L 10 AL 102/01

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 53 AL 4268/00
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 10 AL 102/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 9. Oktober 2001 sowie der Bescheid vom 11. September 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19. Oktober 2000 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger bereits vom 25. September 2000 an - bis zum 12. März 2002 - Arbeitslosenhilfe zu gewähren. Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob dem Anspruch des Klägers auf Arbeitslosenhilfe (Alhi) sein Vermögen entgegensteht.

Der 1957 geborene Kläger ist Privatdozent der Philosophie. Nach seiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Assistent von 1987 bis 1993 stand er seit Oktober 1994 in befristeten Beschäftigungsverhältnissen als Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Gastdozent und Gastprofessor, unterbrochen durch kurzfristige Arbeitslosigkeit. Zuletzt war er von April 1998 bis September 1999 Gastprofessor an der F. Seitdem ist er arbeitslos. Von Oktober 1999 an gewährte ihm die Beklagte entsprechend seinem Verdienst im letzten Beschäftigungsverhältnis Arbeitslosengeld nach einem gerundeten wöchentlichen Arbeitsentgelt (Bemessungsentgelt) von 1.850,00 DM.

Im Hinblick auf die Erschöpfung des Arbeitslosengeld-Anspruchs am 24. September 2000 (Bemessungsentgelt zuletzt 2.010,00 DM, wöchentlicher Leistungssatz 590,87 DM) beantragte der Kläger am 11. September 2000 mit Wirkung vom 25. September 2000 Alhi. Sein und seiner Ehefrau Vermögen belegte er unter dem 8. September 2000 wie folgt: ein Girokonto mit einem Kontostand von 124,25 DM; drei Sparbücher mit Kontoständen von 28.815,83 DM, 14.626,38 DM und 1.283,84 DM; eine 1988 begonnene und 2022 fällige Lebensversicherung - Versicherungssumme 83.616,00 DM (bisher eingezahlt 21.750,00 DM, Rückkaufswert 15.922,52 DM) -; ein 1987 geschlossener, bereits zuteilungsreifer Bausparvertrag - Guthaben 7.417,12 DM, Bausparsumme 20.000,00 DM - sowie ein im Februar 1999 geschlossener weiterer Bausparvertrag - Guthaben 430,20 DM, Bausparsumme 20.000,00 DM - (beide Verträge nicht prämien- oder zulagenbegünstigt). Das Girokonto diene den laufenden Ausgaben, die Sparbücher der Vermögensbildung und die Lebensversicherung sowie die Bausparverträge der Altersicherung. Einer vorgelegten Einkommensbescheinigung war ein monatliches Arbeitsentgelt der Ehefrau des Klägers von 2.850,00 DM brutto/1.912,06 DM netto zu entnehmen.

Durch Bescheid vom selben Tage - 11. September 2000 - lehnte die Beklagte den Alhi-Antrag ab. Der Kläger und seine Ehefrau verfügten über ein Vermögen in Höhe von 52.697,37 DM, das verwertbar und dessen Verwertung zumutbar sei. Unter Berücksichtigung der Freigrenze von 16.000,00 DM verblieben 36.697,37 DM. Dieser Betrag sei bei der Prüfung der Bedürftigkeit zu berücksichtigen. Bei Teilung des zu berücksichtigenden Vermögens durch das wöchentliche Arbeitsentgelt, nach dem sich die Höhe der Alhi richte (1.850,00 DM), ergebe sich, dass der Kläger für einen Zeitraum von 19 Wochen nicht bedürftig sei. Bei erneuter Antragstellung werde das dann (noch) vorhandene Vermögen bei der Bedürftigkeitsprüfung erneut berücksichtigt.

