L 5 RA 20/01

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 9 RA 1798/00
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 5 RA 20/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. Februar 2001 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligen einander auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Anerkennung der vom 1. März 1940 bis zum 28. Februar 1942 im Ghetto Krenau unter Zwangsarbeit zugebrachten Zeit als rentenrechtliche Beitragszeit.

Die Klägerin wurde 1924 in Krenau (Chrzanow, Ost-Oberschle-sien) als Tochter jüdischer Eltern geboren. Sie lebte und arbeitete von März 1940 bis Februar 1942 im Ghetto Krenau, verbrachte die Folgejahre in verschiedenen Konzentrationslagern und wurde am 8. Mai 1945 befreit. Im Juli 1946 wanderte sie zusammen mit ihrer Familie in die USA aus, deren Staatsangehörigkeit sie kurz darauf erlangte.

Die Klägerin ist anerkannte Verfolgte im Sinne von § 1 Abs. 1 BEG und hat eine Entschädigung für Schaden an Freiheit in der Zeit vom 1. Dezember 1939 bis zum 8. Mai 1945 erhalten (Bescheid des Regierungsbezirksamtes T vom 15. März 1957).

Einen am 5. Dezember 1994 gestellten Rentenantrag der Klägerin, mit dem sie eine Kindererziehungszeit für den im Juni 1947 geborenen Sohn und die Verfolgungszeit geltend machte, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 6. Februar 1995, bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 3. Juni 1996, mit der Begründung ab, die allgemeine Wartezeit sei nicht erfüllt. Die Kindesgeburt- und -erziehung in den USA sei nicht von § 12 a WGSVG erfasst, weil die Klägerin nicht hinreichend dargetan habe, aus verfolgungsbedingten Gründen ausgewandert zu sein.

Mit einem Überprüfungsantrag vom 25. Oktober 1996 wies die Klägerin auf andere Fälle hin, in denen eine Auswanderung nach Kriegsende von der Beklagten als verfolgungsbedingt anerkannt worden sei. Außerdem müsse die Zeit der Zwangsarbeit im Ghetto Krenau als Beitragszeit anerkannt werden.

Im Laufe des weiteren Verfahrens korrigierte die Beklagte ihren Standpunkt und gelangte zu der Auffassung, dass die Auswanderung der Klägerin verfolgungsbedingt im Sinne von § 12 a WGSVG gewesen sei.

Wegen der Bewertung der Zwangsarbeitszeit im Ghetto Krenau zog die Beklagte zunächst die Entschädigungsakten bei. Dort hatte die Klägerin in eidesstattlichen Versicherungen bzw. in Erklärungen vom 1. November 1954, vom 28. November 1955 und vom 16. Juni 1965 unter anderem erklärt, dass sie im Ghetto Krenau habe zwölf Stunden am Tag, unter ständiger Bewachung und Aufsicht, der Zwangsarbeit nachgehen müssen, und zwar in einer "Rosen" genannten Militär- bzw. Schneiderwerkstatt in einer ehemaligen Synagoge.

Auf Nachfrage der Beklagten erklärte die Klägerin in Schreiben vom 9. Juni 1998 und 1. Juni 1999 zu ihrer Tätigkeit in Zwangsarbeit von März 1940 bis zum Februar 1942: Für die Arbeitseinsätze seien keine Beiträge zur Sozialversicherung abgeführt worden. Sie habe als Näherin in einer von der Wehrmacht errichteten Schneiderei arbeiten müssen und Knopflöcher für Militäruniformen genäht. Auf die ausdrückliche Frage der Beklagten, ob dafür Entgelt gezahlt worden sei, erklärte sie, keinerlei Entgelt erhalten zu haben ("they did not pay us at all"). Auf die Frage, wie sie zu ihrer Beschäftigung vermittelt worden sei, antwortete sie, die deutschen Besatzer hätten sie dazu gezwungen ("the Nazi authority forced us to work").

Mit Bescheid vom 27. August 1999 bewilligte die Beklagte der Klägerin Regelaltersrente mit Beginn am 1. Dezember 1989, einer Nachzahlung in Höhe von 3.906,22 DM und einem monatlichen Zahlbetrag ab 1. Oktober 1999 in Höhe von 49,92 DM. Dabei gelangten 12 Monate (Juli 1947 bis Juni 1948) mit Pflichtbeiträgen für Kindererziehung zur Anerkennung. Die Zeit vom 1. März 1940 bis 28. Februar 1942 wurde nicht als Beitragszeit anerkannt, weil nach dem seinerzeit geltenden Recht Versicherungspflicht in der Rentenversicherung nicht bestanden habe und Versicherungsbeiträge nicht gezahlt worden seien.

Gegen die Nichtanerkennung des letztgenannten Zeitraums als Beitragszeit legte die Klägerin am 9. September 1999 Widerspruch ein. Zur Begründung erklärte sie, für die Zwangsarbeit zwar kein Entgelt, wohl aber von Zeit zu Zeit extra Essensrationen erhalten zu haben.

