S 9 AS 417/15

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Kassel (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 9 AS 417/15
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 334/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid des Beklagten vom 30.4.2015 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 8.5.2015, 17.6.2015 und 24.7.2015 wird abgeändert, der Widerspruchsbescheid vom 23.7.2015 aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, der Klägerin auch für den Zeitraum 1.4.2015 bis 23.4.2015 Leistungen nach dem SGB II in gesetzlichem Umfang zu gewähren.

Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu tragen.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II für die Zeit vom 1.4.2015 bis 23.4.2015.

Die 1971 auf Kuba geborene Klägerin ist Mutter von zwei 1997 und 1999 geborenen Kindern. Seit 1999 ist sie mit einem 1947 geborenen Deutschen verheiratet und mittlerweile deutsche Staatsangehörige. Ihr Ehemann bezieht Altersrente. 2013 beantragte die Familie erstmals Leistungen nach dem SGB II, die ihnen aber wegen mangelnder Hilfebedürftigkeit abgelehnt wurden. Die Klägerin erhielt in der Folge Kinderzuschlag (KIZ) von der Familienkasse. Den Weiterbewilligungsantrag lehnte die Familienkasse mit Bescheid vom 19.3.2015 ab und verwies auf das Jobcenter. Am 9.4.2015 stellte der Ehemann der Klägerin im Rahmen einer persönlichen Vorsprache beim Beklagten Antrag auf Leistungen nach dem SGB II, wobei er angab, dass sich die Klägerin derzeit in Kuba aufhalte und am 24.4.2015 zurückkehren werde. Mit an die Klägerin adressierten Bescheid vom 30.4.2015 gewährte der Beklagte (im Hinblick auf die Kosten der Unterkunft und Heizung vorläufig) Leistungen nach dem SGB II für die beiden Kinder ab 1.4.2015 bis 30.9.2015. Der Klägerin bewilligte der Beklagte - ohne dies zu begründen - Leistungen für die Zeit vom 24.4.2015 bis 30.9.2015. Dabei legte der Beklagte die Kosten der Unterkunft und Heizung für die Zeit vom 1.4.2015 bis 23.4.2015 auf drei Wohnungsnutzer um und ab 24.4.2015 auf vier Nutzer. Am 8.5.2015 legte der Ehemann der Klägerin Widerspruch ein mit der Begründung, dass für ihn die Ablehnung des KIZ-Antrages und damit die Erforderlichkeit der Meldung beim Jobcenter nicht absehbar gewesen seien. Er halte es nicht für gerechtfertigt, dies der Klägerin zum Nachteil werden zu lassen. Im Übrigen lägen Krankmeldungen für sie für April vor, sodass sie nicht zur Vermittlung zur Verfügung gestanden habe. Mit Änderungsbescheiden vom 8.5.2015 und 17.6.2015 justierte der Beklagte die Bewilligung von Kosten der Unterkunft und Heizung bzw. die Berücksichtigung von Wohngeld nach. Mit Schreiben vom 25.6.2015 fragte der Beklagte an, in welchem Zeitraum und zu welchem Zweck sich die Klägerin in Kuba aufgehalten habe. Laut Aktenvermerk des Beklagten äußerte die Klägerin in einer persönlichen Vorsprache am 13.7.2015, dass sie am 31.1.2015 in Kuba eingereist und am 24.4.2015 wieder ausgereist sei. Sie habe am 28.1.2015 einen Anruf bekommen, wonach ihr Vater auf der Intensivstation sei. Daraufhin habe sie am 29.1.2015 den Hinflug für den 31.1.2015 und den Rückflug für den 24.4.2015 gebucht. Ihr Vater sei dann vor ihrer Ankunft verstorben, die Beerdigung habe am 1.2.2015 stattgefunden. Mit Widerspruchsbescheid vom 23.7.2015 wies der Beklagte den Widerspruch mit der Begründung zurück, dass nach § 7 Abs. 4a SGB II Leistungsberechtigte keine Leistungen erhielten, wenn sie sich ohne Zustimmung des zuständigen Trägers außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereichs aufhielten und deshalb nicht für die Eingliederung in Arbeit zur Verfügung stünden. Eine vorherige Zustimmung liege nicht vor. Nur in begründeten Ausnahmefällen könne die Zustimmung auch nachträglich erteilt werden. Ein solcher liege nicht vor. Primärer Grund der Reise sei die Erkrankung des Vaters gewesen. Bei Antragstellung im April sei dieser bereits seit zwei Monaten verstorben gewesen und eine Ortsabwesenheit aus diesem Grund nicht mehr notwendig gewesen. Eine Abwesenheit von länger als sechs Wochen sei nur insgesamt ohne Leistungsgewährung möglich. Die Klägerin habe sich insgesamt zwölf Wochen in Kuba aufgehalten. Daher sei sie von Leistungen ausgeschlossen. Aufgrund Ausbildungsbeginns des ältesten Kindes hob der Beklagte mit Bescheid vom 24.7.2015 die Leistungsbewilligung an die Klägerin und ihre Familienmitglieder ab 1.8.2015 auf.

