L 13 SB 15/98

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 44 Vs 690/96
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 15/98
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. November 1997 geändert. Die Klage wird in vollem Umfang abgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Höhe des dem Kläger zuzuerkennenden Grades der Behinderung (GdB).

Der Beklagte stellte bei dem 1944 geborenen Kläger, der im Mai 1994 einen Antrag nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) gestellt hatte, durch Bescheid vom 28. September 1994 als Behinderungen coronare Herzkrankheit, rezidivierende Herzinfarkte im Stadium der Heilungsbewährung, Zustand nach mehrmaliger Coronardilatation, Bluthochdruck, Stoffwechselstörungen mit einem dadurch bedingten GdB von 60 fest. Mit seinem Widerspruch gegen diesen Bescheid machte der Kläger geltend, bei der Bildung des Gesamt-GdB sei sein auf einen Arbeitsunfall 1987 zurückzuführendes Hüftleiden nicht berücksichtigt worden. Außerdem seien die Folgen der zwei erlittenen Herzinfarkte unzureichend bewertet worden. Nach Beiziehung des Bescheides der Berufsgenossenschaft für den Einzelhandel vom 24. Mai 1987, durch den dem Kläger eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v.H. ab 1. Juli 1989 gewährt wurde, und einer Stellungnahme des Prüfarztes Dr. H vom 12. Februar 1995 erkannte der Beklagte durch Abhilfebescheid vom 10. März 1995 als weitere Behinderung „Arbeitsunfallfolgen nach der Reichsversicherungsordnung“ (intern mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet) an und erhöhte den Gesamt-GdB auf 70.

Auf den aufrechterhaltenen Widerspruch ließ der Beklagte den Kläger durch die Orthopädin Dr. B untersuchen, die in dem Gutachten vom 30. August 1995 folgende Behinderungen feststellte:

a) coronare Herzkrankheit, rezidivierende Herzinfarkte im Stadium der Heilungsbewährung, Zustand nach mehrmaliger Coronardilatation, Bluthochdruck, Stoffwechselstörung

b) degenerative Wirbelsäulenveränderung mit häufig rezidivierenden zervikaler und lumbaler Schmerzsymptomatik

c) funktionelle Behinderung des rechten Hüftgelenkes bei posttraumatischen degenerativen Veränderungen.

Sie bewertete diese mit Einzelgraden von 60, 20 und 20 und den Gesamt-GdB weiterhin mit 70.

Nach Vorlage eines Ergometrieberichts der Internistin Dr. R vom 5. Oktober 1995, nach dem unter Alltagsbedingungen kaum pectanginöse Beschwerden aufträten und das Beschwerdebild sehr gering ausgeprägt sei, bewertete der Arzt D in der gutachtlichen Stellungnahme vom 22. November 1995 die coronare Herzkrankheit nunmehr mit einem Einzel-GdB von 40 und den Gesamt-GdB mit 50.

Der Beklagte folgte dem und setzte den GdB nach vorheriger Anhörung des Klägers durch Bescheid vom 23. Februar 1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20. März 1996 gemäß § 48 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) auf 50 herab.

Das Sozialgericht, bei dem der Kläger beantragte, den Beklagten zur Anerkennung eines Gesamt-GdB von 80 zu verurteilen, beauftragte den Arzt für Innere Medizin und Chefarzt der Medizinischen Klinik II (Kardiologie) der DRK-Kliniken Westend, Dr. Sch, ein medizinisches Sachverständigengutachten über den Kläger zu erstatten. Dr. Sch stellte in dem Gutachten vom 20. März 1997 folgende Gesundheitsstörungen fest:

a) Zustand nach 2-fachem Vorderwandmyokardinfarkt 1994

b) Erkrankung der Herzkranzgefäße mit Zustand nach mehrfacher Ballonaufdehnung und STENT-Implantation

c) grenzwertige linksventrikuläre Pumpfunktion

d) Bluthochdruckerkrankung

e) erhöhte Serumcholesterinwerte bei Adipositas

f) anamnestisch erhöhte Serumharnsäurespiegel

g) Zustand nach Luxationsfraktur rechtes Hüftgelenk mit Beteiligung des vorderen und hinteren Beckenrings und Hdegenerative Wirbelsäulenerkrankung.

Der Sachverständige bewertete die auf internistischem Gebiet bestehenden Leiden mit einem Einzel-GdB von 40 und den Gesamt-GdB mit 50. Zur Begründung führte er aus, dass die orthopädischen Leiden und die Herzkreislauferkrankungen sich nicht synergistisch (zusammenwirkend) in der Einschränkung der Belastbarkeit des Klägers verstärkten. Vielmehr bedinge die eine Behinderung, dass keine ausreichende Belastungsstufe erreicht werde, bei der die jeweils andere vollständig in Erscheinung treten könne.