Mit dem Widerspruch machte der Kläger geltend, die Verwertung seines und seiner Frau Vermögens sei ihnen nicht zumutbar, weil ihr Vermögen allein dem Zweck der Alterssicherung diene. Bei der Lebensversicherung habe die Beklagte dies auch bereits anerkannt. Auch die anderen Vermögensanlagen hätten allein der Altersversorgung dienen sollen. Der zum 65. Lebensjahr auszuzahlende Betrag reiche nicht aus, eine angemessene Alterssicherung für ihn und seine Frau zu gewährleisten. Da die Anstellungssituation für habilitierte Philosophen sehr schlecht sei, hätten seine Frau, die damals Ethnologie studiert habe, und er bereits vor über zehn Jahren begonnen, von ihrem Einkommen Rücklagen für das Alter zu bilden. Sie hätten schon damals nicht damit rechnen können, dass sie sichere, auf Dauer angelegte Anstellungsverhältnisse finden würden, die ihnen eine angemessene Alterssicherung garantierten. Sie hätten eine gestreute Anlageform gewählt, weil sie nicht hätten sicher sein können, dass sie künftig auch immer die notwendigen Beiträge für mehrere oder höhere Lebensversicherungen würden aufbringen können. Aus den Unterlagen sei aber zu ersehen, dass sie die von ihnen angesparten Beträge zum größten Teil nicht angegriffen, sondern vielmehr auch die Erträge zur weiteren Vermögensbildung verwandt hätten. Das Sparbuch über 14.626,38 DM sei aus Festgeldanlagen hervorgegangen und auf Anraten der Bank in eine Sparanlage umgewandelt worden. Die Einlage hätten sie in der Vergangenheit nicht angegriffen, sondern die Zinsen jeweils dem Grundkapital zugeschlagen. Gleiches gelte auch für die Bausparverträge. Der erste Vertrag sei bereits zuteilungsreif. Sie hätten ihn aufgestockt, um weiteres Kapital anzusparen. Auch jetzt könne er nicht abschätzen, ob er je eine berufliche Position erreichen werde, die ihm eine ausreichende Alterssicherung verschaffe. Gleiches gelte für seine Frau. Sie habe bereits in der Vergangenheit ein Studium abgebrochen und eine Ausbildung zur Rechtsanwalts- und Notariatsgehilfin aufgenommen, um ihrer beider Lebensunterhalt mittragen zu können. Aber auch mit dieser Ausbildung könne sie nicht für sie beide einen angemessenen Lebensunterhalt, geschweige denn eine angemessene Altersversorgung erarbeiten, so dass auch sie auf eine zusätzliche eigene Alterssicherung angewiesen sei. Bei der Vermögenssituation ihrer beider Eltern sei auch kein Erbe zu erwarten, das ihr Alter sichern könnte. Im Übrigen sei auch der eingereichte Heil- und Kostenplan für die Zahnbehandlung seiner Frau, die einen Eigenanteil in Höhe von 2.618,49 DM ausweise, bei der Vermögensermittlung in Abzug zu bringen.

Durch Widerspruchsbescheid vom 19. Oktober 2000 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die Sparbeträge auf den Sparkonten ließen nicht erkennen, dass es sich um Vermögen zur zusätzlichen Alterssicherung handele, da über die Summe jederzeit verfügt werden könne. Es fehle auch an objektiven Umständen, aus denen sich ergebe, dass erst nach dem 60. Lebensjahr über das Geld verfügt werden solle. Tatsächlich sei über das Konto mit der höchsten Sparsumme mehrfach durch Abheben von Geldbeträgen verfügt worden. Der Bausparvertrag könne ebenfalls verwertet werden. Zumindest ein Vertrag sei zuteilungsreif. Auch im Übrigen seien keine Anhaltspunkte ersichtlich, die die Angemessenheit einer zusätzlichen Altersversorgung in Höhe des angesparten Vermögens rechtfertigten.

Dem begegnete der Kläger im Verfahren vor dem Sozialgericht Berlin (SG) mit dem Vorbringen, die objektiven Anhaltspunkte der Zweckbestimmung lägen in seinem Falle in den Lebensumständen selbst. Er habe eine berufliche Laufbahn eingeschlagen, die mit vielen Unsicherheiten einhergehe. Bis zum heutigen Tage habe er immer nur zeitlich befristete Arbeitsverhältnisse innegehabt, die es ihm nicht erlaubt hätten, langfristige finanzielle Bindungen einzugehen. Die Vermögensbildung, die er sich „leisten“ könne, bestehe darin, im Lebensunterhalt nicht verbrauchte Geldbeträge auf Sparbüchern anzulegen. Es könne nicht unberücksichtigt bleiben, dass diese Sparbücher seit über zehn Jahren bestünden, wobei die Einlagen soweit möglich nicht angegriffen und die Zinsen jeweils zum Grundkapital geschlagen worden seien. Es bestehe ein Überweisungsauftrag vom Girokonto auf das Festgeldkonto. Auf jeden Fall seien die Ersparnisse bei den beiden „kleineren“ Sparbüchern seit ihrer Anlage nicht berührt worden.

