B 3 P 2/03 B

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 10 P 89/00
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 P 42/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 P 2/03 B
Datum
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Krankenversicherungsunternehmen bedürfen vor dem BSG in Angelegenheiten der privaten Pflegeversicherung keines Prozessbevollmächtigten iS von § 166 Abs 2 SGG (Anschluss an BSG vom 8.7.2002 - B 3 P 3/02 R = SozR 3-1500 § 164 Nr 13).
Auf die Beschwerde der Beklagten wird die Revision gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. November 2002 wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.

Gründe:

I

Der 1928 geborene Kläger ist bei der beklagten Krankenversicherungs-AG gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit versichert. Seinen Antrag vom 30. November 1999 "auf Gewährung von Leistungen aus der Pflegeversicherung" lehnte die Beklagte nach Einholung eines Sachverständigengutachtens ab. Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Dezember 2000 laufend Leistungen nach Pflegestufe I der Versicherungsbedingungen in Höhe von DM 400,- zu zahlen, und die Klage im Übrigen abgewiesen (Urteil vom 25. Juni 2001). Das SG ist mit einem von ihm eingeholten Gutachten davon ausgegangen, dass ab Dezember 2000 eine Verschlimmerung des Gesundheitszustands eingetreten ist und die Pflegestufe I ab diesem Datum vorgelegen hat. Soweit die Beklagte das Fehlen eines Neuantrages wegen Änderung der Verhältnisse bemängele, sei bereits die Klageerhebung als "Dauer-Antragstellung" zu werten.

Einem vorsorglich wegen Änderung der Verhältnisse auf Pflegeleistungen nach Pflegestufe I ab 1. September 2001 gerichteten Neuantrag des Klägers gab die Beklagte statt. Die dementsprechend nur noch gegen die Verurteilung zur Gewährung von Pflegeleistungen nach Pflegestufe I für die Zeit vom 1. Dezember 2000 bis 31. August 2001 gerichtete Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen, ohne die Revision zuzulassen (Urteil vom 15. November 2002). Das LSG hat sich dabei - unter Bezugnahme auf das erstinstanzliche Urteil nach § 153 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) im Übrigen - auf ein von ihm eingeholtes Sachverständigengutachten gestützt, in dem ebenfalls eine Verschlimmerung des klägerischen Gesundheitszustands und das Vorliegen der Pflegestufe I ab 1. Dezember 2000 angenommen wird.

Mit ihrer - ohne Einschaltung eines Prozessbevollmächtigten iS von § 166 Abs 1, 2 SGG erhobenen - Nichtzulassungsbeschwerde macht die Beklagte hinsichtlich der Wertung einer Klage als "Dauer-Antragstellung" den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung geltend. Vor dem Bundessozialgericht (BSG) benötige sie keinen Prozessbevollmächtigten iS von § 166 Abs 1, 2 SGG, weil sie sich wie die "sozialen Pflegeversicherer" selbst qualifiziert vertreten könne. § 166 Abs 1 SGG sei wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz verfassungswidrig und diese Rechtsfrage nach Art 100 Abs 1 Grundgesetz (GG) dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vorzulegen.

II

Die Beschwerde ist zulässig. Insbesondere ist sie nicht bereits deshalb als unzulässig zu verwerfen, weil die Beschwerdeführerin nicht durch einen Prozessbevollmächtigten iS von § 166 Abs 1 und 2 SGG vertreten ist. Nach diesen Vorschriften müssen sich vor dem BSG die Beteiligten grundsätzlich durch bestimmte Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Eine ohne zugelassenen Prozessbevollmächtigten eingelegte Revision entbehrt der gesetzlichen Form und muss als unzulässig verworfen werden (§ 169 Satz 1 und 2 SGG). Für Nichtzulassungsbeschwerden gilt das entsprechend § 160a Abs 4 Satz 2 SGG. Ausgenommen von dem Vertretungszwang sind nach § 166 Abs 1 SGG lediglich Behörden sowie Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts. Die Beschwerdeführerin ist ein privates Versicherungsunternehmen in Form einer Aktiengesellschaft, die sich dem reinen Wortlaut der Vorschrift nach demgemäss durch einen Prozessbevollmächtigten iS von § 166 Abs 2 Satz 3 SGG (Rechtsanwalt) vertreten lassen müsste.