Den Widerspruch wies die Beklagte mit Bescheid vom 17. März 2000 zurück. Auch in Ansehung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu Zeiten entgeltlicher Beschäftigung im Ghetto Lodz (Urteile vom 18. Juni 1997) könne die Zeit der Zwangsarbeit hier nicht als Beitragszeit anerkannt werden, denn die Klägerin habe mehrfach erklärt, hierfür kein Entgelt erhalten zu haben. Somit habe nach § 1226 RVO a.F. keine Versicherungspflicht bestanden. Die Vergütung allein mit Essensrationen führe nicht zur Versicherungspflicht.

Mit der hiergegen am 29. März 2000 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. In einer größeren Anzahl weiterer Fälle habe die Beklagte Arbeitszeiten im Ghetto Krenau als Beitragszeiten anerkannt. Von der Gewährung eines Entgelts dürfe – entsprechend der Rechtsprechung des Sozialgerichts Düsseldorf – die Anerkennung als Beitragszeit nicht abhängig gemacht werden; es komme nur darauf an, ob unter normalen Verhältnissen in einer zivilisierten Gesellschaft ein Lohn gezahlt worden wäre.

Die Beklagte hat an ihrem Standpunkt festgehalten und betont, es komme auf den Einzelfall an. Hier habe die Klägerin versichert, kein Entgelt erhalten zu haben, so dass die Anerkennung einer Beitragszeit nach den vom Bundessozialgericht formulierten Maßstäben nicht in Betracht komme.

Mit Urteil vom 20. Februar 2001 hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen. Zur Begründung, wegen deren Einzelheiten auf die Gerichtsakte Bezug genommen wird, hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin habe keinen Anspruch auf eine höhere Regelaltersrente unter Berücksichtigung der Zeit vom 1. März 1940 bis 28. Februar 1942 als Beitragszeit. Die Voraussetzungen des § 12 WGSVG seien nicht erfüllt, denn die Klägerin habe nicht in einem rentenversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden, sondern Zwangsarbeit geleistet. Ein nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts notwendiges "freies Beschäftigungsverhältnis" habe nach den Erklärungen der Klägerin nicht vorgelegen, wonach sie zur Arbeit gezwungen worden sei. Die Klägerin habe für ihre Arbeit auch kein Entgelt erhalten; allein hin und wieder erhaltene zusätzliche Essensrationen könnten nicht als ein solches gelten. Die von der Klägerin angeführte Rechtsprechung des Sozialgerichts Düsseldorf führe zu keinem anderen Ergebnis. In seinem Urteil vom 21. April 1999 (B 5 RJ 48/98 R) habe das Bundessozialgericht dazu ausgeführt, das Sozialgericht verlasse den Bereich richterlicher Rechtsfortbildung, wenn es allein die Ausübung von Zwangsarbeit für die Begründung eines Rentenversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses ausreichen lasse. Nur der Gesetzgeber habe die Befugnis, Beitragsfiktionen für Zwangsarbeitsverhältnisse während des Dritten Reichs zu schaffen. Tatsächlich habe sich im Deutschen Bundestag auch der politische Wille manifestiert, weiterhin zwischen versicherten Ansprüchen aus der Rentenversicherung und allgemeinen entschädigungsrechtlichen Ansprüchen zu unterscheiden.

Gegen das ihr am 6. April 2001 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 24. April 2001 Berufung eingelegt. Zur Begründung hat sie auf ihr bisheriges Vorbringen Bezug genommen. Sie habe zwar unmittelbar kein Entgelt für ihre Tätigkeit als Näherin erhalten, dies schließe aber nicht aus, dass irgendeine Art von Gegenleistung erfolgt sei, wenn nicht an sie persönlich, so doch an den Judenrat. Außerdem ergebe sich ein Anspruch auf Anerkennung der Zwangsarbeitszeit als rentenrechtliche Beitragszeit aus dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto vom 20. Juni 2002 (ZRBG).

Mit Bescheid vom 12. Dezember 2001 hat die Beklagte die Regelaltersrente der Klägerin unter Anerkennung weiterer Ersatzzeiten wegen NS-Verfolgung neu festgestellt. Der monatliche Zahlbetrag beträgt nunmehr ab 1. April 2002 31,19 Euro.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. Februar 2001 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 27. August 1999 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17. März 2000 sowie des Neufeststellungsbescheides vom 12. Dezember 2001 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr höhere Regelalterrente unter Anerkennung der Zeit vom 1. März 1940 bis 28. Februar 1942 als Beitragszeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das mit der Berufung angegriffene Urteil des Sozialgerichts für zutreffend. Angesichts des Fehlens einer entgeltlichen Beschäftigung ergebe sich auch nach Inkrafttreten des ZRBG keine rechtliche Grundlage für das Begehren der Klägerin.

Die Beteiligten haben schriftlich ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Rentenakte Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Beratung war.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht durfte über die Sache ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hierzu ihr ausdrückliches Einverständnis erklärt haben (§ 124 Abs. 2 SGG).

