S 24 SB 94/04

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Duisburg (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
24
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 24 SB 94/04
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 SB 176/04
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin außergewöhnlich gehbehindert ist.

Die Versorgungsverwaltung hatte bei der 1924 geborenen Klägerin auf deren Antrag vom 02.07.2002 mit Bescheid vom 02.09.2002 einen GdB von 100 festgestellt sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche "G" und "B". Die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "H" hatte sie abgelehnt. Der Entscheidung lag eine gutachterliche Stellungnahme des Orthopäden Dr. T vom 28.07.2002 zugrunde, nach der in Auswertung der beigezogenen medizinischen Unterlagen folgende Behinderungen vorlagen:

1. cerebrale Durchblutungsstörungen mit Hirnleistungsschwäche bei Demenz Einzel-GdB 100

2. coronare Herzerkrankung mit coronarer Aufdehnungsbehandlung und Gefäßprotheseneinlage, Bluthochdruck, Herzklappenfehler Einzel-GdB 30

3. Krampfaderleiden bds. Einzel-GdB 10

4. Verschleiß der WS mit WS-Syndrom Einzel-GdB 20

5. Harninkontinenz Einzel-GdB 10

Mit Antrag vom 22.12.2003 beantragte die Klägerin die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche "aG" und "H". Beigefügt war ein Attest zur Vorlage bei der Pflegekasse des Neurologen und Psychiaters Dr. L vom 20.05.2003, in dem über eine temporo-frontale Demenz mit im Vordergrund stehender örtlicher und zeitlicher Desorientiertheit sowie Störung des Kurzzeitgedächtnisses, der Triebhaftigkeit und der Motivation bei zusätzlich vaskulärer Encephalopathie berichtet wird. Die Klägerin neige auch zum Weglaufen, zeitweilig aufgrund der Orientierungsstörung finde die Klägerin nicht mehr zurück zur Wohnung, so dass sie einer ständigen Beaufsichtigung bedürfe. Die E als Träger der privaten Pflegeversicherung hatte ab 01.06.2003 Pflegebedürftigkeit der Pflegestufe II festgestellt und der Versorgungsverwaltung eine Ablichtung des ihrer Entscheidung zugrunde liegenden Gutachtens der Gesellschaft für medizinische Gutachten MedicProof vom 08.10.2003 übersandt. In diesem Gutachten heißt es u.a., Aufstehen, Gehen und Treppensteigen sei selbständig möglich. Die Hüfte sei frei beweglich, links bestehe eine retropatellare Crepitation. Es bestehe eine Weglauftendenz. Orientierung sei nur im Haus erhalten. Der Arzt für innere Medizin Dr. Q berichtete unter dem 08.01.2004 über eine Alzheimerdemenz fortschreitender Progredienz. Die Klägerin sei ganztägig betreuungsbedürftig und allein nicht mehr in der Lage, ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln. Sie brauche Hilfe und Beaufsichtigung z.B. bei Körperpflege und regelmäßiger Einnahme von Nahrung und Medikamenten. Der Neurologe und Psychiater Dr. L berichtete unter dem 12.01.2004 über eine temporo-frontale Demenz mit erheblicher Motivationsstörung und örtlich, zeitlicher Desorientierung sowie Stuhl- und Harninkontinenz. Die Klägerin bedürfe der ständigen Betreuung durch Dritte. Anamnestisch teilt er mit, dass körperliche Beschwerden nicht vorlägen. Sie sei jetzt auch zeitweilig im Hause desorientiert, außerhalb des Hauses finde sie sich ohne Begleitung gar nicht mehr zurecht. Dr. I kam in einer gutachterlichen Stellungnahme für die Versorgungsverwaltung am 27.01.2004 zu dem Ergebnis, dass die Leidensbezeichnungen 1. – 5. unverändert vorlägen, jetzt zusätzlich auch die Voraussetzung für die Nachteilsausgleiche "H" und "RF". "aG" läge allerdings weiterhin nicht vor.

