Synkopenneigung. Er wies zudem auf eine Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit der Klägerin hin. Die Beklagte erteilte unter dem 15.04.2002 einen Bescheid, wonach die ver¬ordneten Medikamentengaben nicht gesondert durch die Krankenversicherung vergütet werden könnten. Die Klägerin erhalte bereits Leistungen der Pflege¬versicherung in Form der Hilfe bei der mundgerechten Nahrungszubereitung/ Nahrungsaufnahme. Eine gesonderte Vergütbarkeit durch die Krankenversicherung entfalle daher aufgrund des Urteils des Bundessozialgerichts vom 30.10.2001, 8 3 KR 2/01 R. Es bestehe objektiv notwendig ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang zwischen den Leistungen der Pflegeversicherung und der Medikamentengabe. Dagegen legte der Betreuer der Klägerin Widerspruch ein. Die Beklagte hielt eine Anfrage bei Sie informierte ihn in diesem Zusammenhang über das zitierte Urteil des Bundessozialgerichts und stellte ihm folgende Frage: "Sollen alle verordneten Medikamente im zeitlichen Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme eingenommen werden?". Das Anschreiben der Beklagten enthielt die Möglichkeit, hierzu die Alternativen ja oder nein anzukreuzen ...bejahte die Frage. Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch daraufhin mit Bescheid vom 12.06.2002 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, es bestehe ein objektiv notwendiger Zusammenhang im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Das ergebe sich zum einen daraus, dass die Einnahmesicherheit durch die Verbindung der Medikamentengaben mit der Nahrungsaufnahme gewährleistet werden solle. Zum anderen ergebe sich dies auch aus der von ... eingeholten Auskunft. Hiergegen richtet sich die am 12.07.2002 erhobene Klage, mit der die Frei¬stellung von Kosten der zwischenzeitlich selbstbeschafften Leistungen begehrt wird. Zur Begründung trägt die Klägerin im Wesentlichen vor, die medizinisch unstreitig notwendigen verordneten Behandlungspflegemaßnahmen seien nicht durch die gleichzeitige Gewährung von Leistungen durch die Pflegeversicherung ausgeschlossen. Dies ergebe sich bereits aus der Rechtsprechung des Bundes¬sozialgerichts in seinen Urteilen vom 30.03.2000 (B 3 KR 11/99 R; 14/99 R und 23/99 R). Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts in seinem Urteil vom 30.10.2001 {B 3 KR 2/01 R), auf weiches sich die Beklagte berufe. Zwischen den verordneten Medikamentengaben und den Leistungen der Pflegeversicherung bestehe kein derart enger notwendiger zeitlicher Zusammenhang wie ihn das Bundessozialgericht zwischen dem An- und Auskleiden und dem An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen gesehen habe. Es müsse zudem berücksichtigt werden, dass die Medikamenten¬gaben weder tatsächlich zeitgleich mit der Hilfe bei der Nahrungsaufnahme Sicherung eine Anrechnung von Zeiten für die Medikamentengaben erfolge. Zur Stützung des Vortrags hat die Klägerin die Rechnungen über die noch offenstehenden Kosten sowie die entsprechenden Pflegenachweise des Pflege-dienstes vorgelegt. Die Zahlung ist zunächst gestundet worden, so dass eine Freistellung von Kosten begehrt wird. Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 15.04.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.06.2002 zu verurteilen, die Klägerin von den Kosten der selbstbeschafften häuslichen Krankenpflege in Form von zweimal täglichen Medi¬kamentengaben in der Zeit vom 01.04.2002 bis zum 30.06.2002 in Höhe von 892,42 EUR freizustellen. Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Die Beklagte bestreitet weder die medizinische Notwendigkeit der verordneten Medikamentengaben noch das Fehlen eines Ausschlusstatbestandes im Sinne des § 37 Abs. 3 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V). Auch sie geht davon aus, dass der im gemeinsamen Haushalt lebende Ehegatte der Klägerin die Leistungen nicht übernehmen konnte. Sie ist jedoch der Auffassung, die Voraussetzungen für einen Ausschluss einer gesonderten Vergütbarkeit zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung im Sinne des BSG-Urteils vom 30.10.2001 (B 3 KR 2/01 R) lägen vor. Aus medizinischen Gründen stehe die Maßnahme der Behandlungspflege in einem notwendigen zeitlichen Zusammenhang mit den Leistungen der Pflegeversicherung. Dies ergebe sich insbesondere aus den Angaben von Das Gericht hat Stellungnahmen zum Zusammenhang zwischen den verordneten Medikamentengaben und der Nahrungsaufnahme von. eingeholt. Dieser teilte u.a. Folgendes mit: "Die Patientin benötigt 1. Melperon: Dieser Wirkstoff sollte am besten nach einer Nahrungsaufnahme oder vor dem Schlafengehen eingenommen werden. Dabei ist die Einnahme von Kaffee, Tee oder Milch zu meiden. 