L 9 KR 161/03

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 89 KR 646/03
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 KR 161/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. September 2003 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte der Klägerin die Kosten für den selbstbeschafften Rehabi- litationswagen in Höhe von lediglich 3.161,44 EUR zu erstatten hat. Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Erstattung der Kosten für einen selbstbeschafften Rehabilitationswagen.

Die 1993 geborene Klägerin ist von Geburt schwerstpflegebedürftig. Sie erhält Pflegeleistungen der Pflegestufe III. Sie leidet an einer schweren mentalen und statomotorischen Retardierung bei frühkindlicher Hirnschädigung mit angeborenem komplexem Fehlbildungssyndrom (Gaumenspalte, Hüftgelenksdysplasie, Mikrocephalie, Innenohrschwerhörigkeit, Sehminderung bzw. Blindheit). Bis zum Jahre 2002 verfügte sie über einen Rehabilitationswagen (sog. Reha-Buggy) und über eine Sitzschale mit Untergestell. Den Rehabilitationswagen benötigt sie zur Fortbewegung im außerhäuslichen Bereich. Wegen seines geringen Gewichtes und wegen der Möglichkeit, diesen gegebenenfalls zusammenfalten zu können, ist er für diesen Einsatz besonders geeignet. Für den häuslichen Bereich ist die Klägerin mit der Sitzschale und dem entsprechenden Untergestell versorgt worden. Die Sitzschale lässt sich von dem Untergestell abmontieren. Im Jahre 2002 ist diese Schale neu angepasst worden. Die Beklagte hat die Kosten hierfür übernommen.

In dieser Zeit zerbrach dann der Rehabilitationswagen. Daraufhin beantragte die Klägerin am 23. Oktober 2002 unter Vorlage einer Verordnung der Fachärztin für Kinderheilkunde Dr. med. Ch. W vom 11. Oktober 2002 sowie eines Kostenvoranschlages der Firma P Orthopädie und Rehatechnik GmbH vom 18. Oktober 2002 die Übernahme der Kosten für eine Versorgung mit einem individuell angepassten Rehabilitationswagen nebst Zubehör in Höhe von 3.493,08 EUR.

Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 19. November 2002 mit der Begründung ab, dass die Klägerin mit der Sitzschale und dem "Zimmeruntergestell" ausreichend und zweckmäßig versorgt sei. Sie könne aber die Kosten für ein "Straßenuntergestell" für die vorhandene Sitzschale übernehmen.

Gegen diese Entscheidung erhob die Klägerin Widerspruch. Sie machte geltend, dass die vorhandene Sitzschale für den "Innenbereich angepasst" worden sei und deshalb für den außerhäuslichen Bereich nicht geeignet sei. Denn dort müsse sie in der Regel wärmere Bekleidung tragen, so dass die Sitzschale nicht mehr passend sei. Ein Wechsel der Sitzschale sei auch deswegen nicht möglich, weil sie während des Wechsels in dieser Schale verbleiben müsse. Es sei ihr auch nicht zumutbar, dass sie während des Wechsels der Sitzschale "abgelegt" werde.

Diesen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27. März 2003 als unbegründet zurück. Mit der vorhandenen Sitzschale mit dem Untergestell für den häuslichen und einem weiteren Untergestell für den außerhäuslichen Bereich sei der Ausgleich der Gehbehinderung für die Klägerin sichergestellt.

Mit ihrer Klage hat die Klägerin ihr Begehren, die Übernahme der Kosten für ihre Versorgung mit einen Rehabilitationswagen, weiterverfolgt und zur Begründung vorgetragen, dass sie aufgrund ihrer schweren Behinderungen zum Sitzen und Fortbewegen auf den Rehabilitationswagen angewiesen sei. Ein Wechsel lediglich des Untergestells sei nicht praktikabel, da sie weder allein sitzen noch stehen könne, so dass sie in der Sitzschale verbleiben müsse. Auch sei der Transport in öffentlichen Verkehrsmitteln bzw. in einem Kraftfahrzeug nur mit dem Rehabilitationswagen möglich, da nur dieser zusammenklappbar sei.