§ 166 Abs 1 SGG bedarf indessen einer verfassungskonformen Auslegung im Lichte von Art 3 GG mit der Folge, dass in Angelegenheiten der privaten Pflegeversicherung vor dem BSG auch Krankenversicherungsunternehmen (KVU) wie die Beklagte keinen Prozessbevollmächtigten benötigen. Ausgangspunkt ist dabei, dass sich die Rechtslage zur Kostenerstattung im Sozialgerichtsverfahren für KVU ab dem 2. Januar 2002 geändert hat und dass grundsätzlich das neue Recht anzuwenden ist, soweit ein Rechtsmittel nach Inkrafttreten des Gesetzes eingelegt worden ist (Art 19 6. SGG-ÄndG vom 17. August 2001, BGBl I, S 2144, 2158 - vgl zum folgenden Beschluss des Senats vom 8. Juli 2002, B 3 P 3/02 R = BSG SozR 31500 § 164 Nr 13 = Breithaupt 2002, 1652 f). Nach § 193 Abs 4 Satz 1 SGG aF waren lediglich "die Aufwendungen der Behörden, der Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts" nicht erstattungsfähig. Nach § 193 SGG idF von Art 1 Nr 66 6. SGG-ÄndG sind nunmehr die Aufwendungen der in § 184 Abs 1 SGG nF genannten "nicht privilegierten" Gebührenpflichtigen nicht erstattungsfähig, zu denen auch die KVU gehören; demnach erhalten diese ihre Aufwendungen selbst bei Obsiegen nicht mehr erstattet (vgl zur Auslegung der missglückten - Gesetzesfassung Beschluss des Senats vom 8. Juli 2002 aaO sowie zur beabsichtigten gesetzgeberischen Korrektur BT-Drucks 15/812, zu Art 2, Nr 2 - § 193 SGG).

Bereits in dem genannten Beschluss vom 8. Juli 2002 (aaO) hatte der Senat die Frage aufgeworfen, ob KVU in verfassungswidriger Weise benachteiligt sind, weil sie - indem sie sich nicht wie die in § 166 Abs 1 SGG genannten öffentlich-rechtlichen Rechtsträger vor dem BSG selbst vertreten können - einen Rechtsanwalt beauftragen müssen, dessen Kosten sie auch bei Obsiegen nicht erstattet bekommen. Ein sachlicher Grund für die dem Wortlaut der §§ 193 Abs 4, 166 SGG nF nach eintretende Ungleichbehandlung der KVU gegenüber den Pflegekassen ist nämlich nicht zu erkennen. Jene sind ebenso wie die öffentlich-rechtlichen Rechtsträger in der Lage, vor dem BSG ihre Interessen durch eigene qualifizierte Mitarbeiter und ohne anwaltliche Unterstützung zu vertreten. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die KVU die Kosten einer anwaltlichen Vertretung in Revisionsverfahren im Vergleich zu den Trägern der sozialen Pflegeversicherung anderweitig auffangen könnten. Denn einerseits haben nach § 23 Abs 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI) auch sie Leistungen zu erbringen, die nach Art und Umfang denen des Vierten Kapitels des SGB XI gleichwertig sind; andererseits können sie keine Versicherungsprämien verlangen, welche die Beiträge in der sozialen Pflegeversicherung übersteigen und damit die zusätzlichen Verfahrenskosten wettmachen könnten (§ 110 Abs 1 Nr 2d bis g SGB XI). Es ist auch nicht erkennbar, dass durch die Einschaltung von Rechtsanwälten eigenes Personal bei der Prozessführung in entsprechendem Umfang eingespart werden kann; ein Entlastungseffekt dürfte im Wesentlichen nur bei der Terminswahrnehmung vor Gericht eintreten. Ein Sonderopfer zur Übernahme derartiger Verfahrenskosten lässt sich weder mit einer Solidarverpflichtung noch mit einer sozialen Fürsorgepflicht, vergleichbar dem Verhältnis Arbeitgeber/Arbeitnehmer oder Kunstverwerter/Künstler, begründen. Zur Vermeidung dieses Nachteils ist es geboten, den KVU ebenso wie den sozialen Pflegekassen freizustellen, die Verfahren vor dem BSG in eigener Regie, dh ohne Prozessbevollmächtigten iS von § 166 SGG, zu betreiben und dadurch nicht erstattungsfähige Anwaltskosten zu vermeiden.