Das Sozialgericht hat den Beklagten durch Urteil vom 25. November 1997 verurteilt, bei dem Kläger einen GdB von 60 ab Februar 1996 festzustellen und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Bewertungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungskomplexe durch den Beklagten begegneten keinen Bedenken. Insbesondere die Beeinträchtigungen von Seiten des Herzens seien, wie auch Dr. Sch festgestellt habe, mit einem Einzel-GdB von 40 zutreffend bewertet worden. Der Behinderung des Klägers in ihrer Gesamtheit werde durch einen Gesamt-GdB von 60 in ausreichender Weise Rechnung getragen. Für einen höheren GdB bestehe kein Anlass.

Gegen das am 3. Februar 1998 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 3. März 1998 Berufung eingelegt.

Er trägt unter Vorlage von gutachtlichen Stellungnahmen des Internisten Dr. Be vom 19. Februar 1998 und des Chirurgen Dr. Bo vom 27. März 1998 vor, das Sozialgericht habe den Gesamt-GdB mit 60 zu hoch festgesetzt. Dieser sei vielmehr mit 50 angemessen und ausreichend eingeschätzt.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. November 1997 zu ändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Senat hat Befundberichte der behandelnden Internisten Dres. R vom 2. September 1998 und Bec. vom 10. September 1998 eingeholt.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen wird auf den Akteninhalt verwiesen. Der den Kläger betreffende Verwaltungsvorgang des Beklagten lag dem Senat vor und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten ist zulässig und begründet. Der Kläger hat nur einen Anspruch auf Festsetzung eines Gesamt-GdB von 50.

Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid des Beklagten vom 23. Februar 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. März 1996 insoweit, als dort die Entscheidung getroffen wurde, den dem Kläger im Bescheid vom 10. März 1995 zuerkannten GdB von 70 auf 50 herabzusetzen.

Rechtsgrundlage für die Herabsetzung des GdB ist § 48 SGB X. Dessen Absatz 1 Satz 1 sieht die Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung - hierzu gehört ein den Behinderten-status regelnder Bescheid der Versorgungsverwaltung - mit Wirkung für die Zukunft dann vor, wenn in den rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintreten ist. Eine solche wesentliche Änderung, die im Schwerbehindertenrecht eine Neufeststellung des GdB rechtfertigt, liegt vor, wenn sich der Gesamt-GdB um mindestens 10 verändert (erhöht oder verringert) hat. Die Herabsetzung des GdB setzt demnach voraus, dass in dem Gesundheitszustand des Klägers, wie er im Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 10. März 1995 bestand, in der Folgezeit eine Besserung eingetreten ist, die den Ansatz eines um mindestens 10 geringeren Behinderungsgrades rechtfertigt. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Überprüfung des Herabsetzungsbescheides ist insoweit der Zeitpunkt des Erlasses der letzten Verwaltungsentscheidung, hier des Widerspruchsbescheides vom 20. März 1996, weil ein Herabsetzungsbescheid mit der Anfechtungsklage anzugreifen ist (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG-, Urteile vom 23. Juni 1993 - 9/9a RVs 1/92 -, vom 15. August 1996 - 9 RVs 10/94 - und vom 12. Februar 1997 - 9 RVs 6/95 -).

Hiernach erweist sich der Bescheid vom 23. Februar 1996 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20. März 1996 als rechtmäßig. Zunächst ist mit dem Sozialgericht davon auszugehen, dass der Beklagte den Einzel-GdB für die beim Kläger im Vordergrund stehende cardi-ovaskuläre Störung nach Ablauf der Heilungsbewährung (vgl. Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem SchwbG 1983, - AHP 83 -Nr. 26.9, S. 67) zutreffend von 60 auf 40 herabgesetzt hat. Der Senat entnimmt dies dem ausführlich und sorgfältig erstatteten Gutachten von Dr. Sch, der als Chefarzt einer cardiologischen Abteilung eines Krankenhauses über eine besondere Sachkunde zur Beurteilung des Krankheitsbildes und der daraus folgenden Funktionseinbußen verfügt. Bei der von dem Sachverständigen durchgeführten Ergometrie war der Kläger mit jeweils zwei Minuten bei 75 Watt und 100 Watt belastbar; erst nach einer Minute bei 125 Watt erfolgte ein Abbruch wegen Erschlaffung bzw. Trainingsmangel. Es traten weder pectanginöse Beschwerden noch Herzrhythmusstörungen oder ischämietypische Veränderungen auf. Bei der am 3. November 1997 von Dr. Bec. durchgeführten Ergometrie wurde dieses Ergebnis mit einer maximalen Leistung von 100 Watt bestätigt. Der gerichtliche Sachverständige hat insoweit zusammenfassend die Einschätzung von Dr. D vom 22. November 1995, der ebenfalls zu einem Einzel-GdB von 40 gelangt war, bereits zu diesem Zeitpunkt bestätigt.

