B 14 EG 10/99 R

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
14
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 14 EG 10/99 R
Datum
Kategorie
Urteil
Auf die Revision des Beklagten werden die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. April 1999 und des Sozialgerichts Wiesbaden vom 11. März 1998 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen. Die Anschlußberufung der Klägerin wird zurückgewiesen. Kosten sind in sämtlichen Rechtszügen nicht zu erstatten.

Gründe:

I

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch auf Erziehungsgeld (Erzg).

Im Februar 1996 beantragte die Klägerin für das zweite Lebensjahr ihrer am 21. Februar 1995 geborenen Tochter S. Erzg. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 18. März 1996 ab, weil aufgrund des Einkommens des Ehegatten der Klägerin kein Anspruch auf Erzg bestehe. Hiergegen legte die Klägerin am 28. März 1996 Widerspruch ein. Im Juni 1996 wiederholte sie den Antrag und wies ausdrücklich darauf hin, daß inzwischen ein zweites Kind geboren sei. Der Widerspruch gegen den Bescheid vom 18. März 1996 blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 24. Oktober 1996).

Während des Klagverfahrens vor dem Sozialgericht (SG) erteilte der Beklagte unter dem 18. Juni 1997 einen Bescheid gemäß § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch, in dem darauf hingewiesen wird, daß das zweite Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung noch nicht geboren und damit auch nicht berücksichtigungsfähig sei. Mit Urteil vom 11. März 1998 hat das SG die genannten Bescheide aufgehoben und den Beklagten verurteilt, der Klägerin Erzg für ihre Tochter S. ab Juni 1996 nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Die vom SG zugelassene Berufung des Beklagten wurde zurückgewiesen. Auf die in der mündlichen Verhandlung eingelegte Anschlußberufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG abgeändert und das beklagte Land verurteilt, der Klägerin für den 13. bis 24. Lebensmonat ihrer Tochter Erzg in Höhe von monatlich 71 DM zu gewähren. Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Die von dem Beklagten für das Jahr 1996 vorgenommene Prognose über das voraussichtliche Einkommen der Klägerin und ihres Ehemannes sei nicht zu beanstanden. Bei der Berechnung des Erzg müsse aber im Hinblick auf die Geburt des zweiten Kindes ein Freibetrag in Höhe von 4200 DM zu berücksichtigt werden. § 5 Abs 2 Satz 4 Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG) stehe dem nicht entgegen. Denn der Beklagte hätte der Klägerin vorschlagen müssen, den ursprünglichen Antrag im Hinblick auf die Geburt des zweiten Kindes zurückzunehmen und sodann erneut das Erzg zu beantragen. Dann hätte sich der Freibetrag für das zweite Kind auswirken können. Da der Beklagte seine insoweit bestehende Hinweispflicht verletzt habe, sei die Klägerin im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, wie wenn der Beklagte seiner Hinweispflicht nachgekommen wäre.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 5 BerzGG und macht ua geltend: Eine Antragsrücknahme sei im Erziehungsgeldrecht nur bis zum Wirksamwerden des Bescheides möglich.

Der Beklagte beantragt sinngemäß,
die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. April 1999 und des Sozialgerichts Wiesbaden vom 11. März 1998 aufzuheben, die Klage abzuweisen und die Anschlußberufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)) einverstanden erklärt.

II

1. Für den Zeitraum vom 21. Februar 1996 bis 13. Juni 1996 hat die Revision des Beklagten bereits deshalb Erfolg, weil das LSG die Anschlußberufung der Klägerin hätte zurückweisen müssen.

Bei dem Rechtsmittel der Klägerin handelte es sich um eine unselbständige Anschlußberufung. Zum Zeitpunkt ihrer Einlegung am 21. April 1999 war die Berufungsfrist und im Hinblick auf den gemäß § 96 SGG mitangefochtenen Bescheid vom 18. Juni 1997 auch die Jahresfrist des § 66 Abs 2 SGG verstrichen. Die unselbständige Anschlußberufung setzt voraus, daß die Hauptberufung eingelegt und das Verfahren noch nicht beendet ist (vgl §§ 143 SGG, 202, 521, 522 Zivilprozeßordnung; Bley in Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, 4. Aufl, Bd III § 143 RdNrn 68, 69). Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt. Der Bescheid des Beklagten vom 18. März 1996 idF des Widerspruchsbescheides vom 24. Oktober 1996 sowie der Bescheid vom 18. Juni 1997 waren, soweit sie die Zeit vom 21. Februar 1996 bis 13. Juni 1996 betreffen, bereits bestandskräftig (§ 77 SGG), so daß das LSG für den genannten Zeitraum keine abweichende Entscheidung mehr treffen konnte. Der Endzeitpunkt (13. Juni 1996) ergibt sich durch Auslegung des sozialgerichtlichen Urteils. Das SG hatte "ab Juni 1996" Erzg zugesprochen. Aus seiner Begründung folgt, daß es das zweite Kind der Klägerin berücksichtigen wollte, das am 14. Juni 1996 zur Welt gekommen ist. Dieses Kind kann jedoch frühestens ab seiner Geburt berücksichtigt werden, so daß die Bezeichnung "ab Juni" auf diesen Zeitpunkt zu konkretisieren ist.