Diese Rechtsfolge vermag der Senat zu erkennen, ohne den Rechtsstreit auszusetzen und die Frage der Vereinbarkeit von § 166 SGG mit dem GG dem BVerfG vorzulegen; denn es liegt eine unbeabsichtigte Regelungslücke vor, die vom Gericht verfassungskonform geschlossen werden kann, ohne den Vorrang des Gesetzgebers zu missachten. Nach den gesetzgeberischen Motiven zum 5. SGG-ÄndG vom 30. März 1998 (BGBl I 638), mit dem auch die KVU zur Pauschgebühr herangezogen worden sind, war nur "eine kostenrechtliche Privilegierung ... gegenüber den gesetzlichen Pflegekassen nicht zu vertreten" (vgl Beschluss des Senats vom 8. Juli 2002 aaO). Es sollte aber keine Benachteiligung eintreten. Der Senat entnimmt dem den gesetzgeberischen Willen zur kostenmäßigen Gleichbehandlung beider Arten von Versicherungsträgern.

Dabei kann aber nur übersehen worden sein, dass bei der Vertretung vor dem BSG ebenfalls eine Regelung erforderlich ist, die die KVU den Pflegekassen gleichstellt. Denn für eine bewusste Beibehaltung derartiger unterschiedlicher prozessualer Befugnisse findet sich kein Anhaltspunkt. Deshalb ist eine Regelungslücke anzunehmen, die von den Gerichten geschlossen werden kann.

Eine solche (analoge) Ausweitung prozessualer Formvorschriften ist auch angesichts des Grundsatzes, dass zur Wahrung von Rechtssicherheit und Rechtsklarheit bei derartigen Formerfordernissen im Zweifel eine enge Auslegung vorzuziehen ist, zulässig. Darin liegt kein absolutes Analogieverbot. Das BSG hat schon früher privatrechtlich organisierte Verbände von Krankenkassen bzw Berufsgenossenschaften den Behörden usw iS von § 166 Abs 1 SGG gleichgestellt (VdAK: BSGE 11, 102, 106 = SozR Nr 16 zu § 144 SGG und BSG SozR 3-5550 § 35 Nr 1; Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften: BSG, Urteil vom 31. Juli 1970, 2 RU 191/67 - nicht veröffentlicht -). Das Gebot einer engen Auslegung hat dann zurückzutreten, wenn es zu einem verfassungswidrigen Ergebnis führen würde, während die - auf diesen eng umschriebenen Regelungssachverhalt begrenzte - Analogie die einzige Möglichkeit bietet, dieses Ergebnis zu vermeiden. Dass der Gesetzgeber inzwischen unter Bezugnahme auf den Beschluss des Senats vom 8. Juli 2002 (aaO) anstrebt, das Gesetz in diesem Sinne zu fassen (vgl BT-Drucks 15/812 zu Art 2 Nr 1 - § 166 SGG), bedeutet unter diesem Gesichtspunkt keine Rechtsänderung, sondern nur eine Klarstellung.

Die Beschwerde ist auch im Übrigen zulässig und begründet. Nach § 160 Abs 1, 2 Nr 1 SGG ist die Revision gegen das Urteil eines LSG vom BSG zuzulassen, wenn sie grundsätzliche Bedeutung hat. Die Beschwerdeführerin sieht es als Frage von grundsätzlicher Bedeutung sinngemäß an, ob - wie das SG und durch Bezugnahme (§ 153 Abs 2 SGG) auch das LSG angenommen haben - eine anhängige Klage wegen ab einem bestimmten Datum "laufend" begehrter Pflegeleistungen als "Dauer-Antragstellung" anzusehen und deshalb bei Änderung (Verschlimmerung) der gesundheitlichen Verhältnisse kein erneuter Antrag auf Leistungen der Pflegeversicherung beim KVU erforderlich ist, solange das gerichtliche Verfahren nicht seinen rechtskräftigen Abschluss gefunden hat.

Die Beklagte hat damit eine klärungsbedürftige Rechtsfrage aufgeworfen, denn die Antwort auf sie ergibt sich nicht unmittelbar und ohne weiteres ("unzweifelhaft") aus dem Gesetz, und sie ist auch nicht bereits vor der höchstrichterlichen Rechtsprechung entschieden; die bisherige Rechtsprechung betrifft allein sozialverfahrensrechtliche Fallgestaltungen.
Rechtskraft
Aus
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