Mit Urteil vom 24. September 2003 hat das Sozialgericht Berlin die angefochtene Entscheidung aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Kosten für den beantragten Rehabilitationswagen in Höhe von 3.493,08 EUR zu übernehmen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Klägerin einen Anspruch auf Versorgung mit dem begehrten Rehabilitationswagen habe, weil nur dieser einen Ausgleich ihrer Behinderung ermögliche. Nur mit diesem sei eine Teilnahme am Schulunterricht, das Aufsuchen von Ärzten sowie die Durchführung von Logopädie- und Schwimmterminen gewährleistet. Hingegen sei die Versorgung der Klägerin ausschließlich mit einem "Straßenuntergestell" für die vorhandene Sitzschale nicht ausreichend, um diesen Behindertenausgleich sicherzustellen. Die Mutter der Klägerin habe insbesondere nachvollziehbar dargelegt, dass die Umsetzung der Sitzschale vom Innen- auf das Straßenuntergestell nicht praktikabel sei. Zunächst müsste die Klägerin, die inzwischen ca. 17 bis 18 kg wiege und daher nicht zusammen mit der Sitzschale gehoben werden könne, aus der Sitzschale herausgenommen und, da sie weder stehen noch sitzen könne, hingelegt werden. Dies sei weder auf einem Sessel, noch auf einer Couch möglich, da hier die Gefahr bestünde, dass sie herunterrollen würde. Es bedürfte also eines zusätzlichen Schutzes, der etwa bei einem Bett mit Gitterstäben bestünde. Solche Vorrichtungen würde man in den wenigsten Fällen vorfinden, so dass in der Regel nur das Ablegen auf dem Boden bliebe, was unzumutbar sei. Auch wäre der Transport der Sitzschale sowie des Straßenuntergestells im Auto der Eltern der Klägerin aufgrund des größeren Platzbedarfes dieser Teile gegenüber dem Rehabilitationswagen nicht möglich.

Gegen dieses ihr am 13. November 2003 zugestellte Urteil richtet sich die von der Beklagten am 13. Dezember 2003 eingelegte Berufung. Sie macht geltend, dass die Versorgung der Klägerin mit dem begehrten Rehabilitationswagen zum Ausgleich ihrer Behinderung nicht erforderlich sei und das Maß des Notwendigen überschreiten würde, weil die Klägerin mit einer Sitzschale mit Untergestell für den Innenbereich versorgt sei und sie zusätzlich ein Untergestell für den Außenbereich angeboten habe. Der beantragte Rehabilitationswagen nebst individuell angepasster Sitzschale sei funktionsgleich mit der bereitgestellten Sitzschale einschließlich des für den Außenbereich angebotenen Untergestells. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts reiche die zusätzliche Ausstattung mit einem Untergestell für den Außenbereich aus, um alle konkret zu berücksichtigenden Grundbedürfnisse der Klägerin zu erfüllen. Sie halte es für zumutbar, dass die Klägerin jeweils aus der Sitzschale herausgenommen, in ihrer Wohnung abgelegt und die Sitzschale von dem einen auf das andere Untergestell montiert werde.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. September 2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin, die sich zwischenzeitlich den begehrten Rehabilitationswagen selbst beschafft und hierfür eine Rechnung in Höhe von 3.161,44 EUR vorgelegt hat, beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

die sie für unbegründet hält.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und auf die die Klägerin betreffende Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die dem Senat vorgelegen hat.

Entscheidungsgründe:

Der Senat hat durch Urteil durch den Berichterstatter ohne mündliche Verhandlung (§§ 155 Abs. 3 und 4, 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]) entschieden, weil sich die Beteiligten mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben.

Die Klägerin begehrt im vorliegenden Verfahren sinngemäß ausschließlich noch die Erstattung der Kosten für den zwischenzeitlich selbstbeschafften Rehabilitationswagen in Höhe von 3.161,44 EUR. Insoweit hat sich ihr ursprünglich verfolgtes Begehren auf Gewährung eines solchen Hilfsmittels als Sachleistung geändert. Zu einer solchen Änderung war sie gemäß § 99 Abs. 3 Nr. 3 SGG berechtigt.

Mit dieser Maßgabe ist die Berufung der Beklagten zwar zulässig aber unbegründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erstattung der geltend gemachten Kosten.

Rechtsgrundlage dieses Kostenerstattungsanspruchs ist § 13 Abs. 3 2. Alt. des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V). Danach hat die Krankenkasse einem Versicherten die diesem für die Beschaffung einer Leistung entstandenen Kosten zu erstatten, wenn sie diese (Sach-)Leis-tung zu Unrecht verweigert hat und der Versicherte sich wegen der Ablehnung diese Leistung auf eigene Kosten selbst beschafft hat. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Die Beklagte hat die Gewährung des Rehabilitationswagens zu Unrecht abgelehnt. Die Klägerin hatte einen Anspruch auf Versorgung mit einem entsprechenden Wagen, weil die Voraussetzungen des § 33 Abs. 1 SGB V hierfür vorliegen. Der Senat sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und verweist auf die zutreffende Begründung der angefochtenen Entscheidung (§ 153 Abs. 2 SGG).

