L 10 AL 211/99

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 57 AL 4535/98
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 10 AL 211/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. Juni 1999 sowie der Bescheid der Beklagten vom 24. September 1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12. November 1998 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, den Bescheid vom 26. Juni 1996 mit Wir kung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Rechtmäßigkeit der Aufforderung zur Stellung eines Rentenantrages im Überprüfungsverfahren.

Der 1935 geborene Kläger bezog - unterbrochen durch eine beitragspflichtige Beschäftigung vom 9. November 1987 bis zum 8. November 1988 - seit dem 7. Januar 1985 Arbeitslosengeld (Alg) bzw. Arbeitslosenhilfe (Alhi), die ihm zuletzt bis zum 8. November 1996 in Höhe von 223,80 DM wöchentlich bewilligt worden war.

Mit Schreiben vom 26. Juni 1996 forderte die Beklagte den Kläger auf, bis zum 31. Juli 1996 Rente wegen Alters zu beantragen. Wenn er den Antrag auf Rente nicht bis zum 31. Juli 1996 stellen werde, ruhe der Anspruch auf Alhi vom 1. August 1996 bis zu dem Tag, an dem der Kläger Rente wegen Alters beantrage (§ 134 Abs. 3 c Satz 2 Arbeitsförderungsgesetz -AFG-).

Der Kläger beantragte daraufhin am 12. Juli 1996 bei der Landesversicherungsanstalt Berlin (LVA) Altersrente, die ihm mit Bescheid vom 4. April 1997 vom 1. Juli 1996 an gewährt und ab 1. Mai 1997 in Höhe von 739,06 DM gezahlt wurde.

Mit Bescheid vom 25. April 1997 hob die Beklagte die Bewilligung von Alhi vom 1. Juli 1997 an wegen Zuerkennung einer Altersrente auf und machte eine Erstattungsforderung in Höhe von 7.168,88 DM gegenüber der LVA geltend.

Mit dem Widerspruch hiergegen verwies der Kläger auf seinen Widerspruch gegen den Rentenbescheid, mit dem er eingewandt hatte, nicht verpflichtet zu sein, eine Rente wegen Arbeitslosigkeit „mit einem Abschlag von ca. 200,-- DM“ vor seinem 65. Lebensjahr anzunehmen. Den Widerspruch gegen den Rentenbescheid wies die LVA durch Widerspruchsbescheid vom 30. Juni 1997 zurück. Die dagegen vor dem Sozialgericht Berlin (SG) erhobene Klage hatte keinen Erfolg, das anschließende Berufungsverfahren (L 16 J 10/98) ruht.

Durch Widerspruchsbescheid vom 21. August 1997 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid zurück; im anschließenden Klageverfahren (S 50 Ar 3094/97) schlossen die Beteiligten einen Vergleich dahingehend, dass die Beklagte zu dem Schreiben vom 26. Juni 1996 einen Überprüfungsbescheid erteile und für den Fall des positiven Ausgangs den Bescheid vom 25. April 1997 aufhebe. Der Kläger verpflichtete sich in diesem Fall, den Rentenantrag zurückzunehmen.

Durch Bescheid vom 24. September 1998 - bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 12. November 1998 - lehnte die Beklagte den Überprüfungsantrag ab, weil bei der Aufforderung zum Rentenantrag weder das Recht unrichtig angewandt worden sei noch von einem Sachverhalt ausgegangen worden sei, der sich als unrichtig erwiesen habe.

Die dagegen vor dem SG erhobene Klage, mit der der Kläger geltend machte, dass die „Zwangsverrentung“ unzumutbar sei, wies das SG durch Urteil vom 17. Juni 1999 ab. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Aufhebung des Überprüfungsbescheides und Rücknahme der Aufforderung zur Rentenantragstellung. Es könne offen bleiben, ob es sich bei der Aufforderung um einen Verwaltungsakt handele, da die Beklagte den Kläger jedenfalls zu Recht zur Antragstellung aufgefordert habe. Der Kläger habe in absehbarer Zeit nach der Aufforderung die Voraussetzungen für eine Altersrente erfüllt, da er bereits 61 Jahre alt, bei Rentenbeginn arbeitslos und innerhalb der letzten 1 1/2 Jahre mindestens 52 Wochen arbeitslos gewesen sei. Ein atypischer Fall liege nicht vor, wenn die Alhi höher sei als die Rente. Wäre die Beklagte verpflichtet, vor der Aufforderung zur Rentenantragstellung die finanziellen Folgen zu prüfen, würde die vom Gesetzgeber gewollte Regelung aus allgemeinen sozialen Erwägungen unterlaufen. Durch § 134 Abs. 3 c AFG solle nicht nur bei tatsächlich frei gewählter Inanspruchnahme der Altersrente typisierend das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und die fehlende Verfügbarkeit unterstellt werden, sondern ohne Rücksicht auf die Höhe der Rente das Ausscheiden aus dem Kreis der Arbeitsuchenden bereits bei Anspruch auf eine Altersrente fingiert werden. Mit der Aufforderung zur Rentenantragstellung werde dem in § 134 Abs. 3 c AFG zugrunde gelegten Gedanken „Rente vor Arbeitslosenhilfe“ Rechnung getragen, unabhängig davon, ob der Kläger dadurch besser oder schlechter gestellt werde.