Am 10.8.2015 ist die Klage beim Sozialgericht Kassel eingegangen.

Die Klägerin ist der Meinung, dass der Beklagte eine nachträgliche Zustimmung zu erteilen habe, weil ihre Eingliederung in Arbeit nicht gefährdet gewesen sei. Sie behauptet unter Berufung auf vorgelegte Unterlagen, dass sie vom 23.3.2015 bis 25.4.2015 in Kuba krankgeschrieben gewesen und behandelt worden sei.

Die Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 30.4.2015 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 8.5.2015, 17.6.2015 und 24.7.2015 abzuändern, den Widerspruchsbescheid vom 23.7.2015 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin Leistungen nach dem SGB II auch für den Zeitraum 1.4.2015 bis 23.4.2015 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hält an seinen Entscheidungen im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren fest. Ergänzend verweist er auf die Intention des Gesetzgebers, missbräuchlichen Leistungsbezug aus dem Ausland verhindern zu wollen. Selbst unter Betrachtung des Monatsprinzips (§ 37 Abs. 2 S. 2 SGB II) habe die Abwesenheit der Klägerin drei Wochen überschritten. In der mündlichen Verhandlung am 16.2.2016 hat der Beklagte zusätzlich die Auffassung vertreten, dass für einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II zwingend eine persönliche Vorsprache zu erfolgen habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten und Unterlagen, insbesondere des weiteren Vorbringens der Beteiligten, wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Akte des Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand dieser Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.

Die Klage ist zulässig. Sie ist insbesondere als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 1 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft. Die Sachurteilsvoraussetzungen liegen vor.

Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 30.4.2015 in Form der Änderungsbescheide vom 8.5.2015, 17.6.2015 und 24.7.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.7.2015 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat auch im Zeitraum 1.4.2015 bis 23.4.2015 Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II.

Gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die
1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben,
2. erwerbsfähig sind,
3. hilfebedürftig sind und
4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben.

Diese Voraussetzungen werden von der Klägerin im Zeitraum April bis Juli 2015 nach Meinung beider Beteiligter und zur Überzeugung der Kammer erfüllt. Insbesondere ist der gewöhnliche Aufenthalt der Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland durch ihren knapp dreimonatigen Aufenthalt in Kuba nicht tangiert (vgl. BSG vom 19.10.2010 B 14 AS 50/10 R, zitiert nach juris).