Das Berufungsvorbringen rechtfertigt keine andere Entscheidung. Entgegen der Auffassung der Beklagten entspricht die Versorgung der Klägerin mit dem Rehabilitationswagen auch dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB V. Soweit die Beklagte im Berufungsverfahren vorträgt, dass eine entsprechende Versorgung zum Ausgleich der Behinderung der Klägerin nicht erforderlich sei und das Maß des Notwendigen überschreiten würde, weil es zur Erfüllung der Grundbedürfnisse der Klägerin ausreichend sei, diese mit einem "Straßenuntergestell" für die vorhandene Sitzschale zu versorgen, folgt der Senat dem nicht. Nach § 12 Satz 1 SGB V müssen Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Ausreichend in diesem Sinne ist eine Leistung, die nach Art und Umfang genügt, um die jeweilige Zielsetzung dieser Leistung - hier der möglichst weitgehende Behindertenausgleich (vgl. BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 3) - zu erreichen. Diesen Anforderungen genügt die Versorgung der Klägerin lediglich mit einem Untergestell für den außerhäuslichen Bereich für die vorhandene Sitzschale nicht. Die Klägerin leidet ausweislich des von ihr im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegten Attestes des Sozialpädiatrischen Zentrums für chronisch kranke Kinder der Charité (Universitätsklinikum - Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin) an einer schweren Rumpfhypotonie bei schwerer Tetraspastik. Zusätzlich besteht eine Hüftluxation, die der Klägerin erhebliche Schmerzen bereitet. Sie verfügt über nur äußerst geringe motorische Fähigkeiten. Sie zeigt keine Aufzieh- und keine Abstützreaktionen. Sie kann nicht krabbeln, nicht kriechen und nicht robben. Ein freies Sitzen, Stehen oder Gehen ist ihr nicht möglich. Deshalb wurde sie diesem Krankheitsbild entsprechen ursprünglich mit einer individuell angepassten Sitzschale nebst Untergestell für den häuslichen Bereich und zusätzlich mit einem Rehabilitationswagen für den außerhäus-lichen Bereich ausgestattet. So ist es auch sichergestellt, dass die Klägerin die ihr gewährten Fortbewegungsmittel möglichst ohne Beschwerden direkt wechseln kann, ohne zwischenzeitlich, wie die Beklagte meint, "abgelegt" werden zu müssen. Dies wäre aber zwingende Folge, sofern die Klägerin lediglich mit einem weiteren Untergestell für den außerhäuslichen Bereich ausgestattet werden würde. Es ist zudem nicht sichergestellt, dass der Klägerin bei jedem notwendigen Wechsel des Untergestells eine ihrem Leiden gerechte und zumutbare Liegemöglichkeit zur Verfügung steht. Das Sozialgericht hat in seinem Urteil bereits auf die naheliegenden Gefahren einer derartigen Verfahrensweise hingewiesen. Zudem hieße es auch Sicht des Senats das Maß des Zumutbaren zu überspannen, wenn - im Regelfall - die Mutter der Klägerin jeweils eine geeignete Örtlichkeit ausfindig und die Klägerin dann gegebenenfalls unbeaufsichtigt lassen müsste, um dann die Sitzschale von dem Untergestell für den Innenbereich auf das Untergestell für den Außenbereich zu montieren. Im Übrigen entspricht es nach Auffassung des Senats nicht dem Menschenbild des Grundgesetzes, dass sich ein behinderter Mensch "ablegen" lassen muss, um ihm die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse zu ermöglichen, sofern jedenfalls ein diesen Umstand ausschließendes geeignetes Hilfsmittel zur Verfügung steht.

Im Hinblick hierauf konnte der Senat unentschieden lassen, ob der Anspruch auch hätte darauf gestützt werden können, dass es sich bei der Anschaffung des Rehabilitationswagens um eine Ersatzbeschaffung im Sinne von § 33 Abs. 1 Satz 3 SGB V handelt, weil die Klägerin bis ins Jahr 2002 eben über eine Sitzschale mit Untergestell für den häuslichen Bereich und einen Rehabilitationswagen verfügte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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