2. Die Revision des Beklagten ist auch begründet, soweit es um Leistungen für die Zeit vom 14. Juni 1996 bis 20. Februar 1997 geht. Nach dem hier anwendbaren BErzGG idF der Bekanntmachung vom 31. Januar 1994 (BGBl I, 180) wird Erzg für Kinder, die nach dem 31. Dezember 1992 geboren sind, auch für das zweite Lebensjahr gewährt (§ 4 Abs 1 BErzGG). Allerdings wird das Erzg vom Beginn des 7. Lebensmonats des Kindes an gemindert, wenn das Einkommen nach § 6 des Gesetzes bei Verheirateten, die von ihrem Ehegatten nicht dauernd getrennt leben, 29400 DM übersteigt (§ 5 Abs 2 BErzGG). Die Beträge der Einkommensgrenzen in Satz 1 und 2 der Vorschrift erhöhen sich um 4200 DM für jedes weitere Kind des Berechtigten, für das ihm oder seinem Ehegatten Kindergeld gewährt wird. Maßgeblich sind nach § 5 Abs 2 Satz 4 BErzGG nicht mehr - wie früher - die Verhältnisse am Beginn des 7. Lebensmonats, sondern die zum Zeitpunkt der Antragstellung.

Nach § 5 Abs 2 Satz 4 BErzGG sind für die Berechnung von Erzg hier die Verhältnisse zum Zeitpunkt der Antragstellung im Februar 1996 jedenfalls bzgl Familienstand und Kinderzahl (vgl die Gesetzesbegründung, BT-Drucks 12/4401 S 74 zu Nr 3), also ohne Berücksichtigung des zweiten Kindes zugrunde zu legen, denn die Klägerin hat diesen Antrag weder im Verwaltungs- noch während des Gerichtsverfahrens zurückgenommen. Nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) ist auch die vom Beklagten gemäß § 6 Abs 2 und 3 BErzGG für 1996 getroffene Einkommensprognose nicht zu beanstanden. Der in § 5 Abs 2 Satz 3 vorgesehene Freibetrag von 4200 DM darf der Klägerin bei der Berechnung der Einkommensverhältnisse nur zugute kommen, wenn sie - wie das LSG angenommen hat - im Wege des sog sozialrechtlichen Herstellungsanspruches so zu stellen wäre, als sei ihr zweites Kind für den Anspruch auf Erzg zu berücksichtigen. Das ist jedoch nicht der Fall.

Der von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) (vgl zB BSGE 60, 158, 164 = SozR 1300 § 44 Nr 23; BSGE 71, 17, 22 = SozR 3-4100 § 103 Nr 8 und zuletzt insbesondere das Urteil vom 26. Januar 2000 - B 13 RJ 37/98 R - zur Veröffentlichung in SozR bestimmt) entwickelte sozialrechtliche Herstellungsanspruch setzt folgendes voraus: Es muß eine Pflichtverletzung vorliegen, die dem Sozialleistungsträger zuzurechnen ist. Dadurch muß beim Berechtigten ein rechtlicher Nachteil oder Schaden eingetreten sein. Außerdem ist erforderlich, daß durch Vornahme einer Amtshandlung der Zustand hergestellt werden kann, der bestehen würde, wenn der Sozialleistungsträger seine Verpflichtungen nicht verletzt hätte (stRspr des BSG, vgl zuletzt Senatsurteil vom 15. August 2000 - B 9 VG 1/99 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen sowie BSG SozR 3-1200 § 14 Nr 28).

Hier fehlt es an einer Pflichtverletzung durch den Beklagten. Sie wäre nur zu bejahen, wenn der Beklagte aufgrund der ihm seinerzeit bekannten Verhältnisse der Klägerin von Amts wegen gehalten gewesen wäre, die Klägerin "spontan" dahin zu beraten, den am 12. Februar 1996 gestellten Erzg-Antrag zurückzunehmen, und wann bei der Entscheidung über den Anspruch auf Erzg dann die Verhältnisse zum Zeitpunkt der zweiten Antragstellung maßgeblich gewesen wären, der Beklagte also den Freibetrag für das zweite Kind hätte berücksichtigen müssen. Eine solche Pflicht zur spontanen Beratung setzt aber eine für die Verwaltung erkennbare, klar zutage getretene Gestaltungsmöglichkeit voraus, deren Wahrnehmung offensichtlich so zweckmäßig war, daß sie ein verständiger Antragsteller mutmaßlich genutzt hätte (stRspr des BSG, vgl zuletzt SozR 3-4100 § 110 Nr 2 sowie SozR 3-1200 § 14 Nr 12, jeweils mwN). Davon kann hier nicht ausgegangen werden.