Die Klägerin ist im Zeitraum 1.4.2015 bis 23.4.2015 auch nicht von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Ein solcher Ausschluss ergibt sich insbesondere nicht aus § 7 Abs. 4a SGB II. Dabei sind die vom Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen vom 24.3.2011 vorgenommenen Änderungen nicht in Kraft. Bis zum Inkrafttreten einer nach § 13 Abs. 3 SGB II erlassenen Rechtsverordnung gilt gemäß § 77 Abs. 1 SGB II die 2006 mit dem Fortentwicklungsgesetz als scharfe Sanktion des Leistungsausschlusses in das Gesetz aufgenommene Fassung des § 7 Abs. 4a SGB II (im Folgenden mit "a.F." bezeichnet). Danach erhält Leistungen nach dem SGB II nicht, wer sich ohne Zustimmung des persönlichen Ansprechpartners außerhalb des insbesondere in der Erreichbarkeits-Anordnung (EAO) vom 23.10.1997 (ANBA 1997, 1685), geändert durch die Anordnung vom 16.11.2001 (ANBA 2001, 1476), definierten zeit- und ortsnahen Bereiches aufhält; die übrigen Bestimmungen dieser Anordnung gelten entsprechend.

Gemäß § 3 Abs. 1 S. 1 EAO steht ein Aufenthalt außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereich der Verfügbarkeit bis zu drei Wochen im Kalenderjahr nicht entgegen, wenn das Arbeitsamt vorher seine Zustimmung erteilt hat. Nach S. 2 soll das Arbeitsamt in den ersten drei Monaten der Arbeitslosigkeit die Zustimmung nur in begründeten Ausnahmefällen erteilen. Gemäß S. 3 darf die Zustimmung jeweils nur erteilt werden, wenn durch die Zeit der Abwesenheit die berufliche Eingliederung nicht beeinträchtigt wird. Laut Abs. 3 kann in Fällen außergewöhnlicher Härten, die aufgrund unvorhersehbarer und für den Arbeitslosen unvermeidbarer Ereignisse entstehen, die Drei-Wochenfrist vom Arbeitsamt tageweise, höchstens um drei Tage verlängert werden. Gemäß Abs. 4 findet Abs. 1 keine Anwendung, wenn sich der Arbeitslose zusammenhängend länger als sechs Wochen außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereichs aufhalten will.

Die Voraussetzungen für einen Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 4a SGB II a.F. sind dem Wortlaut nach erfüllt. Die Klägerin hat sich ohne Zustimmung ihres persönlichen Ansprechpartners über drei Wochen außerhalb des zeit- und ortsnahen Bereiches aufgehalten. Dabei kann die Kammer an dieser Stelle dahinstehen lassen, ob auf den gesamten Zeitraum ihrer Abwesenheit (31.1.2015 bis 23.4.2015) oder nur auf den davon in den Leistungsbezug fallenden Zeitraum (1.4.2015 bis 23.4.2015) abzustellen ist. Selbst bei Abstellen auf letzteren Zeitraum war die Klägerin länger als drei Wochen ortsabwesend. Nicht abzustellen ist nach Auffassung der Kammer aufgrund der Regelung des § 37 Abs. 2 S. 2 SGG auf die Zeit von Antragstellung am 9.4.2015 bis 23.4.2015.

Einen Anspruch auf nachträgliche Zustimmung zur Abwesenheit hat die Klägerin nicht.

Eine nachträgliche Zustimmung ist im Gesetz lediglich vorgesehen, wenn der Antrag auf Zustimmung vor Abreise gestellt und nur nicht rechtzeitig vom Beklagten bearbeitet wurde oder aber deshalb nicht gestellt werden konnte, weil der Beklagte am Tag der beabsichtigten Antragstellung nicht geöffnet hatte. Im Übrigen ist bei fehlender Antragstellung nach dem Gesetz ohne Relevanz, ob die Zustimmung zu erteilen gewesen wäre oder nicht (vgl. LSG NRW vom 6.4.2011 – L 19 AS 2044/10 NZB; jurisPK, SGB II, § 7 Rn. 271, alle zitiert nach juris).

