L 2 U 114/99

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 69 U 473/98 W 99
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 2 U 114/99
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. September 1999 sowie die Bescheide der Beklagten vom 11. März 1998 und 19. März 1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26. Mai 1998 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger unter Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H. sowie Leistungen zur beruflichen Rehabilitation zu gewähren. Die Beklagte hat dem Kläger seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Anerkennung einer Wirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) und die Gewährung einer Verletztenrente sowie beruflicher Rehabilitationsmaßnahmen.

Der 1963 geborene Kläger war nach einer Lehre zum Straßenbauteilfacharbeiter (vom 1. September 1979 bis zum 15. Juli 1981) als Straßenbauarbeiter beim VEB Kombinat T Berlin beschäftigt. Vom 4. November 1986 bis zum 28. April 1988 leistete er Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee, davon seit Februar 1987 als Bausoldat, wobei er seit dem 3. Oktober 1987 unter häufigen lumbalgieformen Beschwerden litt. Vom 2. Mai 1988 bis zum 31. August 1991 war er beim VEB Kombinat T Berlin als Kontrollfacharbeiter eingesetzt. Ab 1.September 1991 war er dem Sozialversicherungsausweis zufolge bei der G B T GmbH als Straßenbauarbeiter tätig. Das Beschäftigungsverhältnis endete am 2. Januar 1997, nachdem der Kläger seit dem 23. Oktober 1996 wegen Lumboischialgien krank geschrieben war.

Am 9. Januar 1997 erstattete die AOK Berlin eine Verdachtsanzeige wegen einer Wirbelsäulenerkrankung, die zu arbeitstechnischen und medizinischen Ermittlungen der Beklagten führte. Sie zog das Vorerkrankungsverzeichnis der AOK bei, das im Zeitraum vom 13. August 1991 bis zum 22. Oktober 1996 an einschlägigen Erkrankungen eine Arbeitsunfähigkeit vom 11. Juli 1994 bis zum 22. Juli 1994 wegen Lumbalsyndrom aufwies. Des Weiteren holte sie Befundberichte der den Kläger behandelnden Orthopäden Dr. F des Facharztes für Physikalische und Rehabilitative Medizin H der Ärztin für Allgemeinmedizin S ein und nahm die beim Institut für Wehrmedizin, Statistik und Berichtswesen vorhandenen, während der Militärzeit erhobenen Befunde sowie die beim Bezirksamt Marzahn befindlichen medizinischen Unterlagen zur Akte. Diese enthielten Tauglichkeitsuntersuchungen des Klägers aus der Zeit ab 1978, Unfallbehandlungsberichte der Zentralen Poliklinik der Bauarbeiter und die Verlaufsdokumentation der Zentralen Poliklinik der Bauarbeiter.

Auf Rückfrage teilte die G B S- und T GmbH unter dem 10. Juli 1997 mit, bis zur Krankschreibung am 23. Oktober 1996 seien keine Wirbelsäulenbeschwerden des Klägers bekannt gewesen und übersandte Kopien arbeitsmedizinischer Vorsorgeuntersuchungen vom 26. August 1993 und 14. März 1996, denen zufolge keine gesundheitlichen Bedenken gegen den Einsatz des Klägers als Straßenbauhelfer bestanden.

Der von der Beklagten befragte Technische Aufsichtsdienst kam am 2. Dezember 1997 zu dem Ergebnis, der Kläger habe von Juli 1979 bis Juni 1988 und von Januar 1993 bis Januar 1997 Teilarbeiten eines Straßenbauers ausgeführt. Erfahrungsgemäß und nach Aktenlage könne davon ausgegangen werden, dass der Belastungsumfang hierbei dem eines Straßenbauers der Dokumentation der Arbeitsgemeinschaft der Bau-Berufsgenossenschaft entspreche. Gefährdende Tätigkeiten habe der Kläger in der überwiegenden Anzahl der Arbeitsschichten ausgeführt.