Es ist schon zweifelhaft, ob der am 12. Februar 1996 gestellte Antrag mit der Folge zurückgenommen werden konnte, daß sich die Beurteilung des Erzg-Anspruchs dann nach den Verhältnissen zum Zeitpunkt der zweiten Antragstellung richtet. Ob § 5 Abs 2 Satz 4 BErzGG ggf auf einen zweiten Antrag angewendet werden darf oder sich die Beurteilung des Erzg-Anspruchs trotz Stellung eines zweiten Antrags nach den Verhältnissen, die dem ersten Antrag zugrunde lagen, zB nach der damaligen Kinderzahl, ist bisher weder in der Literatur problematisiert noch höchstrichterlich entschieden. Der Senat hat zwar zum früher geltenden Recht (BErzGG idF der Bekanntmachung vom 21. Januar 1992, BGBl I, 68, 71) angenommen, daß ein Berechtigter seinen Antrag auf Berücksichtigung des aktuellen Einkommens wirksam zurücknehmen und dadurch ein bereits gestellter Antrag nach § 6 Abs 4 BErzGG entfallen kann und hat dazu ausgeführt: Eine Bindung an einen Antrag nach § 6 Abs 4 BErzGG bestehe solange nicht, wie der Bescheid über die Gewährung von Erzg wegen des mit ihm nach § 4 Satz 3 BErzGG verbundenen Vorbehalts nicht in Bestandskraft erwachsen sei. Diese Ausführungen haben für den nach neuem Recht zu beurteilenden Sachverhalt keine wegweisende oder gar entscheidungserhebliche Bedeutung (vgl zu dem Fall BSG SozR 3-7833 § 6 Nr 5). Für das Erziehungsgeldrecht ist nämlich bisher ungeklärt, ob nach allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts eine Bindung an den Antrag bereits, wenn er beschieden worden ist oder nach Erteilung des Widerspruchsbescheides, wenn der ergangene Bescheid bestandskräftig geworden ist (vgl insbesondere BSGE 60, 79, 82 f, 85 = SozR 4100 § 100 Nr 11; BSGE 37, 257, 260 = SozR 2200 § 1248 Nr 3; BSGE 46, 279, 282 = SozR 2200 § 1248 Nr 25; BSGE 76, 218, 221 = SozR 3-2500 § 50 Nr 3; vgl auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in NJW 1988, 275, FamRZ 1981, 208, 209 sowie NVwZ 1989, 860). Damit ist rechtlich unklar, für welche vor dem Eintritt der Bindungswirkung liegenden Zeiträume Erzg-Anträge zurückgenommen oder geändert werden können. Dieses Problem hätte der Beklagte hier lösen müssen, da er über den Antrag der Klägerin vom 12. Februar 1996 bereits vor der Geburt ihres zweiten Kindes einen Ablehnungsbescheid erteilt hatte. Aber selbst wenn man die Rücknahme des Erstantrags und die Stellung eines zweiten Antrags für zulässig hält, ist unklar, ob dies auch die rechtliche Konsequenz hat, daß nunmehr ausschließlich die Verhältnisse zum Zeitpunkt der zweiten Antragstellung nach § 5 Abs 2 Satz 4 BErzGG zugrunde zu legen sind. Aus dem Gesetzeswortlaut und dem Sinn und Zweck der Regelung des § 5 Abs 2 Satz 4 BErzGG läßt sich dies nicht ohne weiteres bejahen oder verneinen. Ist aber - wie hier - die Auslegung der maßgeblichen Rechtsvorschriften zweifelhaft und sind die damit verbundenen Rechtsfragen bisher nicht höchstrichterlich entschieden, kann von einer klar zu Tage tretenden Gestaltungsmöglichkeit keine Rede sein, so daß der Beklagte - entgegen der Auffassung des LSG - nicht verpflichtet war, die Klägerin "spontan" dahin zu beraten, den am 12. Februar 1996 gestellten Erzg-Antrag zurückzunehmen.

Im übrigen weist der Senat ergänzend darauf hin, daß die Klägerin auch dann keinen Anspruch auf Erzg hätte, wenn ihr zweites Kind zwar bei der Prüfung des Anspruches zu berücksichtigen wäre, jedoch der Prüfung die Einkommensverhältnisse zugrunde zu legen wären, die sich aus dem in den Gerichtsakten befindlichem Einkommenssteuerbescheid für 1996 ergeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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