Mit der Berufung vertritt der Kläger die Auffassung, dass die Beklagte ihn nicht zur Rentenantragstellung hätte auffordern dürfen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. Juni 1999 sowie den Bescheid der Beklagten vom 24. September 1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12. November 1998 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom 26. Juni 1996 zurückzunehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie macht geltend, die vom Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 27. Juli 2000 - B 7 AL 42/99 R - vertretene Auffassung, es liege ein atypischer Fall vor, wenn der zu erwartende Rentenzahlbetrag niedriger sei als die Alhi, stehe im Widerspruch zu Sinn und Zweck des § 134 Abs. 3 c AFG. Der Gesetzgeber habe mit dieser Regelung den Grundsatz der Nachrangigkeit der Alhi verwirklichen wollen. § 134 Abs. 3 c AFG gehe daher typisierend davon aus, dass der Lebensunterhalt von Arbeitslosen durch die Altersrente in vollem Umfang sichergestellt werde. Wie aus der parlamentarischen Äußerung der Bundesregierung in der 13. Legislaturperiode (Bundestags-Drucksache 13/6447 S. 23) hervorgehe, sei bei der Feststellung, ob ein atypischer Fall vorliege, die Höhe der zu erwartenden Rente wegen Alters nicht zu berücksichtigen. Würde man der Auffassung des BSG folgen, müssten die Arbeitsämter in jedem Einzelfall vor der Aufforderung zur Rentenantragstellung eine Rentenauskunft einholen. Dies würde zu einem unverhältnismäßig hohen Verwaltungsaufwand bei der Arbeitsverwaltung führen, da ca. 100.000 Rentenauskünfte eingeholten werden müssten. Die vom BSG vertretene Auffassung, die Aufforderung, einen Antrag auf Altersrente zu stellen, sei ein Verwaltungsakt, überzeuge nicht. Vielmehr handele es sich um eine vorbereitende Maßnahme. Komme der Arbeitslose der Aufforderung nicht nach, stelle das Arbeitsamt das Ruhen des Anspruchs fest oder hebe die Alhi-Bewilligung mit Wirkung für die Zukunft auf. Erst diese Maßnahme sei ein Verwaltungsakt. Anderenfalls könne die Eröffnung des Rechtsweges gegen die Aufforderung, einen Antrag auf Altersrente zu stellen, dazu führen, dass § 134 Abs. 3 c AFG leer laufe.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (einschließlich der Akten des SG - S 57 AL 4535/98 -), den Inhalt der Verwaltungsakten (zur Stamm-Nr. ) und der Gerichtsakten des Landessozialgerichts Berlin (L 16 J 10/98) verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist begründet.

Der Überprüfungsbescheid vom 24. September 1994 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12. November 1998 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die Beklagte ist verpflichtet, die Aufforderung zur Stellung des Rentenantrages vom 26. Juni 1996 mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.

Gemäß § 44 Abs.1 Sozialgesetzbuch (SGB) X ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt worden ist, und soweit deshalb Sozialleistungen nicht erbracht worden sind, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Im übrigen ist nach § 44 Abs.2 SGB X ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.

Die Aufforderung zur Stellung eines Rentenantrages ist ein Verwaltungsakt. Der Senat folgt der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 27. Juli 2000 - B 7 AL 42/99 R-), nach der die Aufforderung zur Stellung eines Rentenantrags Regelungscharakter mit unmittelbarer Außenwirkung hat. Es handelt sich gerade nicht um eine vorbereitende Maßnahme, weil die Rechtsfolge des Ruhens unmittelbar an den Ablauf der durch die Aufforderung gesetzten Frist zur Stellung des Rentenantrags anknüpft. Es besteht auch nicht die Gefahr der Eröffnung eines zweifachen Rechtsweges, nämlich einmal gegen die Aufforderung sowie nochmals gegen den Aufhebungsbescheid, weil der Aufhebungsbescheid Gegenstand des Verfahrens gegen die Aufforderung zur Stellung des Rentenantrags wird.