Der von der Beklagten mit der Abgabe eines Gutachtens nach Aktenlage beauftragte Facharzt für Orthopädie und Sozialmedizin Dr. Se gelangte am 27. Januar 1998 zu dem Ergebnis, es liege eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule mit Bandscheibendegenerationen L4 bis S1 vor. Es sei zu einer frühzeitigen Erstmanifestation einer derartigen Erkrankung im jugendlichen Alter, nämlich 1985, gekommen. Seither seien in zunehmendem Ausmaß Beschwerdeintervalle im Sinne von Lumbalgien und Lumboischialgien zu verzeichnen und nahezu lückenlos dokumentiert. Es sei zu diversen Arbeitsunfähigkeitszeiten aufgrund der bandscheibenbedingten Erkrankung gekommen. Es bestehe zweifelsfrei kein Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit, da es deutlich vor einer zehnjährigen Expositionszeit zu einer Erstmanifestation gekommen sei. Von den sechs Jahren, die im Beruf bis zur Erstmanifestation verbracht worden seien, seien die nicht exponierenden Zeiten der Ausbildung und der allgemeine Wehrdienstausbildung abzuziehen. Es bestehe eine gravierende konkurrierende Ursache der Erkrankung in Form einer Torsionsskoliose mit Beckenschiefstand. Vor diesem Hintergrund stelle die berufliche Exposition nicht eine wesentliche Teilursache dar.

Mit Bescheid vom 11. März 1998 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit ab. Die medizinischen Voraussetzungen einer Berufskrankheit nach Nr. 2108 seien nicht erfüllt. Es sei erstmals 1985 zu ersten Wirbelsäulenbeschwerden gekommen, als der Kläger erst sechs Jahre einer Gefährdung ausgesetzt gewesen sei. Es bestehe eine Achsverdrehung mit seitlicher Verbiegung der Lendenwirbelsäule und ein Beckenschiefstand. Diese individuelle Veranlagung zu einer Wirbelsäulenerkrankung habe im Vordergrund gestanden. Durch Bescheid vom 19. März 1998 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen zur beruflichen Wiedereingliederung ab, weil keine Berufskrankheit vorliege.

Den hiergegen eingelegten Widerspruch, mit dem der Kläger auf die 1986 erfolgte Untersuchung zur besonderen Tauglichkeitsstufe für die Baukompanie verwies, wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 26. Mai 1998 zurück. Es sei bereits am 11. Juni 1985 nur eine bedingte Tauglichkeitsstufe für den Beruf des Straßenbauers festgestellt worden. Angesichts dieser Sachlage seien Ausführungen zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen entbehrlich. Vor diesem Hintergrund sei auch für die Durchführung beruflicher Reha-Maßnahmen die Zuständigkeit der Beklagten nicht gegeben.

Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht durch Urteil vom 20. September 1999 abgewiesen. Die Voraussetzungen, unter denen eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule auf berufliche Ursachen zurückgeführt werden könne, seien mangels hinreichend gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse derzeit nicht bestimmbar. Da nicht zu beurteilen sei, ob die Belastungsvoraussetzungen vorgelegen hätten, gehe der Mangel der Nachweisbarkeit eines anspruchsbegründenden Merkmals zu Lasten des Klägers. Damit entfalle zugleich ein Anspruch auf die Gewährung von Leistungen zur beruflichen Rehabilitation nach den §§ 35 ff. Sozialgesetzbuch (SGB) VII.