2. Acetylsalicyslsäure (ASS)(Aspirin): ASS sollte nicht nüchtern, sondern nach einer Nahrungsaufnahme mit reichlich Flüssigkeit eingenommen werden. 3. Triamteren und Hydrochlorothiazid: Diese Tabletten sollten unzerkaut nach einer Nahrungsaufnahme eingenommen werden." Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den Inhalt der von der Beklagten beigezogenen Verwaltungs¬akte. Beide Akten lagen in der mündlichen Verhandlung vor und waren Gegen¬stand der Erörterungen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig und begründet. Die Klägerin ist durch den angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 15.04.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.06.2002 beschwert im Sinne von § 54 Abs. 2 S. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Die Beklagte hat die Kostenübernahme bzw. Kostenerstattung für die zwischenzeitlich selbstbeschafften Leistungen zu Unrecht abgelehnt. Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Freistellung von den Kosten der selbstbeschafften häuslichen Krankenpflege auf der Grundlage des § 13 Abs. 3 SGB V. Der nach seinem Wortlaut nur auf die Kostenerstattung gerichtete Leistungsanspruch des § 13 Abs. 3 SGB V beinhaltet nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts als Minus auch einen Anspruch auf Freistellung von gestundeten Kosten (vgl. nur die bereits oben zitierten Urteile des Bundessozialgerichts). Die Tatbestandsvoraussetzungen der zweiten Alternative der Regelung sind erfüllt. Danach besteht ein Anspruch auf Erstattung der Kosten für eine selbstbeschaffte Leistung in der entstandenen Höhe, wenn die Leistung notwendig war und die Beklagte die Leistung zuvor zu Unrecht abgelehnt hat. Die Beklagte hatte die Gewährung von Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 Abs. 2 S. 1 SGB V als Sachleistung zu Unrecht abgelehnt. Nach § 37 Abs. 2 S. 1 SGB V erhalten Versicherte in ihrem Haushalt oder ihrer Familie als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist. Dass die Klägerin einen grundsätzlichen Anspruch auf die verordneten Leistungen der häuslichen Krankenpflege auf dieser Grundlage gegen die Beklagte hat, ist zwischen den Beteiligten unstreitig und steht auch außer Frage. Ebenso wenig steht dem Anspruch der Klägerin der Ausschlusstatbestand des § 37 Abs. 3 SGB V entgegen, da der in dem gemeinsamen Haushalt lebende Ehegatte die Leistungen nicht übernehmen konnte. Der Anspruch ist auch nicht allein deswegen ausgeschlossen, weil die Klägerin pflegebedürftig ist und Leistungen von der Pflegekasse bezieht auch wenn die Leistungen zeitgleich erbracht werden sollten (vgl. hierzu die Urteile des Bundessozialgerichts vom 30.03.2000, 3 KR 11/99 R, 14/99 R und 23/99 R). Letztlich ist der Anspruch der Klägerin auf die begehrten Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach Auffassung der Kammer auch nicht deswegen ausgeschlossen, weil die Behandlungspflegemaßnahmen bereits bei der Bewilligung der Leistungen der Pflegeversicherung berücksichtigt worden sind und insofern eine zusätzliche Leistungsgewährung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung nicht mehr notwendig im Sinne des § 12 Abs. 1 SGB V ist (vgl. hierzu das Urteil des Bundessozialgerichts vom 30.10.2001, B 3 KR 2/01 R). Die Gewährung von Leistungen der häuslichen Krankenpflege ist vielmehr notwendig, weil entgegen der Auffassung der Beklagten die Voraus¬setzungen, für eine Leistungseinschränkung im Sinne des Urteils des Bundes¬sozialgerichts vom 30,10.2001 (B 3 KR 2/01 R} nicht erfüllt sind. Die fehlende Notwendigkeit von Leistungen der häuslichen Krankenpflege setzt zunächst voraus, dass die unstreitig notwendigen Behandlungspflegemaßnahmen bei der Feststellung des Leistungsanspruchs gegen die Pflegeversicherung berücksichtigt worden sind. Bereits hieran fehlt es.