Allerdings lässt die Bundesagentur für Arbeit in Ziff. 6.3.4 ihrer "Fachlichen Hinweisen" zu, dass in begründeten Ausnahmefällen auch nachträglich eine Zustimmung erteilt werden könne. Bei den fachlichen Hinweisen handelt es sich nicht um Regelungen mit Normcharakter, sondern lediglich um interne Hinweise und damit um reines Verwaltungsbinnenrecht, welches die Gerichte nicht bindet (vgl. LSG S.-A. vom 10.12.2014 – L 5 AS 997/13 B ER, zitiert nach juris). Jedoch ergibt sich aus ihnen eine Rechtswirkung im staatlichen Innenbereich, die zur Bindung der innerhalb der Verwaltungsorganisation nachgeordneten Behörden führt, weil damit die durch die Leistungsträger zu treffende Ermessensentscheidung weitgehend determiniert ist (vgl. SG Leipzig vom 16.6.2015 – S 24 AS 2264/14, zitiert nach juris). Bei der gerichtlichen Kontrolle von Ermessensentscheidungen sind die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit auf die Prüfung von Ermessensfehlern beschränkt, d.h. auf die Prüfung, ob der Leistungsträger seiner Pflicht zur Ermessensbetätigung nachgekommen ist (Ermessensnichtgebrauch), mit seiner Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des ihm eingeräumten Ermessens überschritten, d.h. eine nach dem Gesetz nicht zugelassene Rechtsfolge gesetzt (Ermessensüberschreitung) oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (Abwägungsdefizit und Ermessensmissbrauch) hat (vgl. Hess. LSG vom 23.11.2012, L 5 R 536/11, zitiert nach beck-online; KasselerKommentar, SGB X, § 39 Rn. 9-14). Es besteht nur ein Anspruch auf pflichtgemäße Ermessensentscheidung, jedoch grundsätzlich - von den Fällen der Ermessensreduktion auf Null abgesehen - kein Anspruch auf eine bestimmte Entscheidung des Beklagten (vgl. Hess. LSG vom 23.11.2012, aaO, mwN). Das Gericht darf bei der Ermessensüberprüfung nicht sein eigenes Ermessen an die Stelle des Verwaltungsermessens setzen.

Ausgehend von diesen Grundsätzen erweisen sich die Entscheidungen des Beklagten als fehlerhaft. Der Beklagte hat zwar - jedenfalls im Widerspruchsbescheid vom 23.7.2015 - ausdrücklich geprüft, ob ein begründeter Ausnahmefall vorliegt, der eine nachträgliche Zustimmung ermöglicht. Dass er dabei primär auf den Zweck der Reise (Erkrankung des Vaters) abstellt, der bereits Anfang Februar weggefallen ist, ist aus Sicht der Kammer nicht zu beanstanden. Allerdings hat der Beklagte nach Auffassung der Kammer mit der Zeit vom 31.1.2015 bis 23.4.2015 nicht den richtigen Zeitraum ins Auge genommen. Es stand dem Beklagten nach Auffassung der Kammer nicht zu, die Zeit vor dem 1.4.2015, d.h. vor dem Moment, auf den der Leistungsantrag vom 9.4.2015 gemäß § 37 Abs. 2 S. 2 SGB II zurückwirkt, zu bewerten. Da jedoch auch der Zeitraum 1.4.2015 bis 23.4.2015 oberhalb der generell zustimmungsfähigen drei Wochen liegt, vermag die Kammer jedenfalls keine Ermessensreduktion auf Null zu sehen. Damit kommt unter dem Gesichtspunkt der nachträglichen Zustimmung im vorliegenden Fall maximal eine Verpflichtung des Beklagten zur Neubescheidung in Betracht, mit der dem klägerischen Begehren nicht vollständig entsprochen wäre.

Aus Sicht der Kammer ist der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4a SGB II a.F. auf den Fall der Klägerin jedoch nicht anwendbar.

Dabei schließt sich die Kammer allerdings ausdrücklich nicht der Auffassung der Klägerin an, dass der Leistungsausschluss bei ihr nicht greife, weil wegen Krankheit ihre Vermittlung in Arbeit nicht gefährdet gewesen sei (siehe dazu LSG Hamburg vom 23.5.2013 – L 4 AS 67/12; SG Berlin vom 21.8.2013 – S 205 AS 5324/11; Hauck/Noftz, SGB II, § 7 Rn. 259, alle zitiert nach juris).