Gegen das ihm am 21. Oktober 1999 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Klägers vom 13. November 1999. Er macht geltend, für die berufliche Exposition stelle die Zehnjahresfrist keine starre Ausschlussfrist dar. Vielmehr könne eine kürzere, aber sehr intensive Belastung einen berufsbedingten Verschleißschaden früher entstehen lassen. Einer solchen intensiven Belastung sei er ausgesetzt gewesen, wie sich aus der Schilderung der einzelnen Arbeiten für die Zeit von 1979 bis 1986 ergebe. Im Übrigen sei zu berücksichtigen, dass eine als Kind erlittene Hirnhautentzündung zu geistigen Defiziten geführt habe, so dass er sich leicht ausnutzen lasse und demzufolge noch erhöhten Belastungen ausgesetzt gewesen sei.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. September 1999 sowie die Bescheide vom 11. März 1998 und 19. März 1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 26. Mai 1998 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von wenigstens 20 v.H. sowie Leistungen zur beruflichen Rehabilitation zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie macht geltend, dass lediglich eine Expositionsdauer von fünf Jahren vorgelegen habe. Abgesehen von der leichtgradigen Lumbalskoliose sei der rechtsseitige Beckenschiefstand zu beachten. Derartige endogene Ursachen machten die Feststellung einer beruflichen Verursachung nicht möglich. Außerdem seien bei dem Kläger keine belastungsadaptiven Reaktionen, wie es zur Anerkennung einer Wirbelsäulenkrankheit als Berufskrankheit erforderlich sei, festzustellen.

Der Senat hat auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein orthopädisches Sachverständigengutachten von Prof. Dr. P, Chefarzt der Abteilung für Orthopädie der PKlinik W, eingeholt. Dieser ist am 10. August 2001 zu dem Ergebnis gelangt, bei dem Kläger liege eine leichte Lumbalskoliose mit einem Schweregrad von 15 oder 17 Grad vor. Lumbalskoliosen unter 20 Grad seien nicht selten und in ihrer Bedeutung für das Entstehen einer bandscheibenbedingten Erkrankung als nur geringgradig zu bewerten. Des Weiteren sei dem Kläger noch bis 1988 eine uneingeschränkte Tauglichkeit bei unwesentlicher Lumbalskoliose bestätigt worden. Da der Kläger vom 1. September 1979 bis 1. November 1986 als Straßenbauer, davon zwei Jahre als Lehrling, tätig gewesen sei, sei von einer Belastungszeit von sieben Jahren auszugehen. Während seiner Ausbildungszeit habe ausgehend vom Alter von nicht einmal 16 Jahren eine Mehrbelastung auf seine keinesfalls ausgewachsenen Wirbelsäule eingewirkt und damit den Grundstein für die später auftretende bandscheibenbedingte Erkrankung gelegt. Demgegenüber beziehe sich die regelmäßig geforderte Expositionszeit von zehn Jahren auf ausgewachsene Personen und sei nicht als Messlatte für einen Jugendlichen heranzuziehen. Die Expositionszeit von sieben Jahren sei wesentliche Ursache für das Entstehen der bandscheibenbedingten Erkrankung, die am 3. Oktober 1987, dem akuten Beginn der Beschwerden nach dem Tragen eines Zementsacks, eingetreten sei. Wenn auch im Rahmen des Gutachtens der NVA vom 22. April 1988 neben der Skoliose in der Lendenwirbelsäule keine röntgenologisch erkennbaren Schäden (Osteochondrose, Spondylarthrose) an der Lendenwirbelsäule als Ausdruck einer Bandscheibenschädigung nachgewiesen worden seien, sei nach den vorliegenden klinischen Befunden von einer Bandscheibenschädigung und Gefügelockerung im Lendenwirbelsäulenbereich auszugehen. Entsprechend den vorliegenden Arztberichten und der computertomographischen Untersuchung vom 20. November 1996 bestehe bei dem Kläger bei L4/L5 und L5/S1 ein Bandscheibenprolaps, der durch den Druck auf umgebende Nerven zu intermittierenden motorischen und sensiblen Ausfallerscheinungen mit Bewegungsverlust sowie einer röntgenologisch nachgewiesenen Gefügelockerung geführt habe. Der zweietagige Bandscheibenprolaps mit radikulärer Symptomatik werde mit einer MdE von 20 v.H. bewertet.

Dagegen hat die Beklagte eingewandt, vom Ende der Ausbildung bis zur Erkrankung am 3. Oktober 1987 sei von einer Expositionsdauer von lediglich 5 Jahren auszugehen. Auch lasse der Gutachter den Beckenschiefstand unberücksichtigt. Schließlich sprächen gegen eine berufliche Verursachung, dass erst ein Jahr nach Ende der Exposition im Oktober 1986 die bandscheibenbedingte Erkrankung im Oktober 1987 aufgetreten sei.