Nach § 14 Abs. 1 des Elften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB XI) sind pflegebedürftig im Sinne des SGB XI solche Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer zumindest in erheblichem Maße der Hilfe bedürfen. Zu berücksichtigen sind dabei ausschließlich der Umfang des Pflegebedarfs bei den gewöhnlich und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen, die § 14 Abs. 4 SGB XI in die Bereiche Körperpflege, Ernährung und Mobilität sowie den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung aufteilt. Für den Bereich der Ernährung differenziert die gesetzliche Regelung des § 14 Abs. 4 SGB XI in Ziffer 2 zwischen dem mundgerechten Zubereiten und der Aufnahme der Nahrung. Maßgebend ist dabei allein der äußere Ablauf der Verrichtungen; es kommt nicht entscheidend auf das angestrebte Ziel an. Dementsprechend sind nicht umfassend alle Maßnahmen mit einzubeziehen, die im konkreten Einzelfall im weitesten Sinn dem Ernährungsvorgang zugeordnet werden können. Angerechnet werden kann danach vielmehr nur die Hilfe bei der Nahrungsaufnahme selbst und die letzte Vorbereitungsmaßnahme, soweit eine solche nach Fertigstellung der Mahlzeit krankheits- oder behinderungsbedingt erforderlich ist. Das schließt sogar eine Einbeziehung von Hilfemaßnahmen aus, die dazu dienen, die Verträglichkeit der Nahrung durch Verabreichung von Medikamenten sicher zu stellen, es sei denn, die Hilfsmaßnahmen stehen zwangsläufig im Zusammenhang mit einer der Katalogverrichtungen des § 14 Abs. 4 SGB XI (vgl. hierzu die Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 19.02.1998, B 3 P 3/97 R). Die Versorgung eines Kranken oder Behinderten mit Medikamenten, die nicht notwendig mit der Verrichtung Nahrungsaufnahme verbunden ist, zählt danach nicht zur Grundpflege im Sinne des Pflegeversicherungsrechts. Ein notwendiger Zusammenhang der Medikamentengaben mit der Nahrungsaufnahme besteht jedoch im Falle der Klägerin nicht. Die Klägerin kann sämtliche verordneten Medikamente vielmehr auch unabhängig von der Nahrungsaufnahme einnehmen. Die ihr verordneten Medikamente dienen nicht einmal der Sicherstellung der Verträglichkeit der Nahrung. Aus ärztlicher Sicht ist ihr lediglich deswegen empfohlen worden, die Medikamente nach einer Nahrungsaufnahme einzunehmen, weil dies auf Dauer der Gesundheit zuträglicher ist. Dies genügt nach Auffassung der Kammer nicht zur Feststellung eines objektiv notwendigen Zusammenhangs zwischen der Katalogverrichtung der Nahrungsaufnahme und der Behandlungspflegemaßnahme der Medikamentengabe.

Auf eine genaue Auslegung des zweiten Kriteriums des BSG-Urteils vom 30.10.2001 (B 3 KR 2/01 R) hinsichtlich des objektiven zeitlichen Zusammen- hangs kommt es insofern nicht mehr an, weil es bereits am ersten Kriterium der Anrechnung der Behandlungspflegemaßnahmen im Bereich der, gesetzlichen Pflegeversicherung fehlt. Im Übrigen wird aber das Urteil des Bundessozialgerichts vom 30.10,2001 (B 3 KR 2/01 R) so zu verstehen sein, dass es am objektiv notwendigen zeitlichen Zusammenhang gerade dann fehlt, wenn die notwendige Maßnahme keine Pflegemaßnahme im Sinne des SGB XI, sondern eine medizinisch notwendige Behandlungspflegemaßnahme darstellt. Anderenfalls käme man zum vom Gesetzgeber angesichts der in § 13 Abs. 2 und 34 Abs. 2 S. 1 SGB XI getroffenen Regelungen nicht gewollten Ergebnis, dass eine Leistungs¬gewährung trotz unstreitig medizinischer Notwendigkeit weder zu Lasten der gesetzlichen Pflegeversicherung noch der gesetzlichen Krankenversicherung erfolgen könnte. Ein Anspruch ergibt sich entgegen der Auffassung der Klägerseite nicht allein bereits aufgrund der Tatsache des Vorliegens einer ärztlichen Verordnung über die Leistungen der Behandlungspflege. Eine ärztliche Verordnung stellt keine bindende Leistungsentscheidung des Arztes für die Krankenkasse dar (vgl. hierzu nur die Entscheidung des BSG vom 30.10.2001, B 3 KR 2/01 R). Eine ärztliche Verordnung stellt lediglich ein Indiz für die medizinische Not¬wendigkeit der verordneten Leistungen dar. Die Notwendigkeit der Medikamentengaben ist im Fall der Klägerin jedoch nicht streitig. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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