Die Berufung ist zulässig, jedoch unbegründet. Das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. Februar 2001 ist rechtlich nicht zu beanstanden. Der angefochtene Rentenbescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Zur Überzeugung des Senats hat die Klägerin keinen Anspruch auf Anerkennung des Zeitraums 1. März 1940 bis 28. Februar 1942 als Beitragszeit.

Der Senat kann zunächst zur Vermeidung von Wiederholungen vollständig auf die Entscheidungsgründe des mit der Berufung angegriffenen Urteils Bezug nehmen (§ 153 Abs. 2 SGG), denn das Sozialgericht stellt darin die Rechtslage und die einschlägige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zutreffend dar und bewertet den im Falle der Klägerin gegebenen Sachverhalt folgerichtig. Die Anerkennung des im Ghetto Krenau zugebrachten Zeitraums 1. März 1940 bis 28. Februar 1942 als rentenrechtliche (fiktive) Beitragszeit über § 12 WGSVG ist ausgeschlossen, weil die Klägerin seinerzeit keine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung ausübte. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin vertritt insoweit einen Standpunkt, der seine Formulierung in der Rechtsprechung des Sozialgerichts Düsseldorf gefunden hat, der aber vom Bundessozialgericht korrigiert worden ist. Auch insoweit enthält das erstinstanzliche Urteil eine hinlängliche Darstellung, indem es die Formulierung des Bundessozialgerichts wiedergibt, wonach das Sozialgericht Düsseldorf mit seiner Rechtsprechung zur rentenrechtlichen Einordnung der Zwangsarbeit im Ghetto den Bereich statthafter richterlicher Rechtsfortbildung verlassen habe.

Mit dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto vom 20. Juni 2002 (ZRBG, BGBl. I S. 2074) hat sich keine andere Rechtslage ergeben. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beruft sich zwar auf diese Neuregelung, ist aber ein Argument dafür schuldig geblieben, warum der Sachverhalt nun anders zu bewerten sein soll. Dabei zeigt die von ihm zu den Akten gereichte Gesetzesbegründung (Bundestags-Drucksache 14/8583 vom 19. März 2002) gerade, dass das ZRBG lediglich die in der Ghetto-Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteile vom 18. Juni 1997, 5 RJ 66/95, 5 RJ 68/95, SozR 3-2200 § 1248 Nr. 15) formulierten Maßstäbe in Gesetzesform übernehmen und keine grundlegend neue rentenrechtliche Kompensation des den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern im Nationalsozialismus geschehenen Unrechts schaffen wollte. Dementsprechend gilt das ZRBG nach § 1 Abs. 1 Satz 1 nur für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn die Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist und gegen Entgelt ausgeübt wurde. Mit diesen Tatbestandsmerkmalen bleibt das ZRBG bei den Begrifflichkeiten der genannten Ghetto-Urteile, die das Bundessozialgericht auch in seiner jüngeren Rechtsprechung ausdrücklich beibehalten hat (vgl. Urteil vom 21. April 1999, B 5 RJ 48/98 R, SozR 3-2200 § 1248 Nr. 16 sowie Urteil vom 14. Juli 1999, B 13 RJ 75/98 R, zitiert nach juris). Hieran gemessen und in Würdigung des Vorbringens der Klägerin im gesamten Verfahren bestand schon keine aus eigenem Willensentschluss zustande gekommene Beschäftigung, vielmehr handelte es sich um eine mit Gewalt erzwungene Beschäftigung in einer Uniformnäherei der Wehrmacht. Den ihr mit der Tätigkeit auferlegten Zwang hat die Klägerin in ihren authentischen Worten ("the Nazi Authority forced us to work") schlicht und unzweideutig beschrieben. Außerdem wurde die Tätigkeit nicht gegen Entgelt ausgeübt, wie die Klägerin stets ebenso unzweideutig erklärt hat. Die ab und an zusätzlich erhaltenen Essensrationen ändern hieran nichts. Zwar erfordert der Entgeltbegriff keine wirtschaftliche Gleichwertigkeit der Leistungen; das Arbeitsentgelt muss allerdings einen nennenswerten Mindestumfang erreichen, damit Versicherungspflicht entsteht und der Bereich der unversicherten Zwangsarbeit als verlassen angesehen werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 14. Juli 1999, B 13 RJ 75/98 R). Das Vorbringen der Klägerin lässt die Annahme einer entgeltlichen Tätigkeit nicht ansatzweise zu, erschöpft sich vielmehr in Mutmaßungen wonach es eine Gegenleistung, etwa an den Judenrat, gegeben haben könnte. Angesichts der in den Ghettos im Einzelfall durchaus zu beobachtenden Entgeltlichkeit bleibt dieses Vorbringen zu vage. Gleichzeitig gibt es keine historische Erkenntnis, wonach die in einem Ghetto Ost-Oberschlesiens ausgeübte Tätigkeit in einer Wehrmachts-Näherei regelmäßig gegen Entgelt erfolgte.

Danach war der Berufung der Erfolg versagt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Gründe für die Zulassung der

Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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