Dem ist der Gutachter in einer Stellungnahme vom 30. Juni 2003 mit dem Argument entgegengetreten, angesichts der Exposition im jugendlichen Alter sei auch die Belastung während der Ausbildungszeit heranzuziehen. Ein Auftreten der Erkrankung erst ein Jahr nach Ende der belastenden Tätigkeit liege im Unterschied zwischen der Schädigung einer Wirbelsäule im jugendlichen Alter im Vergleich zum Erwachsenen begründet. Der jugendliche Organismus habe weitaus mehr Kompensationsmöglichkeiten, nach Wegfall der schädigenden Noxe Beschwerden abzufangen und auszugleichen. Es sei aus gutachterlicher Sicht nicht zu erwarten, dass die strukturellen Veränderungen bei einem 18-jährigen an der Wirbelsäule nach Belastungsexposition gleicher Art und Schwere seien wie bei einem 40-jährigen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten (einschließlich der Akten des SG - S 69 U 473/89 W 99 -) und der Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist begründet.

Der Kläger hat einen Anspruch auf Anerkennung seiner Wirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit, die Gewährung einer Rente nach einer MdE von 20 v.H. und auf Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation aufgrund eines 1996 eingetretenen Versicherungsfalls.

Der von ihm 1997 geltend gemachte Anspruch richtet sich im Ergebnis nach § 581 Reichsversicherungsordnung (RVO). Zwar gelten nach dem gemäß § 215 Abs. 1 SGB VII weiterhin anzuwendenden § 1150 Abs. 2 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) Unfälle und Krankheiten, die vor dem 1. Januar 1992 eingetreten sind und die nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten der Sozialversicherung waren, als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten im Sinne des Dritten Buches. Das gilt grundsätzlich auch für Verschleißerkrankungen der Wirbelsäule, die auf fortgesetzte mechanische Überlastung des Bewegungsapparates im Sinne der Berufskrankheit Nr. 70 der Berufskrankheitenliste der ersten Durchführungsbestimmung zur Verordnung über die Verhütung, Meldung und Begutachtung von Berufskrankheiten vom 21. April 1981 zurückzuführen sind. Auch die Berufskrankheit Nr. 70 nach dem Recht der DDR stellt für den Eintritt des Versicherungsfalls auf einen Zwang zur Tätigkeitsaufgabe ab. Die 1987 erfolgte Aufgabe der Tätigkeit stellte jedoch keine endgültige Aufgabe der belastenden Tätigkeit dar, weil der Kläger 1991 erneut eine Tätigkeit als Straßenbauer aufgenommen hat. Diese hat er erst aufgrund der Arbeitsunfähigkeit ab 23. Oktober 1996 aufgegeben, so dass als Versicherungsfall der 23. Oktober 1996 anzunehmen ist. Dies gilt deshalb, weil der Kläger nach Aufnahme seiner Tätigkeit als Straßenbauer lediglich 1994 für 11 Tage arbeitsunfähig wegen eines Wirbelsäulenleidens erkrankt war, für seine Tätigkeit im Juni 1993 und März 1996 bei arbeitsmedizinischen Untersuchungen für tauglich angesehen wurde und sein Arbeitgeber erstmals mit der Krankschreibung vom 23. Oktober 1996 von dem Wirbelsäulenleiden des Klägers Kenntnis erlangt hat. Bei Eintritt eines Versicherungsfalls am 23. Oktober 1996 richtet sich der Anspruch des Klägers noch nach den Vorschriften der RVO, vgl. § 212 SGB VII.

Wegen der gesundheitlichen Folgen eines Arbeitsunfalls wird gemäß § 581 Abs. 1 RVO Verletztenrente gewährt, solange infolge des Arbeitsunfalls die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um wenigstens ein Fünftel gemindert ist. Nach § 551 Abs. 1 Satz 1 RVO gilt als Arbeitsunfall mit entsprechender Entschädigungspflicht auch eine Berufskrankheit. Berufskrankheiten sind Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet hat und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Zu den vom Verordnungsgeber bezeichneten Berufskrankheiten gehören nach der Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO "bandscheibenbedingte Erkrankungen" der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten oder langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.