Durch Urteil vom 9. Oktober 2001 wies das SG die auf Neubescheidung des Alhi-Antrages vom 11. September 2000 „unter Anerkennung der Bedürftigkeit“ gerichtete Klage aus den Gründen des Widerspruchsbescheides ab.

Mit der Berufung hält der Kläger an seinem Standpunkt fest. Die Abhebungen von einem der Konten, die übrigens in größerem Umfang erst nach dem Eintritt seiner Arbeitslosigkeit erfolgt seien, schlössen den Zweck seines Vermögens, der Alterssicherung zu dienen, in keiner Weise aus. Ungeachtet der Abhebungen, die in seiner und seiner Frau Lebenslage nicht zu vermeiden gewesen seien, seien die Konten stetig angewachsen und hätten sich bei Weiterbeschäftigung sicher noch vergrößert. Die Gestaltung seiner Konten sei angesichts der ihm gezahlten Vergütungen nur durch Disziplin und große Sparsamkeit möglich gewesen. Die Beklagte gewähre ihm erst seit März 2002 Alhi. Das beruhe darauf, dass zu diesem Zeitpunkt die Sparguthaben bis auf die Freibeträge aufgebraucht gewesen seien. Auch der Bausparvertrag habe in der Zwischenzeit aufgelöst und der Betrag zur Bestreitung des Lebensunterhaltes verbraucht werden müssen. Er sei durchgehend seit dem 25. September 2000 arbeitslos gemeldet und habe sich der Arbeitsvermittlung zur Verfügung gestellt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 9. Oktober 2001 sowie den Bescheid vom 11. Oktober 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19. Oktober 2000 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm (bereits) vom 25. September 2000 an Arbeitslosenhilfe zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Angaben des Klägers zur Verfügbarkeit träfen zu. Er erhalte ab 13. März 2002 Alhi.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (einschließlich der Akte des SG - S 53 AL 4268/00 -) und der Leistungsakten der Beklagten (zur Kd-Nr. )verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist begründet.

Der Kläger hat gemäß § 190 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) III - ggf. unter Anrechnung von Nebeneinkommen sowie des Einkommens seiner Ehefrau - Anspruch auf Alhi bereits vom 25. September 2000 an, weil er von diesem Zeitpunkt an (weiterhin) arbeitslos (insbesondere auch verfügbar) und beim Arbeitsamt arbeitslos gemeldet ist, wegen Nichterfüllung der Anwartschaftszeit keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld hat, in der Vorfrist (§ 192 SGB III) Arbeitslosengeld bezogen hat, ohne dass der Anspruch wegen des Eintritts von Sperrzeiten mit einer Dauer von insgesamt 24 Wochen erloschen war, und bedürftig ist.

Entgegen der Ansicht der Beklagten und des SG steht das Vermögen des Klägers und seiner Ehefrau seiner Bedürftigkeit nicht entgegen. Das folgt aus § 6 Abs. 3 Alhi-Verordnung (Alhi-VO) in der hier noch maßgeblichen, bis zum 31. Dezember 2001 geltenden Fassung. In den Vorentscheidungen ist nicht hinreichend berücksichtigt worden, dass Satz 1 dieser Bestimmung eine Generalklausel enthält, nach welcher die Verwertung von Vermögen nur zumutbar ist, wenn sie unter Berücksichtigung einer angemessenen Lebenshaltung des Inhabers des Vermögens und seiner Angehörigen billigerweise erwartet werden kann. Satz 2 derselben Vorschrift zählt lediglich mehrere Beispiele auf, bei deren Vorliegen von Unzumutbarkeit der Vermögensverwertung auszugehen ist (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts [BSG] vom 19. Juni 1996 - 7 RAr 116/95 - = SozR 3-4100 § 137 Nr. 6 S. 56). Nicht zumutbar ist danach „insbesondere“ die Verwertung (u.a.) von Vermögen, das zur Sicherung einer angemessenen Lebensgrundlage oder zur Aufrechterhaltung einer angemessenen Alterssicherung bestimmt ist.