Die Formulierung "und deshalb nicht für die Eingliederung in Arbeit stehen" findet sich in dem 2015 gültigen § 7 Abs. 4a S. 1 SGB II a.F. nicht, sondern hat erst in die bislang nicht in Kraft getretene Version der Norm vom 24.3.2011 Eingang gefunden. Der Wortlaut des 7 Abs. 4a S. 1 SGB II a.F. stützt damit eine teleologische Reduktion nicht. Für eine solche Reduktion kann aus Sicht der Kammer nur die Begründung aus dem Gesetzgebungsverfahren streiten: "Insbesondere bei einem länger andauernden Aufenthalt im Ausland, bei dem dennoch der gewöhnliche Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland bestehen bleibt, ist die dort (in § 31) vorgesehene Absenkung um lediglich 30 Prozent der Regelleistung nicht geeignet, den Hilfebedürftigen zu einer Rückkehr nach Deutschland und der aktiven Mitwirkung an seiner Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu bewegen. Um die missbräuchliche Inanspruchnahme von Fürsorgeleistungen bei einem nicht genehmigten vorübergehenden auswärtigen Aufenthalt innerhalb und außerhalb der Bundesrepublik Deutschland zu vermeiden, sollte künftig der Anspruch auf Leistungen bei einem Verstoß gegen den in Abs. 4a formulierten Grundsatz entfallen" (BT-Drs. 16/1996, S. 26).

Die Klägerin war jedoch zur Überzeugung der Kammer nicht infolge Krankheit in ihrer Vermittlung in Arbeit gefährdet.

Die Dauer des Auslandsaufenthaltes der Klägerin bis zum 23.4.2015 war nicht auf eine Erkrankung zurückzuführen. Die Klägerin hat von vorneherein am 29.1.2015 den Rückflug für den 23.4.2015 gebucht. Daran hat sich durch die von ihr angegebene Erkrankung nichts geändert. Ursache ihrer Abwesenheit bis 23.4.2015 war aus Sicht der Kammer nicht die von der Klägerin geltend gemachte Erkrankung, sondern ihre ursprüngliche Planung.

Zur Überzeugung der Kammer handelt es sich bei der geltend gemachten Erkrankung damit um einen Fall der überholenden Kausalität. Den Ausgangspunkt für die so umschriebene Fragestellung bilden auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts die Fälle, in denen der durch ein Ereignis (a) tatsächlich verursachte konkrete Schaden unabhängig von diesem Ereignis auch durch ein anderes (b) bewirkt worden wäre, wenn er nicht schon durch jenes (a) herbeigeführt worden wäre (vgl. BSG vom 28.6.1968 – 9 RV 604/65, zitiert nach beck-online). Die Klägerin macht bereits selbst nicht geltend, dass sie früher wieder nach Kassel zurückgekehrt wäre, wenn sie nicht erkrankt wäre.

Schließlich hat die Klägerin auch nicht zur Überzeugung der Kammer nachgewiesen, dass sie tatsächlich aufgrund Erkrankung zur Vermittlung in Arbeit nicht zur Verfügung stand.

Dass die Klägerin im Zeitraum 1.4.2015 bis 23.4.2015 arbeitsunfähig erkrankt war, ist nicht nachgewiesen. Die die Klägerin in Kuba behandelnden Ärzte haben auf den von der Klägerin vorgelegten "Certificados Médicos" die darin explizit gestellte Frage nach Arbeitsunfähigkeit unbeantwortet gelassen.

Auch schließt nach Auffassung der Kammer das Bestehen von Arbeitsunfähigkeit nicht grundsätzlich die Wahrnehmung von Terminen beim Leistungsträger oder die Vornahme von Bewerbungsbemühungen aus. Arbeitsunfähigkeit liegt vor, wenn der Versicherte wegen Krankheit nicht oder nur mit der Gefahr, seinen Zustand zu verschlimmern, fähig ist, seine bisherige oder eine ähnlich geartete Erwerbstätigkeit auszuüben. Maßstab und Bezugspunkt für die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit ist grundsätzlich die vom Leistungsempfänger im Zeitpunkt der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit ausgeübte Erwerbstätigkeit. Das Aufsuchen des Leistungsträgers zur Erfüllung der Meldezwecke nach § 59 SGB II iVm § 309 Abs. 2 SGB III oder die Erstellung von Bewerbungen kann jedoch nicht mit der Ausübung einer regelmäßig achtstündigen Erwerbstätigkeit verglichen werden (vgl. BSG vom 9.11.2010 – B 4 AS 27/10 R, zitiert nach juris).