Die Anerkennung und Entschädigung einer Erkrankung als einer solchen nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO setzt eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule voraus, die durch langjähriges berufsbedingtes Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige berufsbedingte Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung (arbeitstechnische Voraussetzungen) entstanden ist. Die Erkrankung muss den Zwang zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten herbeigeführt haben. Als Konsequenz aus diesem Zwang muss die Aufgabe dieser Tätigkeit tatsächlich erfolgt sein.

Für das Vorliegen des Tatbestands der Berufskrankheit ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung einerseits (haftungsbegründende Kausalität) und zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung andererseits (haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Dabei müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß im Sinne des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden, während für den ursächlichen Zusammenhang als Voraussetzung der Entschädigungspflicht grundsätzlich die (hinreichende Wahrscheinlichkeit) ausreicht (BSG SozR 3-2200 § 551 Nr. 16 m.w.N.).

Zum Zeitpunkt der erneuten Aufgabe seiner Tätigkeit erfüllte der Kläger unter Berücksichtigung der Feststellungen des Technischen Aufsichtsdienstes der Beklagten die arbeitstechnischen Voraussetzungen einer langjährigen schweren Hebe- und Tragetätigkeit in seinem Beruf als Straßenbauer. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob und in welchem Umfang die Zeit der Teilausbildung zum Straßenbauer von September 1979 bis Juli 1981 zur Erfüllung der arbeitstechnischen Voraussetzungen zu berücksichtigen ist. Denn jedenfalls hat der Kläger ab 16. Juli 1981 bis zum 31. Oktober 1986 als Straßenbauer gearbeitet (fünf Jahre und drei Monate) und war seit Februar 1987 Angehöriger einer Baueinheit, im Rahmen derer er jedenfalls bis zum 3. Oktober 1987 Belastungen ausgesetzt war, die nach den Ausführungen in der "Dienstbeschädigungsliste bei Erkrankung" vom 4. März 1988 "im Wesentlichen seiner zivilberuflichen Tätigkeit als Straßenbauer" entsprachen (acht Monate). Des Weiteren ist die Tätigkeit vom 2. September 1991 bis 23. Oktober 1996 als Straßenbauer als belastende Tätigkeit zu berücksichtigen. Da der TAD bei Ausübung einer Tätigkeit als Straßenbauer von der Erfüllung der arbeitstechnischen Voraussetzungen ausgeht und die vom Kläger geschilderten Arbeiten keine Zweifel daran lassen, dass er derartige Tätigkeiten auch ausgeführt hat, sind die arbeitstechnischen Voraussetzungen erfüllt.

Auch besteht kein Zweifel am Vorliegen einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule in der Form eines Bandscheibenprolaps bei L3/L4 und L5/S1 mit dem klinischen Bild eines lumbalen pseudoradikulären Schmerzsyndroms und eines intermittierenden radikulären Syndroms. Diese Erkrankung ist sowohl im Verwaltungsverfahren von Dr. S als auch von dem durch das Gericht gehörten Sachverständigen Prof. Dr. P bejaht worden.

Unter Berücksichtigung des gesamten Akteninhalts ist der Senat auch zu der Auffassung gelangt, dass die bandscheibenbedingte Erkrankung durch die berufliche Exposition überwiegend wahrscheinlich verursacht worden ist.