Mit Bescheid vom 05.02.2004 stellte die Versorgungsverwaltung ab 22.12.2003 zusätzlich zu den bisherigen Feststellungen das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Nachteilsausgleiche "H" und "RF" fest und lehnte die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "aG" ab. Den Widerspruch der Klägerin, in dem diese die Auffassung vertrat, sie sei dem Personenkreis der Querschnittsgelähmten oder Beinamputierten gleichzustellen, denn aufgrund ihrer Demenzerkrankung sei sie hilflos und vollständig orientierungslos, sie könne sich daher nur mit fremder Hilfe fortbewegen, wies das beklagte Land mit Widerspruchsbescheid vom 07.04.2004 als unbegründet zurück.

Zur Begründung ihrer am 22.04.2004 erhobenen Klage verweist die Klägerin darauf, dass nicht nur körperlich Behinderte die Voraussetzungen für die Feststellung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung erfüllen könnten. Auch aufgrund geistiger Erkrankung könne die Gehfähigkeit auf Stärkste so eingeschränkt sein, dass ein Behinderter wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen könne. Durch ihre Demenz könne sie sich nicht weiter als wenige Meter (weniger als 20 bis 30 Meter) alleine und ohne ständige personelle Hilfe zu Fuß bewegen. Sie könne sich außerhalb der eigenen Wohnung in keiner Weise mehr orientieren und leide unter einer Weglauftendenz. Die Folgen ihrer Demenzerkrankung habe das beklagte Land bei seiner Entscheidung außer Acht gelassen. Entscheidend sei die bei ihr vorhandene Orientierungsstörung. Im Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 19.10.2004 hat die Klägerin mitteilen lassen, dass sie zwar laufen könne und beim Laufen auch keine Schmerzen habe. Sie könne aufgrund ihrer Orientierungslosigkeit jedoch nicht zielgerichtet laufen.

Die Klägerin beantragt,

das beklagte Land unter Änderung des Bescheides vom 05.02.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.04.2004 zu verurteilen, bei ihr das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "aG" festzustellen.

Das beklagte Land beantragt,

die Klage abzuweisen.

Es hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig. Die Folgen der Demenzerkrankung der Klägerin führten nicht dazu, dass sie die Voraussetzungen für die Feststellung des begehrten Nachteilsausgleichs erfülle.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Prozessakten und der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten. Diese Akten haben vorgelegen und sind ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der Beratung und Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem sich die Beteiligten übereinstimmend mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben.

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Zurecht hat das beklagte Land die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale für eine außergewöhnliche Gehbehinderung abgelehnt. Die Klägerin gehört nicht zu dem Personenkreis außergewöhnlich Gehbehinderter.

Nach § 69 Abs. 4 SGB IX stellen die Versorgungsämter neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesem Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung, für die in dem Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist. Eine derartige Feststellung eröffnet u.a. straßenverkehrsrechtliche Parkerleichterungen für Autofahrer. Nach Ziffer 31 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP) i.V.m. Nr. 11 der zu § 46 StVO erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift sind als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihrer Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind sowie andere Schwerbehinderte, die versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend aufgeführten Personenkreis gleichzustellen sind.

Zu den in AHP Ziffer 31 Abs. 3 beispielhaft aufgezählten Gruppen von schwerbehinderten Menschen gehört die Klägerin nicht. Sie gehört auch nicht zu denjenigen, die diesem Personenkreis gleichzustellen sind. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG SozR 3 - 3870 § 4 Nr. 23) ist ein Betroffener gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die beispielhaft Aufgeführten oder nur mit fremder Hilfe fortbewegen kann. Eine in Metern ausgedrückte zurücklegbare Wegstrecke taugt als Kriterium der vergleichbaren Zeit grundsätzlich nicht (BSG, Urteil vom 10.12.2002, B 9 SB 7/01 R, SozR 3 - 3250 § 69 Nr. 1). Die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften stellen nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges noch zumutbar bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies noch möglich ist: nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzungen – praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an – erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen an auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (BSG a.a.O.). Dabei wird man davon ausgehen können, das schwerbehinderte Menschen in ihrer Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt sind und sich beim Gehen regelmäßig körperlich besonders anstrengen müssen, wenn sie eine nach 30 Metern eingelegte Pause deshalb machen, weil sie bereits nach dieser kurzen Wegstrecke erschöpft sind und neue Kräfte sammeln müssen, bevor sie weitergehen können (BSG a.a.O.).

Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen gehört die Klägerin nicht zum vergleichbaren Personenkreis. Die Klägerin stellt als Grund für ihr Begehren die Folgen ihrer Demenzerkrankung ganz in den Vordergrund. Ihre übrigen Behinderungen spielen in dem Zusammenhang keine Rolle. Körperliche Beschwerden liegen bei ihr auch nicht vor, wie sich aus dem Befundbericht des Dr. L an die Versorgungsverwaltung ergibt. Im Termin zur Erörterung des Sachverhaltes hat sie auch erklären lassen, dass sie laufen könne und beim Laufen auch keine Schmerzen habe. Aufgrund ihrer Orientierungslosigkeit könne sie jedoch nicht zielgerichtet laufen. Die fehlende Fähigkeit, zielgerichtet zu laufen, genügt nicht, um das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs "aG" festzustellen. Nach der Rechtsprechung des BSG kommt es auf die körperliche Fähigkeit zu laufen an. Diese ist bei der Klägerin nicht in dem erforderlichen Maße eingeschränkt, wie sie selbst einräumt und darüber hinaus durch ihre Weglauftendenz auch deutlich wird. Soweit in der Rechtsprechung des BSG darauf abgestellt wird, dass Prüfungsmaßstab ist, ob sich ein Behinderter u.a. nur mit fremder Hilfe außerhalb seines Kraftfahrzeuges fortbewegen kann, stellt dieses Merkmal ebenfalls die körperliche Gehfähigkeit ab. Gemeint ist ein Behinderter, der ohne fremde Hilfe praktisch keinen Schritt außerhalb seines Kraftfahrzeuges gehen könnte, weil er körperlich dazu nicht in der Lage ist. Nicht gemeint ist ein Behinderter, der fremde Hilfe benötigt, um zielgerichtet zu gehen, weil es ihm an Orientierungsfähigkeit fehlt. Die Richtigkeit dieser Abgrenzung zeigt sich auch daran, dass Orientierungsfähigkeit eines der Merkmale für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "B" ist. Dieser – der Klägerin bereits zuerkannte – Nachteilsausgleich "B" ist bei schwerbehinderten Menschen festzustellen, bei denen die Voraussetzungen für die Merkzeichen "G" oder "H" vorliegen, die infolge ihrer Behinderung zur Vermeidung von Gefahren für sich oder andere für die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind. Dazu gehören diejenigen, die u.a. wegen Störung der Orientierungsfähigkeit nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten und nicht oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermögen, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei in hohem Maße Demenzkranken, zu denen die Klägerin gehört, sind entsprechende Störungen der Orientierungsfähigkeit vorauszusetzen, wenn sie sich im Straßenverkehr nicht zurechtfinden kann. Der Vortrag, sie könne nicht zielgerichtet gehen, ist lediglich im Zusammenhang mit dem bereits zuerkannten Nachteilsausgleich "B" relevant. Wäre die fehlende Orientierungsfähigkeit Kriterium für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "aG", enthielten die AHP eine Verbindung zwischen Nachteilsausgleichen "B" und "aG", wie dies in AHP Ziffer 32 Abs. 2 bei der Prüfung der Notwendigkeit ständiger Begleitung (B) und den Nachteilsausgleichen "G" und "H" der Fall ist.

Im übrigen ist ein Weglaufen mit anschließendem orientierungslosen Umherirren nur bei einem Gehvermögen möglich, bei dem noch nicht von den ersten Schritten an außerhalb des Kraftfahrzeuges fremde Hilfe (zum Gehen) benötigt oder besondere Anstrengungen erforderlich sind. Eine im solchem Sinne außergewöhnlich gehbehinderte Person könnte nicht Umherirren, weil sie ohne fremde Hilfe nicht Gehen kann oder würde sich wegen der besonderen Anstrengung beim Gehen nicht oder nur wenige Schritte bewegen, also nicht weglaufen. Auch die Klägerin räumt ein, dass sie beim Laufen keine Schwierigkeiten und auch keine Schmerzen hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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