Aus den vorgelegten Attesten ergibt sich auch im Übrigen nicht, dass die Klägerin an der Wahrnehmung von Terminen oder Bewerbungsversuchen gehindert gewesen wäre.

Die Notiz in einem Teil der "Certificado Médico", dass keine Anstrengung und kein Stress zu erfolgen habe, bedeutet aus Sicht der Kammer nicht, dass die Klägerin keinerlei Termine wahrnehmen oder Bewerbungsbemühungen anstellen konnte. Die Klägerin war jedenfalls faktisch in der Lage, einen mehrstündigen Flug von Kuba nach Deutschland zu bewältigen.

Letztlich kann die Kammer dies aber dahinstehen lassen und sind weitere Ermittlungen zum Gesundheitszustand der Klägerin im April 2015 entbehrlich.

Aus Sicht der Kammer greift der Leistungsausschluss frühestens ab Stellung eines Leistungsantrages (vgl. SG Halle vom 9.4.2014 – S 17 AS 4086/13 ER, zitiert nach juris; [ohne Begründung] von einem Greifen ab Leistungsbewilligung ausgehend BeckOK, SGB II, § 7 Rn. 37, zitiert nach beck-online; a.A. wohl [ebenfalls ohne Begründung] Gagel, SGB II, § 7 Rn. 84c, zitiert nach beck-online). Abs. 4a stellt keine Leistungsvoraussetzung dar in dem Sinne, dass sich Leistungsberechtigte in einem bestimmten zeit- und ortsnahen Bereich aufhalten müssen (vgl. BSG vom 23.5.2012 B 14 AS 133/11 R, zitiert nach juris). Die Erreichbarkeit ist nicht leistungsbegründend (vgl. BSG vom 16.5.2012 – B 4 AS 166/11 R, zitiert nach juris; Hauck/Noftz, aaO, Rn. 259). Der Gesetzgeber hat die Voraussetzungen für Leistungen abschließend in Abs. 1 bestimmt (vgl. BSG vom 23.5.2012, aaO).

Im Zeitpunkt ihrer Abreise hatte die Klägerin keinen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II gestellt und es ist für die Kammer glaubhaft, dass sie auch nicht beabsichtigte, einen solchen zu stellen. Für die Kammer ist nach den Abläufen seit 2013 nachvollziehbar, dass die Klägerin im Zeitpunkt ihrer Abreise am 31.1.2015 davon ausging, weiterhin KIZ von der Familienkasse zu erhalten, was den Bezug von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen hätte.

Werden jedoch keine Leistungen nach dem SGB II beantragt oder auch nur deren Beantragung angedacht, besteht aus Sicht der Kammer keine Notwendigkeit eines Reisewilligen, Kontakt zum Jobcenter zu suchen.

Auch wenn erst in der Fassung vom 24.3.2011 Eingang in den Wortlaut von § 7 Abs. 4a S. 1 SGB II gefunden hat, dass die Regelungen zur Ortsabwesenheit nur auf "erwerbsfähige Leistungsberechtigte" Anwendung findet, ist dies bereits zur aktuell gültigen Fassung anerkannt (vgl. LSG B.-W. vom 14.7.2010 – L 3 AS 3552/09, zitiert nach juris; jurisPK, aaO, Rn. 267).