Allerdings hat Dr. S den Ursachenzusammenhang mit der Begründung verneint, die bandscheibenbedingte Erkrankung sei schon nach fünfjähriger Tätigkeit aufgetreten, so dass die berufliche Exposition nicht die Rolle einer wesentlichen Teilursache spiele. Der dem zugrunde liegenden Annahme der Erstmanifestation einer bandscheibenbedingten Erkrankung im Jahr 1985 kann unter sorgfältiger Auswertung der medizinischen Unterlagen nicht gefolgt werden. Dem Grunduntersuchungsbogen vom 11. Juni 1985, auf den Dr. S seine Annahme stützt, kann nicht entnommen werden, dass schwere Arbeiten für den Kläger ausgeschlossen waren, vielmehr wurde aufgrund der Angabe des Klägers, seit drei Tagen an Rückenschmerzen zu leiden, das Erfordernis eines "speziellen arbeitsmedizinischen Dispensaire" gesehen. Die Rubrik "Hinweise zu Tauglichkeitsbedingungen oder bei Untauglichkeit" blieb unausgefüllt (Bl. 128 R der Verwaltungsakten). Es wurden lediglich Röntgenuntersuchungen für erforderlich gehalten. Eine abschließende Untersuchung konnte nicht unmittelbar anschließend erfolgen, da der Kläger am 15. Juni 1985 eine Verletzung des Sprunggelenks erlitt. Diese machte auch die in der Behandlungskarte aufgeführten Folgeuntersuchungen in der Zeit vom 16. Oktober 1985 bis 20. Februar 1986 erforderlich. Hinsichtlich der Lendenwirbelsäule beschrieb Dr. L diese am 18. September 1985 als etwas verstärkt lordosiert, sonst klinisch unauffällig. Er gelangte unter Berücksichtigung der Röntgenaufnahme vom 11. Juni 1985 zu dem Ergebnis, dass der Kläger insoweit vorerst weiter tauglich sei (Bl. 139 R der Verwaltungsakten).

Entgegen der Annahme von Dr. S sind auch den medizinischen Unterlagen für die Zeit bis Oktober 1987 keine "diversen Arbeitsunfähigkeitszeiten" zu entnehmen. Die Arbeitsunfähigkeit im Jahre 1985 begann dem Sozialversicherungsausweis zufolge am 15. Juni 1985, dem Tag der Verletzung des Sprunggelenks und dauerte bis zum 13. August 1985. Für das Jahr 1986 ist lediglich eine zweitägige Arbeitsunfähigkeit vermerkt. Ist danach entsprechend den Ausführungen von Prof. Dr. P eine Erstmanifestation der Wirbelsäulenerkrankung am 3. Oktober 1987 feststellbar, ist ein die Kausalität ausschließender Auftritt der Erkrankung lange Zeit vor Ablauf der regelmäßigen Zehnjahresfrist nicht gegeben.

Auch stimmt der Senat mit dem Sachverständigen Prof. Dr. P dahingehend überein, dass im Rahmen der Kausalitätsbeurteilung die Belastungen während der Ausbildung ab September 1979 als Zeiten schweren Hebens und Tragens - unabhängig von der Frage ihrer Berücksichtigung zur Erfüllung der arbeitstechnischen Voraussetzungen - im Rahmen der Kausalitätsbeurteilung zu berücksichtigen sind. Prof. Dr. P hat insoweit darauf hingewiesen, dass eine extreme Mehrbelastung auf die keineswegs ausgewachsene Wirbelsäule des Klägers eingewirkt hat. Dem ist unter Berücksichtigung dessen zu folgen, dass nach der im Merkblatt für die ärztliche Untersuchung zur BK 2108 (Bekanntmachung des Bundesministers für Arbeit, Bundesarbeitsblatt 3/93 S. 50 ff.) nach Tabelle 2 als Risiko erhöhend für Männer im Alter von 15 bis 17 Jahre Lasten von 15 kg und mehr gelten, während ab 18 Jahren Lasten von 25 kg zu berücksichtigen sind. Bei einem Ausbildungsbeginn im Alter von 15 Jahren und knapp 8 Monaten waren für zwei Jahre und vier Monate bereits Lastgewichte von 15 kg als belastend für die Wirbelsäule anzusehen.