Gemäß § 134 Abs. 3c AFG soll das Arbeitsamt den Arbeitslosen, der in absehbarer Zeit die Voraussetzungen für den Anspruch auf Rente wegen Alters voraussichtlich erfüllt, auffordern, diese Rente binnen eines Monats zu beantragen; dies gilt nicht für Altersrenten, die vor dem für den Versicherten maßgebenden Rentenalter in Anspruch genommen werden können. Altersrenten im Sinne des § 134 Abs.3 c S.1 2. Halbsatz AFG sind nur solche, die wegen vorzeitiger Inanspruchnahme mit einem geringeren Zugangsfaktor als 1,0 verbunden sind. Da für den 1935 geborenen Kläger mit der Inanspruchnahme der Altersrente wegen Arbeitslosigkeit kein Abschlag verbunden war, war die Aufforderung nicht schon wegen § 134 Abs.3 c S.1 2. Halbsatz AFG ausgeschlossen.

Die Aufforderung war jedoch rechtswidrig, da die Beklagte keine Ermessenserwägungen dahingehend getroffen hat, ob der Kläger zur Stellung des Rentenantrags aufgefordert werden soll. Gemäß § 134 Abs.3 c Satz 1 AFG „soll“ das Arbeitsamt den Arbeitslosen auffordern, einen Rentenantrag zu stellen, so dass in atypischen Fällen Ermessen auszuüben ist bzw. von der Aufforderung sogar abzusehen ist.

Wie das BSG (a.a.O.) unter Bezugnahme auf die Gesetzesmaterialien dargelegt hat, soll durch § 134 Abs.3 c AFG nur der Nachrang der Alhi realisiert werden, also verhindert werden, dass der Arbeitslose sich auf Bedürftigkeit berufen kann, nicht aber eine neue Aufteilung der Zuständigkeitsbereiche der Beklagten und der Rentenversicherungsträger vorgenommen werden. Demzufolge liegt immer dann ein atypischer Fall vor, wenn die zu zahlende Altersrente niedriger als die zu zahlende Alhi wäre.

Der Senat folgt dieser Rechtsprechung. Soweit die Beklagte dagegen einwendet, der parlamentarischen Äußerung der Bundesregierung sei zu entnehmen, dass die Höhe der zu erwartenden Rente keine Rolle spielen solle, übersieht sie, dass diese Äußerung erst im Dezember 1996 nach dem Inkrafttreten der fraglichen Regelung erfolgte und demzufolge keine Rückschlüsse auf den Willen des historischen Gesetzgebers erlaubt.

Auch der Einwand der Beklagten, die Einholung einer Rentenauskunft in jedem Einzelfall führe zu einem unzumutbaren Verwaltungsaufwand, überzeugt nicht. Zum einen dürfte sich der Aufwand in Grenzen halten. Ebenso wie die Aufforderung zur Rentenantragstellung kann die Einholung einer Rentenauskunft im automatisierten Verfahren vorgenommen werden, da der Beklagten die Versicherungsnummer des Arbeitslosen in der Rentenversicherung sowie der Rentenversicherungszweig bekannt sind. Zum anderen ist der Aufwand nicht unverhältnismäßig, weil durch die Aufforderung zur Stellung des Rentenantrags jedenfalls faktisch in die Berufsausübungsfreiheit des Arbeitslosen eingegriffen wird, indem der Arbeitslose durch § 134 Abs.3 c AFG so behandelt wird, als sei er aus dem Berufsleben ausgeschieden.

Der Bescheid vom 26. Juni 1996 ist mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.

Da die Beklagte durch den Bescheid vom 26. Juni 1996 nicht Sozialleistungen nicht erbracht hat, sondern lediglich das Ruhen des Anspruchs nach Fristablauf geregelt hat, richtet sich seine Rücknahme nach § 44 Abs.2 SGB X. Insoweit enthält § 330 SGB III, der zum Zeitpunkt des Erlasses des Überprüfungsbescheides bereits anzuwenden war, keine Sonderregelung zur Rücknahme für die Vergangenheit.

Zwar räumt § 44 Abs.2 S.2 SGB X insoweit der zuständigen Behörde ein Ermessen ein. Dieses ist aber dahingehend auf Null geschrumpft, dass die Beklagte sich nur für die Rücknahme des Bescheides für die Vergangenheit entscheiden kann, weil eine rechtmäßige Aufforderung zur Rentenantragstellung nach der Gesetzessystematik nicht mit Wirkung für die Vergangenheit nachgeholt werden kann( vgl. BSG, a.a.O., S. 5 des Umdrucks unter 3.)

Die Aufhebung des Bescheides vom 26. Juni 1996 geht auch nicht im Hinblick auf den bereits erteilten Rentenbescheid ins Leere. Nach der Rechtsprechung des BSG kann der Rentenantrag bis zum Eintritt der Bestandskraft des Rentenbescheides zurückgenommen werden ( BSG, Urteil vom 9. August 1995-13 RJ 43/94-= SozR 3-2500 § 50 Nr.3). Der Rentenbescheid des Klägers ist nicht bestandskräftig, da das dagegen vor dem LSG Berlin betriebene Verfahren ruht.

Die Kostenentscheidung nach § 193 Abs.1 SGG entspricht dem Ergebnis in der Hauptsache.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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