Zunächst spricht allerdings viel dafür, dass neben der Lebensversicherung jedenfalls auch die Bausparguthaben für die Alterssicherung - und zwar ausschließlich für diese - bestimmt waren. Der Kläger hat bezüglich der Lebensversicherung und der Bausparguthaben - anders als bezüglich der Sparbücher - von vornherein klar die Alterssicherung als Zweckbestimmung genannt. Vor dem Hintergrund seiner überzeugend geschilderten Lebenssituation erscheint dies glaubhaft. Insbesondere fehlt es danach an einem Anhalt dafür, dass die Bausparguthaben für den späteren Erwerb eines Eigenheimes bestimmt gewesen sein könnten. Letztlich bedarf dies jedoch keiner Entscheidung.

Im Hinblick auf den Umstand, dass es für den Kläger nicht absehbar war (und ist), als habilitierter Philosoph je eine Festanstellung zu erhalten, dass seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt ausgesprochen schlecht waren (und weiterhin sind), er bei Erschöpfung des Arbeitslosengeld-Anspruchs bereits ein Jahr lang arbeitslos war und schon damals mit weiterer, auch längerer Arbeitslosigkeit rechnen musste - tatsächlich ist er bis heute arbeitslos -, konnte unter Berücksichtigung einer angemessenen Lebenshaltung seiner selbst und seiner Ehefrau die Verwertung seines Vermögens billigerweise nicht erwartet werden. Der Kläger hat dazu glaubhaft vorgetragen, dass er angesichts der Risiken seines Berufsweges schon frühzeitig und unter erheblichen Mühen - durch Disziplin und große Sparsamkeit - sein relativ bescheidenes Vermögen angesammelt hat, und ferner, dass er schon frühzeitig Grund hatte, um ein angemessenes Auskommen sowohl in der nahen Zukunft als auch insbesondere im Alter besorgt zu sein.

Deshalb ist es auch nachvollziehbar und plausibel, dass die Guthaben auf den Sparkonten - deren Zweckbestimmung der Kläger im Alhi-Antrag mit „Vermögensbildung“ angegeben hat - sowohl (und letztlich vorrangig) der Alterssicherung als aber auch der Sicherung einer angemessenen Lebensgrundlage in der nahen Zukunft zu dienen bestimmt waren. Soweit der Kläger noch vor seiner Arbeitslosigkeit - nämlich im Februar 1999 - von seinem Sparbuch mit dem höchsten Kontostand 3.000,00 DM abgehoben hat, widerspricht dies schon deshalb nicht einmal der Zweckbestimmung „Alterssicherung“, weil am selben Tage (18. Februar 1999) auf dieses Sparkonto 6.222,62 DM überwiesen worden waren, die Abhebung sich also als bloße Minderung der Gutschrift darstellt. Die Abhebungen im Laufe des Jahres 2000 - 5 x 2.000,00 - erfolgten dagegen erst während der Arbeitslosigkeit. Insoweit ist glaubhaft, dass sie zur Aufrechterhaltung einer angemessenen Lebenshaltung erforderlich waren. Im Übrigen tut es selbst der Zweckbestimmung eines Vermögens für eine angemessene Alterssicherung keinen Abbruch, wenn die zwischenzeitliche Vermögensentnahme unaufschiebbar ist und ein wichtiger Grund vorliegt. Das hat auch die Beklagte eingeräumt. Deshalb kann es dem Kläger auch nicht zum Nachteil gereichen, dass er wegen der Vorenthaltung der Alhi sein Vermögen weiter verwertet hat, um zu seinem und seiner Ehefrau angemessenen Lebensunterhalt beizutragen.

Richtig ist schließlich auch, dass die bei Vollendung des 65. Lebensjahres des Klägers fällige Versicherungssumme von ca. 84.000,00 DM aus der Lebensversicherung keine ausreichende Alterssicherung für ihn und seine Ehefrau darstellt. Der Verordnungsgeber hält eine Alterssicherung für angemessen, soweit sie 1.000,00 DM je vollendetem Lebensjahr des Arbeitslosen und seines (nicht getrennt lebenden) Ehegatten nicht übersteigt (§ 6 Abs. 4 Nr. 2 Alhi-VO). Das entspricht einem Vermögen von 130.000,00 DM (= 2 x 65.000,00 DM) bei vollendetem 65. Lebensjahr beider Ehegatten.

Die Kostenentscheidung nach § 193 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entspricht dem Ergebnis in der Hauptsache.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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