Weiterhin hat Dr. S den ursächlichen Zusammenhang wegen des Ausmaßes der Drehseitverbiegung und des Beckenschiefstandes verneint. Dem hat Prof. Dr. P für den Senat nachvollziehbar entgegnet, dass die Skoliose als leichtgradig zu bewerten sei. Diese hat weder dazu geführt, dass der Kläger 1978 als für die Tätigkeit eines Straßenbauers untauglich angesehen würde, noch ist 1985 die Skoliose als Anlass dafür gesehen worden, den Kläger für untauglich für diese Tätigkeit anzusehen. Abgesehen davon kann die im Arztbericht vom 21. April 1988 aufgeführte kurzbogige S-Abweichung mit deutlicher Torsion der Wirbelkörper nur begrenzt als konkurrierende Ursache berücksichtigt werden, da sie nach dem Eintritt der Erstmanifestation festgestellt worden ist. Von Skoliosen sind im Übrigen funktionelle skoliotische Fehlhaltungen, etwa als Reaktion auf eine Wurzelreizsymptomatik abzugrenzen (vgl. Mehrtens/Perlebach, Berufskrankheitenverordnung, Kommentar zur BK 2108 unter 62 S. 24). Auch der von Dr. S für maßgeblich gehaltene Beckenschiefstand ist erst aufgrund der Analyse der 1991 gefertigten Röntgenbilder festgestellt worden. Abgesehen davon, dass nach den Ausführungen von Prof. Dr. P lediglich ein Beckentiefstand von 1 cm vorliegt, ist diesem für die erstmalige Erkrankung keine Bedeutung zuzumessen, zumal dem Gutachten vom 4. März 1988 ein Beckenschiefstand nicht entnommen werden kann.

Ergänzend war für die Frage, ob die bei dem Kläger vorliegende bandscheibenbedingte Erkrankung durch eine berufliche Exposition verursacht worden ist, zu berücksichtigen, dass in dem Zeitraum, in dem der Kläger keinen belastenden Tätigkeiten ausgesetzt war, nämlich im Zeitraum von 1988 bis zur erneuten Aufnahme einer belastenden Tätigkeit im September 1991, den vorhandenen Unterlagen eine Beschwerdefreiheit zu entnehmen ist. Danach ist gerade aus dem Zusammenwirken der erheblichen Exposition einerseits und der die Schadensentwicklung begünstigenden Prädisposition andererseits die konkrete bandscheibenbedingte Erkrankung verursacht worden. In einem solchen Fall ist ein rechtlich wesentlicher Ursachenzusammenhang gegeben (vgl. hierzu Schönberger/Mehrtens/Perlebach, "Arbeitsunfall und Berufskrankheit", 7. Auflage - 2003 S. 581 unter 8.3.5.5.4.4 am Ende).

Soweit die Beklagte das fehlende Vorliegen belastungsadaptiver Reaktionen rügt, ist darauf hinzuweisen, dass diese von der eigentlichen Bandscheibenschädigung zu unterscheidenden knöchernen Veränderungen nach der aktuellen medizinischen Fachliteratur lediglich relativ sichere Indizien dafür darstellen sollen, dass Belastungen vorlagen, welche die individuelle Beanspruchungsgrenze überschritten haben, während das Fehlen derartiger knöcherner Veränderungen bei Erreichen oder Überschreiten des Dosisrichtwertes keine anspruchsausschließende Bedeutung hat (vgl. a.a.O. S. 580 unter 8.3.5.5.4.3 am Ende).

Im Hinblick darauf, dass die anerkannten Lendenwirbelsäulenschäden zu Funktionseinschränkungen, einem lumbalen Schmerzsyndrom und Muskelverspannung geführt haben, ist die hierfür von Prof. Dr. P vorgeschlagene MdE von 20 v.H. nach Auffassung des Senats angemessen.

Liegt eine Berufskrankheit nach Nr. 2108 vor, ist die Beklagte zur Gewährung von Leistungen u.a. zur beruflichen Rehabilitation verpflichtet. Anspruchsgrundlage für die ab 2. Januar 1997, dem Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit der belastenden Tätigkeit, dem Grunde nach zu gewährenden Leistungen sind gemäß § 214 Abs.1 S.1 SGB VII die §§ 35 ff SGB VII.

Die dem Ergebnis in der Hauptsache folgende Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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