Nach den Anhaltspunkten 1996 (AHP 96, Nr. 26.9, S. 86, 87) ist bei Herzerkrankungen für die Bemessung der GdB-Grade weniger die Art der Herzerkrankung maßgeblich als die Leistungseinbuße, also die Funktionseinbuße. Für eine Leistungsbeeinträchtigung bei mittelschwerer Belastung (z.B. forsches Gehen, 5 bis 6 km/Stunde, mittelschwere körperliche Arbeit) sowie Beschwerden und Auftreten pathologischer Messdaten bei Ergometerbelastung mit 75 Watt (wenigstens zwei Minuten) ist ein GdB von 20 bis 40 vorgesehen. Danach bestehen gegen die Bewertung des Herzleidens - jedenfalls vom Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides vom 20. März 1996 an - mit einem Einzel-GdB von 40 keine Bedenken.

Die von der Orthopädin Dr. B in dem Gutachten vom 13. August 1995 geschilderte endgradige heftige Schmerzangabe im Bereich der Lendenwirbelsäule bei normal möglicher Drehung und Lordisierung rechtfertigt es allenfalls, von mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt auszugehen, die mit einem GdB von 20 zu bewerten sind (Nr. 26.18, S. 140 AHP 96).

Die von Dr. B festgestellten Bewegungseinschränkungen im rechten Hüftgelenk (Stre-cken/Beugen 0/0/90) sind mit einem GdB von 20 ebenfalls ausreichend bewertet (Nr. 26.18, S. 150 AHP 96).

Der Senat folgt nach alledem hinsichtlich der Bildung der Einzelgrade der Entscheidung des Sozialgerichts, vermochte dies jedoch hinsichtlich des Gesamt-GdB nicht. Der Beklagte hat diesen vielmehr zu Recht auf 50 festgesetzt.

Die Bildung des Gesamt-GdB richtet sich ausschließlich nach § 4 Abs. 3 SchwbG und den in Ergänzung hierzu in Nr. 19 der AHP 96 getroffenen Regelungen. Liegen mehrere Funktionsstörungen vor, so ist der GdB gemäß § 4 Abs. 3 SchwbG nach den Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zu ermitteln. Bei der Bildung des Gesamt-GdB ist zu beachten, wie weit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen, ob sich eine Behinderung auf eine andere besonders nachhaltig auswirkt, wie weit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden und dass das Ausmaß einer Behinderung durch hinzutretende Gesundheitsstörungen oft gar nicht verstärkt wird (Nr. 19 der AHP 96). Grundsätzlich können leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen, die bei dem Gesamt-GdB berücksichtigt werden könnte. Auch bei Behinderungen mit einem GdB von 20 ist das häufig nicht der Fall. Eine Erhöhung des Gesamt-GdB durch eine hinzutretende, mit einem GdB von 20 zu bewertende Behinderung tritt insbesondere dann nicht ein, wenn sich die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen überschneiden und die einen GdB von 20 bedingende Gesundheitsstörung nicht zum Tragen kommt. Auch eine Behinderung, deren Auswirkungen von denen der anderen Behinderungen unabhängig sind, die also andere Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen, führt, auch wenn sie einen GdB von 20 bedingt, nicht zwangsläufig zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB. Lediglich in den Fällen, in denen sich mehrere Behinderungen, die jede für sich einen GdB von mindestens 20 bedingen, nachhaltig aufeinander auswirken und sich gegenseitig verstärken, ist die Bildung eines um 10 höheren (Gesamt-)GdB zwingend. Im vorliegenden Fall liegen die Voraussetzungen, unter denen diese Erhöhung zulässig ist, nicht vor. Der Senat folgt auch insoweit der Beurteilung durch Dr. Sch, die er für widerspruchsfrei und nachvollziehbar hält. Der Sachverständige hat ausgeführt, dass sich die orthopädischen Leiden und die Herz-kreislauferkrankungen nicht zusammenwirkend in der Einschätzung der Belastbarkeit des Klägers verstärken. Die eine Behinderung wird vielmehr bedingen, dass keine ausreichende Belas-tungsstufe erreicht wird, bei der die jeweils andere vollständig in Erscheinung treten kann. Danach ist ein höherer Gesamt-GdB als 50 nicht gerechtfertigt. Die Berufung des Beklagten musste deshalb Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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