Abgeleitet wird die Nichtanwendbarkeit von § 7 Abs. 4a S. 1 SGB II a.F. teilweise aus dem Wortlaut: nur erwerbsfähige Leistungsberechtigte haben einen persönlichen Ansprechpartner, Bezieher von Sozialgeld nicht (vgl. LSG B.-W. vom 14.7.2010, aaO). Dies überzeugt die Kammer allerdings nicht abschließend, da ein persönlicher Ansprechpartner nicht stets benannt bzw. direkt nach Antragstellung noch nicht benannt ist, und generell jeder zur Erteilung von Zustimmungen zur Ortsabwesenheiten befugte Mitarbeiter des Jobcenters ausreichend ist (vgl. jurisPK, aaO, Rn. 272).

Zur "Leistungsberechtigung" gehört gemäß § 37 Abs. 1 S. 1 SGB II jedoch die Antragstellung. Entgegen der vom Beklagen in der mündlichen Verhandlung vom 16.2.2016 vertretenen Auffassung hat diese auch nicht stets persönlich zu erfolgen. Eine solche Verpflichtung vermag die Kammer weder dem SGB II noch den anderen Sozialgesetzbüchern zu entnehmen. Grundsätzlich sind bestimmte Formen bei Antragstellung nicht einzuhalten (vgl. jurisPK, aaO, SGB I, Rn. 30).

Mit der Antragstellung, aber auch erst dann, entstehen allerdings Mitwirkungspflichten (vgl. SG Halle vom 9.4.2014, aaO). § 61 SGB I sieht vor, dass derjenige, der Sozialleistungen beantragt oder erhält, auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers zur mündlichen Erörterung des Antrags oder zur Vornahme anderer für die Entscheidung über die Leistung notwendiger Maßnahmen persönlich erscheinen soll. Konkreter hat der Beklagte nach Eingang eines Antrages auf Leistungen nach dem SGB II die Möglichkeit, eine Meldeaufforderung nach § 59 SGB II iVm § 309 SGB III auszusprechen, deren Nichtbefolgung ggf. nach § 32 Abs. 1 S. 1 SGB II eine Absenkung des Regelbedarfs um 10 v.H. zur Folge hat. Bei mehreren in kurzen Abständen eintretenden Meldeversäumnissen können sich diese addieren. Ein alternatives Vorgehen des Leistungsträgers nach § 60 SGB I ist aus Sicht der Kammer zumindest andenkbar (vgl. eine solche Möglichkeit bejahend und den Streitstand skizzierend jurisPK, aaO, § 59 Rn. 52).

Mit dem Entstehen von Mitwirkungspflichten im Zeitpunkt der Antragstellung ist aus Sicht der Kammer der Intention des Gesetzgebers, die missbräuchliche Inanspruchnahme von Fürsorgeleistungen aus dem Ausland zu vermeiden, hinreichend Rechnung getragen.

Im vorliegenden Fall, in dem die Klägerin im selben Monat in dem ihr Ehemann den Leistungsantrag bei dem Beklagten gestellt hat, nach Kassel zurückgekehrt ist, spricht gegen die Anwendbarkeit des Leistungsausschlusses schließlich aus Sicht der Kammer auch der Gedanke des § 37 Abs. 2 S. 2 SGB II. Danach wirkt der Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes auf den Ersten des Monats zurück. Abhängig von Vermittlungsbemühungen gemacht hat der Gesetzgeber diese Rückwirkung nicht.

Nach alledem hat die Klägerin auch im Zeitraum 1.4.2015 bis 23.4.2015 Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Bei deren Auskehrung wird der Beklagte zu berücksichtigen haben, dass er - aus Sicht der Kammer zutreffend (vgl. BSG vom 19.10.2010, aaO; SG Koblenz vom 13.8.2014 - S 2 AS 573/13, zitiert nach juris; jurisPK, aaO, Rn. 282) - die Kosten der Unterkunft und Heizung nach dem Kopfteilprinzip auf die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft verteilt hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Sache selbst.

Für die Beteiligten bedurfte die Berufung gegen dieses Urteil der Zulassung, da der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,00 EUR nicht übersteigt (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG); die Kammer hat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Streitsache zugelassen.
Rechtskraft
Aus
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